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Der Bürgermeister von Ankara ist größenwahnsinnig

Hippies aus der Stadt werfen, einen Kanal ins Nirgendwo buddeln, Europas größten Vergnügungspark bauen: Der Bürgermeister von Ankara liebt Großprojekte. Seine Wiederwahl sorgt in Ankara gerade für Straßenschlachten.

Bild via Twitter-User @kolektifler

Die Hippies aus der Stadt werfen, einen Kanal ins Nirgendwo buddeln und Europas größten Vergnügungspark bauen: Mit derartigen Versprechungen ist die Kampagne des skurrilsten Bürgermeisters der Türkei bereits in die Geschichtsbücher eingegangen.

Schon seit 20 Jahren leitet Melih „Twitter-Taliban“ Gökcek die Geschicke der türkische Hauptstadt Ankara, jetzt wird er voraussichtlich noch fünf weitere Jahre regieren—eine weitere Erfolgsgeschichte im landesweiten Triumph von Recep Tayyip Erdogans AKP bei den Wahlen am Sonntag.

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Aber kurz nach dem Ende der Kommunalwahl am Sonntag hat der Wahlkampf von Ankaras Bürgermeister Melih „Twitter-Taliban“ Gökcek noch einmal deutlich an Skurrilität zugelegt. Landesweit hat die regierende AKP mit 45 Prozent einen Erdrutschsieg bei den Wahlen errungen. Aber ausgerechnet in der Hauptstadt Ankara war der Ausgang der Wahl sehr knapp—und die Opposition behauptet, Gökcek habe nur durch Wahlbetrug gewonnen. Gökcek lag nur um 35.000 Stimmen—also weniger als ein Prozentpunkt—vor seinem Herausforderer, dem CHP-Kandidaten Mansur Yavas.

„Verbrannte Urnen und Stromausfälle in Schlüsselbezirken—klingt das für dich nach einer fairen Wahl?“, fragte Ayberk Yagiz, der eine Organisation unabhängiger, freiwilliger Wahlbeobachter leitet. „Wir bemerken eine große Diskrepanz zwischen den von Beobachtern dokumentierten Stimmzahlen und dem offiziellen Ergebnis.“

Im Vorfeld der Wahlen brach Gökcek bei der Vorstellung, jemand könne die Opposition wählen, in Tränen aus.

Während die Krise sich am Dienstag ausweitete, bemühten sich Regierungsmitglieder, die Gerüchte von Wahlbetrug zu zerstreuen. „Das ist jetzt echt kein Scherz. Der Strom ist ausgefallen, weil eine Katze in eine Trafostation gelangt ist“, erklärte der Energieminister Taner Yildiz. „Das ist schonmal passiert.“ In der Wahlnacht soll der Strom in mindestens vier Bezirken Ankaras ausgefallen sein, in der ganzen Türkei in 40 Städten.

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16:07 #Ankara #Mithatpaşa caddesi - #YSK önünde toplanan gruba çevik kuvvet tazyikli suyla müdahale etti. v @banukpk pic.twitter.com/m7dzR8CcFy

— 140journos (@140journos) April 1, 2014

Die unbeholfenen Antworten haben kaum zur Beruhigung der Aktivisten beigetragen, die dazu übergegangen sind, vor entscheidenden Wahllokalen zu kampieren. Gleichzeitig wird der Gegenkandidat Yavas formell Betrugsvorwürfe erheben. „Die Polizei hat am Dienstag begonnen, die Demonstranten mit Wasserwerfern anzugreifen. Während sich der Konflikt um die Wählerstimmen Ankaras weiter zuspitzt, haben wir uns den umstrittenen Bürgermeister und seine Mega-Projekte näher angesehen.

Eine Vision des geplanten Ankapark.

„Als unser erstes großartiges Projekt präsentieren wir den Ankapark!“, donnerte der Bürgermeister mit dem Kindergesicht bei einer Kundgebung kurz vor der Wahl. Hinter ihm schaltete sich ein riesiger Bildschirm ein und bombardierte die Menge mit Bildern von Achterbahnen, Schwebebahnen und Dinosauriern. Umgeben von einer Fassade aus seldschukischen Minaretten, Kuppeln und Sandsteinmauern wird dieses orientalische Disneyland „unglaublich wertvoll für Ankaras Tourismusindustrie sein“, verkündete Gökcek, „und 10 Millionen Besucher im Jahr anziehen.“

Schon dafür bekam er Freudenschreie aus der Menge, aber der Bürgermeister war noch nicht fertig. „In fünf Jahren wird Ankara seinen eigenen Bosporus haben!“, rief er—und versprach, einen elf Kilometer langen Kanal, um die Vororte der staubtrockenen Stadt mitten auf dem anatolischen Festland zu bauen.

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Vom Applaus angefeuert ließ Gökcek noch ein drittes Projekt vom Leder: Gondeln, die Passanten hoch über Ankaras verstopften Straßen durch die Lüfte transportieren würden. Nach und nach häuften sich die Großprojekte, bis er ganze 18 zusammen hatte: Metrolinien, Moscheen und ein „Museum für Glauben und Geschichte, wo wir die Wunder des Koran erklären werden“, sagte der Bürgermeister. Nach einer Kunstpause setzte er fort: „Menschen werden es als Ungläubige betreten. Sie werden es als Gläubige verlassen.“

Nicht alle Bürger Ankaras sind begeistert von diesen Plänen. „Wenn man ihm zusieht, dann fragt man sich, ob notorisches Versprechen eine ganz besondere Krankheit ist.“, fragte sich Ayten Merter, eine Studentin an der Technischen Universität, während sie ihrem Bürgermeister im Fernsehen zusah. „Wenn es eine Therapie geben sollte, weiß ich nicht, ob sie bei ihm funktionieren würde.“

Für viele klingen die Bauprojekte nach potemkinschen Dörfern. „Wenn man sich die Korruption in Istanbul ansieht, landet man bei einem Netz aus Firmen und schmutzigen Deals, immerhin weiß man also, wer aus dem Topf klaut. In Ankara kennen wir nicht einmal die Namen“, sagt Arif Sargın, der Leiter des Architekturdepartments der Technischen Universität.

Laut Sargın hat die Stadt eine Reihe von türkischen Sozialbaufirmen für die Aufträge ausgesucht, ohne eine transparente Ausschreibung durgeführt zu haben. Er schätzt, dass bis jetzt um die 725 Millionen Euro für das Projekt ausgegeben wurden. „Manchmal fährt man zur Arbeit, und vor einem fährt ein LKW, der einen riesigen Glasfaser-Dinosaurier transportiert. Dann denkt man sich: Soll das alles eine Art Witz sein?“

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Auch Bülent Batuman, ein Stadtplaner von der Bilkent-Universität, ist sich nicht sicher, was er von dem Promotionsvideo des neuen Vergnügungspark halten soll. „Wenn man riesige Achterbahnen baut, sollte da nicht eine internationale Firma beteiligt sein? Aber wir haben keinen Hinweis, dass das passieren wird.“ In dem Video sieht die erste Achterbahn auch eher zahm aus, es gibt nur ein paar schwache Gefälle. „Wie soll das 10 Millionen Touristen im Jahr anziehen? Soviel bekommt Istanbul jedes Jahr“, sagt Batuman.

Wenn Gökcek manchmal so wirkt, als betrachte er seine Stadt als einen riesigen Sandkasten, dann orientiert er sich dabei nur an Premierminister Erdogan, der seine Vorzeigestadt Istanbul mit einer Welle aus Großprojekten überzogen hat. Aber obwohl die Bulldozer-Entwicklung massive Anti-Regierungs-Proteste in Istanbul ausgelöst hat, hat sie auch explosionsartigen Wachstum der Infrastruktur und öffentlichen Verkehrsmittel mit sich gebracht.

In Ankara ist das nicht eingetreten, erklärt Stadtplaner Batuman mit Blick auf das Metro-Netz der Hauptstadt. „Es ist eines der undurchsichtigsten, korruptesten Projekte in der Geschichte der Türkei“, sagt er. „In den letzten 17 Jahren haben sie uns fünf neue Linien versprochen und unzählige Millionen ausgegeben. Erstaunlicherweise hat die Stadt in dieser Zeit aber keine einzige neue Station eröffnet.“ Vor zwei Jahren wurde das Projekt deshalb von der Zentralregierung übernommen.

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Ein Twitter-Account über die „Stadtplanungs-Fails“ Ankaras hat seit letztem Jahr über 47.500 Follower bekommen. Täglich wird der Account mit Bildern von städtischen Peinlichkeiten befüllt: Ampeln, bei denen Rot und Grün gleichzeitig leuchten, extra ausgewiesene Blindenpfade, die in Schlaglöcher führen, oder falsch eingestellte Rolltreppen, die Passanten zum Rennen gegen die Richtung zwingen.

Ein Beispiel von der Facebook-Gruppe Ankara Buglari.

Kritiker sagen, dass diese Probleme zugunsten der ehrgeizigeren Projekte übersehen werden. „Hier herrscht genauso viel Wut über Gökcek wie über Erdogan“, sagt Esra Topaktas, eine 26-jährige Ingenieurs-Studentin an der Bilkent-Universität. „Er ist fast wie ein Fabeltier: So einen gibt es nur einmal auf der Welt, und wir alle kennen Geschichten über ihn. Ihr Außenseiter würdet sie nicht glauben, sie sind zu verrückt.“

Gökcek verdankt seinen illustren Ruf unter anderem seinem Twitter-Account, von dem aus er seinen Gegnern kalte, harte Wahrheiten in Großbuchstaben entgegenschleudert. Als die Gezi-Proteste letztes Jahr die Türkei erschütterten, sorgte er international für Schlagzeilen, als er den BBC-Korrespondenten Selin Girit beschuldigte, ein „ausländischer Agent“ zu sein, und tweetete: „DER BBC JOURNALIST IST EIN SPION IM SOLD ENGLANDS DER GEKOMMEN IST UM DIE TÜRKISCHE WIRTSCHAFT ZU ZERSTÖREN“. Er forderte seine 1,5 Millionen Follower auf, den Journalisten per Twitter zu belästigen, Girit erhielt eine Flut von Todesdrohungen.

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Als die Proteste sich bereits beruhigt hatten, machte er eine Menge Leute wütend, indem er leugnete, dass die Polizei den Demonstranten Ethem Sarisülük angeschossen hätte, obwohl der Zwischenfall auf Video aufgezeichnet worden war. Er rief außerdem zur Schaffung eines „Vandalismus“-Museums auf, um die von Demonstranten verübten Schäden am öffentlichen Besitz auszustellen. Im Juli tweetete er dazu: „IN DEUTSCHLAND GIBT ES EIN MUSEUM ÜBER WAS DEN JUDEN ANGETAN WURDE. ICH WERDE EIN VANDALISMUS-MUSEUM BAUEN, DAMIT AUCH WIR 'NIE VERGESSEN'".

Die Deutsche Polizei Mit Der Proportionalität-Kraft! Alm. Polisinin Orantılı(!)Güç Gösterisi http://t.co/GNtlxJF7BQ #bleibfreundedeutschland

— İbrahim Melih Gökçek (@06melihgokcek) 28. Juni 2013

Melih tweetet auch auf Deutsch, zum Beispiel um auf Polizeigewalt in Deutschland aufmerksam zu machen.

Auch während seiner Kampagne schreckte Gökcek nicht vor wilden Behauptungen zurück. Immer wieder deutete er an, dass jemand seine Ermordung plane. In einem Fernsehinterview erklärte er: „Die können auch gegen mich ein Attentat planen. Aber glaub mir, das ist nicht wichtig, weil ich meinen beiden Söhnen fünf Briefe hinterlassen habe, die die Codes jener enthüllen, die eine dunkle Ordnung in der Türkei aufbauen wollen.“

Auch die Kontroverse um seine Wiederwahl hat Gökcek nichts von seinem Elan gekostet. Auf die Anschuldigung, dass bis zu 40.000 Stimmen unlautererweise der Regierung zugeschlagen worden seien, erklärte er in einer Rede: „Tatsächlich sind mir 70.000 Stimmen gestohlen worden.“ Für die Freiwilligen und Demonstranten, die vor den Wahllokalen ausharren, hatte er nur Verachtung übrig. „Ihr einziges Ziel ist es, Chaos zu stiften.“

Für den Demonstranten Mehmet Keles machten Gökceks Worte noch einmal deutlich, warum der Bürgermeister gehen muss. „Es geht hier um Demokratie, und um den Kampf gegen Korruption bei der Wahl“, sagte Keles. „Aber gleichzeitig sind viele von uns hier, weil wir den Mann wirklich, wirklich satt haben.“