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Steht Ägypten vor einer zweiten Revolution?

Oder ist die erste einfach noch nicht zu Ende?

Letzte Woche noch verkauften die Händler auf dem Tahrir-Platz in Kairo kitschige Pharaonen-Souvenirs und dieses ungewöhnliche T-Shirt, das auf die Entmachtung von Husni Mubarak anspielt. Jetzt verkaufen sie wieder Schals, Gasmasken und Schutzbrillen. Am Samstag nahm die Polizei einen brutalen Angriff auf einen Sitzstreik von Aktivisten vor, die während der Februar-Revolution verwundet worden waren und die nun demonstrierten, dass sich zu wenig geändert hätte. Diese Nachricht verbreitete sich schnell, Tausende eilten in Anteilnahme zu dem Platz und schon bald wurde dieser Zwischenfall zu einem Blitzableiter für weitere, tiefere Unzufriedenheit. Einige Leute nennen es eine zweite Revolution, andere sagen, dass die erste noch gar nicht vorbei ist. Was auch immer es ist, viele Menschen sind sehr verärgert und mindestens 33 sind mittlerweile tot. Die heftigsten Kämpfe seit Februar laufen bereits seit drei Tagen und immer mehr Menschen schließen sich stündlich an.

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Ich habe Sherief Gaber, einen Aktivisten von hier,  gefragt, warum normale Ägypter immer noch sauer sind, obwohl Mubarak weg ist. „Sie haben eine exakt gleiche Weiterführung der Vorgehensweise des alten Regimes, dessen Mitglieder größtenteils geblieben sind, mit Ausnahme von Mubarak und ein paar anderen Führungspositionen des Staates. Wir haben Pressezensur erlebt, brutales Durchgreifen bei Streikenden, Demonstranten und anderen Aufständischen."

„Wir haben Militärprozesse an über 12.000 Zivilisten gesehen; ein Militärgerichtssystem, das Menschen ins Visier nimmt, die arm aussehen, Kleinkriminelle, Journalisten und Aktivisten sind oder eine andere politische Richtung verfolgen und sich kritisch gegenüber der Regierung äußern." „Wir haben Gewalt gegenüber Demonstranten gesehen, mit ähnlichen Ausmaßen wie bei dem Massaker vor dem Gebäude des staatlichen Fernsehsenders im Oktober, als 30 Menschen in 15 Minuten getötet worden sind."

Zusätzlich werden die ökonomischen Probleme immer schlimmer, mit hoher Arbeitslosigkeit einer steigenden Inflation. Der Oberste Rat der Streitkräfte (SCAF), der Ägypten zurzeit beherrscht, behauptet, nur eine Übergangsregierung zu sein. Aber für viele hier ist es einfach die alte Regierung mit einem neuen Namen.

Die Tränengaswolken sind hier so dicht, dass drei Menschen an Erstickung gestorben sind. Viele haben ihre Augen durch Metall- und Plastiksplitter aus Shotgun-Munition verloren; dieser Mann hier wurde in der Mohammed Mahmoud Straße verletzt. Er wird in einem provisorischem Feldlazarett versorgt, das kurz nach der Aufnahme dieses Fotos mit Tränengas angegriffen wurde.

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Einige kämpfen 36 Stunden lang ohne Schlaf. Andere werden notdürftig zusammengeflickt und kehren an die Front zu zurück. Ein Aktivist namens Ahmed Harrara, der sein rechtes Auge am 28. Januar im Kampf gegen Mubarak verloren hat, schließt sich am Samstag erneut dem Kampf auf dem Tahrir-Platz an. Sein linkes Auge wurde ihm rausgeschossen. Jetzt ist er blind.

Diese Patronen und auch andere, die die Aktivisten gesammelt haben, tragen Prägungen der USA, von Italien und China. Die ägyptischen Fußballfans sind immer ganz vorne bei den Kämpfen mit dabei. Als sie Samstagnacht zu Tausenden auf den Tahrir-Platz strömten, schien sich das Blatt zum ersten Mal zu Gunsten der Revolutionäre zu wenden. Die Hardcore-Fans der beiden großen Mannschaften—El Ahly und Zamalek—sind sehr gut organisiert. Sie würden die Jungs von Dynamo Dresden zum Frühstück verputzen.

Als verantwortungsvoller Erwachsener denkst du vielleicht, du solltest es missbilligen, wenn Kinder beim Nahkampf mit voll bewaffneten Polizei vor Ort sind. Aber wenn dieser kleine Typ aus dem Rauch auftauchen und anbieten würde, dir verdünntes Natron in deine brennenden Augen zu spritzen, würdest du deine Meinung vielleicht noch mal überdenken. Genau wie die anderen, die eine Mischung gegen das Tränengas oder Essig mit sich herumtragen, um das Atmen zu erleichtern, ist er ein Teil dieser familiären Infrastruktur. Diese beinhaltet sogar Motorräder, die die Verwundeten in die eine Richtung fahren und dann mit Steinen wiederkommen.

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Lobna Darwish war auch bei den Demonstrationen dabei und erklärte, warum wenig Vertrauen in die anstehenden Wahlen besteht. „Das Parlament hat nicht die Möglichkeit, eine neue Regierung zu benennen und wenn das Parlament es nicht innerhalb eines halben Jahres schafft, eine Verfassung auszuarbeiten, wird der Militärrat diese Aufgabe übernehmen. Das Parlament hat sehr eingeschränkte Möglichkeiten, weil es so viel Macht besitzt wie unter Mubarak. Der Militärrat kann das Parlament entmachten oder auflösen, wann immer er will.“ Viele der Kandidaten sind reiche Geschäftsleute oder Anhänger des alten Regimes.

Als wolle man das Ganze noch verschlimmern, schwanken die Polizisten zwischen extremer Brutalität und Vorsicht wild hin und her. Manchmal ziehen sie sich zurück, als käme ihnen das explosive Potential jener Gräueltaten wieder in den Sinn, das ihren letzten Versuch der Platzübernahme begleitete. Wenn sie dann sehen, dass die Gruppen aus diesem Rückzug Selbstvertrauen schöpfen, schlagen sie wieder zu. Es scheint, als könnten sie dieser Dynamik kaum entfliehen.

Das Verhältnis zur Armee sieht ein wenig anders aus, weil die Demonstranten keine Steine oder Molotowcocktails nach ihnen werfen. Viele Menschen in Kairo sind noch immer der Meinung, dass die Armee auf der Seite der Bevölkerung steht und dass es zwischen Soldaten und Polizisten einen bedeutenden Unterschied gibt—abgesehen davon, dass die Armee jetzt offiziell die Leitung übernommen hat und Demonstranten ein paar Soldaten gefangen genommen haben, die Polizeiuniformen trugen.

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Sonntagabend war etwas mehr als die Hälfte des Tahrir-Platzes besetzt. Jetzt ist er wieder brechend voll, Zelte werden aufgebaut und Decken ausgerollt. So etwas hat es seit dem Sturz von Mubarak im Februar nicht gegeben. Lobna sieht es so: „Wenn ich durch die Straßen gehe, habe ich den Eindruck: Wir sterben oder wir gewinnen. Die Leute werden nicht nach Hause gehen. Die Menschen erzählen ihren Eltern, dass sie entweder sterben oder gewinnen werden, wenn sie ihr Haus verlassen. So ist es nun mal.“

Fotos und Text von Tom Dale.