FYI.

This story is over 5 years old.

Reisen

Die Penner von Bukarest

Seit drei Generationen liegt das Leben der obdachlosen Jugendlichen Rumäniens im wahrsten Sinne des Wortes im Mülleimer.

Der alte Stecher Nicolae Ceaușescu

Rumäniens ehemaliger stalinistischer Diktator Nicolae Ceaușescu war schon immer ein kleiner Teufel und ein lautstarker Befürworter von Sex. Er dachte sich, dass mehr Rumänen auch mehr Macht und Respekt für die Nation bedeuteten, also startete er 1966 seine Kampagne gegen Abtreibung und Verhütung. Er verbot sogar Aufklärungsunterricht und alle Bücher über das Thema wurden als Staatsgeheimnis klassifiziert. Jeder mit ein wenig Verstand (oder der Freakonomics gelesen hat) hätte dir sagen können, dass das eine bescheuerte Idee war. Die Säuglingssterblichkeit stieg an, große Familien lebten in entsetzlicher Armut und tausende ungewollter Kinder wurden in Waisenhäuser gesteckt.
 
Als dann der Kommunismus in Osteuropa zusammenbrach, endeten viele der verwaisten Kinder auf der Straße. Heute leben 20.000 Menschen außerhalb der rumänischen Gesellschaft und viele von ihnen sind die Nachfahren von Ceaușescus vergessenen Kindern.

Anzeige

In einem verlassenen Gebäude mit zerbrochenen Fenstern im Zentrum von Bukarest haben 50 Menschen vorläufig etwas Schutz vor der Gefahr gefunden, mit einem Organ weniger oder mit Benzin übergossen aufzuwachen. Sie nennen sich selber „boschetari“—ihre Version von „Yo, nigga!“, eine wiederentdeckte Beleidigung. Sie können ihre Unterkunft jederzeit verlieren, aber zurzeit ist dieses verfluchte Haus ihr zu Hause.

Ignat und Georgiana

Vor kurzem habe ich eine Woche in diesem düsteren, besetzten Haus verbracht. Ich habe mich zuerst mit Ignat und Georgiana angefreundet, die hier letzten Winter eingezogen sind. Davor haben sie in einem Zelt gelebt. Georgiana ist erst 19 und sie ist von zu Hause ausgerissen, als sie 12 war. Sie lebt seit einem Jahr mit Ignat zusammen, der zehn Jahre älter ist als sie, und sie ist schwanger mit seinem vierten Kind. Ihr Zimmer ist nahe am Eingang, sie teilen es sich mit quiekenden Ratten, während ununterbrochen ein alter Fernseher läuft, den Ignat sich von einem Freund geliehen hat. Sie klauen ihren Strom von einem Mast in der Nähe des Hauses und Fernsehen von der Antenne eines ahnungslosen Nachbarn.  Ab jetzt besitzen sie außerdem eine Kollektion von VICE Magazinen.

Nach einer Weile füllte sich der Raum mit schäbigen Dealern, die von gestohlen Handys über Bettlaken und Kondomen alles versuchten zu verkaufen. Dazu kamen dann noch ebensoviele verzweifelte Huren, die sich wie ausgehungerte Katzen an den Männern reiben. Ignat erzählte mir: „Hör zu, ihr seid hier nicht sicher. Die Jungs fragen vielleicht, wie viel ihr für einen Blowjob bezahlen wollt und ich kann nicht erzählen, dass ihr Journalisten seid, denn sie trauen keinem Journalisten.“ Wir entschieden uns, in einen Park in der Nähe des Hauptbahnhofs zu gehen, in dem Ignat und Georgiana am liebsten rumhängen.

Anzeige

Der Park war voll mit Betrunkenen, die auf Bänken schliefen, und Junkies mit leeren Augen. Nach Ignats Meinung sind das die leichtesten Opfer zum ausrauben. „Du musst sie nicht mal verprügeln, um an ihr Geld zu kommen.“ Ignat ist in einem Waisenhaus groß geworden und wurde wegen Beihilfe zum Raub verurteilt. Er hat drei Kinder, die im Waisenhaus gelandet sind, nachdem ihre Mutter nach Spanien abgehauen ist. Er öffnet seine Brieftasche und zeigt mir Bilder von ihnen, „Tolle Jungs, oder?“ Später rennt ein halbnackter, alter Mann mit Narben im Gesicht und einer Flasche billigen Schnaps’ in der Hand grölend auf uns zu. Ignat verjagt ihn. Anscheinend hat der Kerl gerade eine 20-jährige Haftstrafe für die Morde an zwei Frauen hinter sich und Ignat will ihn nicht in der Nähe seiner Freundin sehen.

Weil das Haus kein fließendes Wasser hat, waschen sich Ignat und die anderen im Dâmbovița, dem Hauptfluss von Bukarest und springen dort von einer Reklametafel aus ins Wasser. Allerdings verjagt die Polizei sie ziemlich oft und wenn sie Pech haben, werden sie mit aufs Polizeirevier genommen und bekommen eine Strafe für Erregung öffentlichen Ärgernisses. Natürlich zahlen sie die nie.

Georgiana badet nie im Dâmbovița; sie hat eine kleine Plastikwanne in ihrem Zimmer und besitzt Nagellack und ein Schminkset. Sie laden uns zum Essen ein, was aus Chips und Kaffee besteht, alles bei einem Automaten an der Ecke gekauft. Wenn sie mal Geld haben, dann kochen sie sich auch was, aber im Sommer selten, da sie keinen Kühlschrank haben. Trinkwasser bekommen sie entweder durch betteln oder sie stehlen es aus verschiedenen staatlichen Einrichtungen, die ihre Kellerfenster offen lassen.

Anzeige

Ovidiu

Ignat stellt uns Ovidiu vor, einen alten Freund aus dem Waisenhaus, der neun Kinder versorgt und das, obwohl keines davon sein eigenes ist. Ihre Eltern sind drogenabhängig und Ovidiu ist einfach ein netter Kerl.

Jeden Tag klappert er mit den Kindern die Mülltonnen der Stadt ab, um nach Kupfer, Aluminium und Papier zu suchen. Der Kerl vom Metallverwertungszentrum verarscht ihn normalerweise, indem er für das Kupfer bezahlt, aber das Aluminium „vergisst“. Ovidiu kann dagegen nicht viel machen, er muss sich mit dem Mann gut stellen. „So wird man reich“, sagt Ovidiu, „du betrügst Menschen, die keine andere Wahl haben.“

Papier ist noch schlimmer. Es ist so billig, dass du 20 Kilo sammeln musst um einen Euro zu bekommen. Das erfordert lange Märsche durch das Zentrum von Bukarest. In einigen Gegenden patrouillieren ständig Polizisten und man sollte diskret sein. Also anstatt die Papiercontainer einfach umzuwerfen, klettert eines der kleinen Kinder durch die schmale Öffnung und reicht Ovidiu die Bücher raus. Als ich da war, wollte der fünfjährige Alex anfangs nicht, aber nach geduldigen Erklärungen über die Notwendigkeit der Risiken um Geld für Essen, Saft und Süßigkeiten zu bekommen, machte er es doch. Bald darauf wurden die gebundene Bücher auf Ovidius Karren gestapelt und das Kind in einem öffentlichen Brunnen gewaschen.

Auf dem Rückweg teilte Ovidiu seine magere Ausbeute mit ein paar von den weniger erfolgreichen Kollegen und gab jedem von ihnen eine Zigarette und einen RON (0,15 Euro), was genug für etwas Brot ist, aber zu wenig für Drogen. Wie die meisten hasst Ovidiu das Mephedron, das in Bukarest als „Badesalz“ unter dem Namen Pure verkauft wird. Vor ein paar Jahren arbeitete er einen Sommer lang auf einer Baustelle in England und konnte 1.700 Euro ansparen. Er schickte das Geld den Eltern der neun Kinder. Natürlich wurde alles für Drogen ausgegeben. „Wenigstens zerstörte das Heroin nicht ihren ganzen Verstand und ihre Freundlichkeit; sie hatten diese schönen Träume und alles war gut.“
 
„Legalen Drogen scheinen die Grausamkeit der Menschen hervorzubringen, vielleicht weil sie so billig sind und du keine Gefängnisstrafe für sie riskierst. Ich bin froh, dass sie verboten werden. Hoffentlich sind bald alle wieder auf Heroin, dann ist es wieder friedlich.“

Anzeige

Jeden Tag, nachdem er sich für den lächerlichen Lohn von vier Euro durch den Müll gewühlt hat, geht Ovidiu zurück zu dem besetzten Haus und kocht eine Gemüsesuppe, die elf Menschen ernährt, nimmt eine „Dusche“ im Dâmbovița und trifft sich, wenn er die Kinder bei jemanden in der Nachbarschaft lassen kann, mit einer Frau. Es gibt viele von ihnen im Park beim Bahnhof.

Von den Menschen, die ich dort getroffen habe, hatte keiner auch nur die geringste Ahnung davon, was morgen passieren würde oder wo sie ihre nächste Mahlzeit bekommen sollten. Selbst wenn sie gut aussehen und Humor haben, sind die Chancen, aus so etwas Kapital zu schlagen, gering. Aber sie wissen, wie man Spaß hat; sie gehen schwimmen, stylen sich ihre Haare mit billiger Limonade und finden sogar einen Grund zum Lachen, wenn sie gerade kopfüber in einen Müllcontainer gestopft werden.

Fotos von Poqe.com