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Die Furcht vor „Armutszuwanderung“ ist Bullshit

Eigentlich wollte ich mit rumänischen Einwanderern sprechen und in Erfahrung bringen, ob die „Armutszuwanderung“ jetzt wirklich stattfindet, nachdem die „Freizügigkeit“ ab dem 1. Januar aktiv ist. Aber mein Besuch am Flughafen und Busbahnhof kam zu...

Um 16:09 Uhr landet die Maschine aus Bukarest in Berlin, Tegel. Ein Flug aus der rumänischen Hauptstadt in die deutsche Hauptstadt dauert zwei Stunden und ist ab 81 Euro zu haben. Viel billiger kann man nicht einwandern. Seit dem 1. Januar gilt die so genannte „Arbeitnehmerfreizügigkeit“ auch für Rumänien und Bulgarien. Die beiden Staaten sind zwar schon seit 2007 in der EU, bisher mussten Einwanderer aber noch eine Arbeitserlaubnis beantragen. Politiker aus der CSU haben deswegen Ende des Jahres angefangen, in Interviews vor der großen „Armutszuwanderung“ aus Rumänien zu warnen. Kurz darauf tauchte in einem CSU-Papier die Parole „Wer betrügt, der fliegt“ auf. Solche Parolen scheinen zu verfangen: Vor ein paar Tagen behaupteten auch meine Nachbarn im Treppenhaus, dass jetzt die große Einwanderungswelle aus Rumänien und Bulgarien käme. Neulich hätten schon welche die Mülltonnen hinter dem Haus durchwühlt, behaupteten sie, demnächst müssten wir den Innenhof abschließen. An Gate C, wo Flug AB9701 aus Bukarest ankommt, ist kurz vor 16 Uhr nicht viel von der großen Rumänenwelle zu spüren. Ein paar Herren in Anzügen stehen an der Absperrung. Sie sind Diplomaten und warten auf Emil Constantinescu, den ehemaligen rumänischen Präsidenten. Constantinescu käme öfter nach Berlin, er arbeite hier für eine Stiftung, sagen sie. Aber ehemalige Präsidenten sind wohl nicht das, wogegen die Populisten von der CSU mit dem Schlagwort „Armutsmigration“ Stimmung machen wollen. Meine Nachbarn werden ihn mit Sicherheit auch nicht dabei erwischen, wie er hinter dem Haus in Mülltonnen wühlt. Es ist gar nicht so einfach, an der Absperrung des Gates Rumänen zu finden, die auf andere Rumänen warten. Ein bisschen Abseits von den Diplomaten entdecke ich Isabell und Stojam—sie tatsächlich aus Rumänien, er tatsächlich aus Bulgarien, Gott sei Dank. Isabell ist Anfang 30 und hat schulterlange blonde Haare, helle Augen, ist dezent geschminkt in warmer Winterjacke. Sie nippt an einer Dose Redbull Zero. Stojam ist ein dunklerer Typ, breitschultrig mit kurzen Haaren. Ihr Aussehen würde mich gar nicht interessieren, wenn es für sie nicht so ein großes Thema wäre.

Hier auf Rumänen oder Bulgaren zu warten, die jetzt nach Deutschland ziehen wollen, sei Quatsch, sagen sie. „Für Rumänen und Bulgaren ist die Idee absurd, gerade jetzt nach Deutschland einzuwandern, nur weil ab dem 01.01. die europäische Freizügigkeit gilt.“ Noch viel absurder erscheint die Idee, dass Rumänen und Bulgaren das deutsche Sozialsystem ausnutzen wollen, wenn man Isabell anschaut. Freunde, die hergekommen seien und sich um eine Arbeitserlaubnis beworben hätten, wären vom Arbeitsamt genötigt worden, sich erstmal arbeitslos zu melden. Damit man sie behördlich irgendwo einordnen und ihnen erstmal einen Deutschkurs angedeihen lassen könne. „Ich habe mich geweigert, hier irgendwelche Sozialleistungen anzunehmen!“, erklärt Isabell. Sie warten auf ihre Tochter, die über die Ferien in Rumänien bei Verwandten war. Die meisten Rumänen hier am Gate würden auf zurückkehrende Schulkinder warten, sagen sie. Mit einer Ausnahme. „Die da drüben, der ganz dunkle Typ und die mit dem Zopf, das sind Roma, die sind anders“, sagt Isabell und zeigt mit dem Finger quer durch den Flughafen auf ein Pärchen, das gerade Richtung Ausgang läuft. Die sollte ich mal fragen, das wären so Leute, die hier Sozialleistungen schnorren wollen. „Auf Deutsch? Pah … die können nicht mal richtig Rumänisch oder Bulgarisch. Geschweige denn Deutsch oder Englisch“, behauptet Stojam. Man könne sie an den Ketten, Ohrringen und Goldzähnen erkennen. „Er macht hier bestimmt krumme Geschäfte, Prostitution und so. Siehst du, wie dunkel die sind?“ Richtige Rumänen seien fast so hellhäutig wie Deutsche. „Die gehen jetzt bestimmt erstmal raus Eine rauchen“, sagt Isabell abwertend, als würden sie sich nicht Zigaretten, sondern Crack-Pfeifchen anstecken. Ich laufe dem vermeintlichen Roma-Pärchen hinterher. Er ist tatsächlich etwas dunkler als Stojam, trägt eine Kette und einen goldenen Ohrring. Aber auch nichts so Großes, dass es auffallen würde, wenn man nicht darauf hingewiesen würde. Isabell und Stojam gehen auch rauchen und spitzen die Ohren, als ich die Beiden anspreche.

Er heißt Emil, sie heißt Zoya, und sie sind tatsächlich Roma aus Bulgarien. Wir unterhalten uns kurz auf Englisch und dann auf Deutsch. Emil ist seit sechs Jahren hier. Er hat erst eine Weile in Restaurants gearbeitet und vor zwei Jahren ein eigenes eröffnet. Jeder Bulgare könne in Berlin irgendwo arbeiten, das sei kein Problem, auch ohne Arbeitserlaubnis, sagt er. Da sei es ziemlich egal, ob nun eine Freizügigkeit beschlossen worden sei oder nicht. Und ja, von den Scheibenputzern an den Kreuzungen seien auch einige Roma. „Es gibt Roma, die kommen nur für ein paar Monate her, und Roma, die kommen her, um sich zu integrieren“, erklärt Emil. „Ich versuche, den Leuten zu helfen, die sich integrieren wollen.“ Das Problem der Scheibenputzer und Bettler sei aber eigentlich kein deutsches Problem. „Es entsteht in Bulgarien und Rumänien, durch die Diskriminierung der Roma.“ Es sei für Leute mit etwas dunklerem Hautton fast unmöglich, in den Städten einen Job zu kriegen. „Es ist verrückt, dass es so eine Diskriminierung im 21. Jahrhundert überhaupt noch gibt!“, sagt Emil. Ich denke an Stojam und Isabell—und kann mir gut vorstellen, was er meint. „Eingewanderte Roma werden von der deutschen Polizei wesentlich mehr respektiert als von den bulgarischen Behörden“, erklärt Emil. „Weil sie hier Respekt erfahren, zeigen sie auch gegenüber den deutschen Behörden Respekt und versuchen nicht, sie zu hintergehen.“ Dann müssen Emil und Michailowa weiter, sie sind nämlich gar nicht angekommen und warten auch auf niemanden, sie fliegen nur für ein paar Tage nach Hause. Ich warte noch auf den 17:40-Uhr-Flieger aus Sofia, der bulgarischen Hauptstadt, und frage die Leute am Gate, ob sie vielleicht auf Familie oder Freunde aus Bulgarien warten. „Ich warte, aber nicht auf das Pack, auf das du wartest. Hab gehört, nach wem du fragst“, antwortet ein Typ, hörbar Berliner, geschätzte Mitte 30 in sportlicher Jacke, der seinen Namen nicht verraten will. Er warte nur auf seine Freundin, sie arbeite am Flughafen. Er selbst arbeite in einer Werbeagentur in Mitte und er hätte die Schnauze voll. In der Bernauer Straße würde jetzt ein Heim für „die“ eröffnet. Und er „überlege sich schon, wie man 'ne Handgranate baut.“ In Mitte seien schon genug von denen. Ich frage ihn, was genau ihn denn an bulgarischen Einwanderern stören würde. „Russen, Rumänen, Bulgaren, willst du in der Nähe von sowas wohnen?“, fragt er zurück. Mir wird etwas übel. Er legt nochmal nach: „Wenn die Russen hier rüberkommen, ist doch der einzige Deutsche der Schäferhund.“ Wohnheime, Handgranaten, Russen, Schäferhunde, Pack—eine seltsame Welt öffnet sich mir da. Klingt eher nach Rostock-Lichtenhagen 1992 als nach Berlin-Tegel 2014. Und es klingt erst recht nicht nach Werbeagentur—zumindest nicht so, wie man sich die Meinungen in Berliner Werbeagenturen vorstellt. Ich frage ihn, ob er tatsächlich plane, irgendwas zu unternehmen. „Joa … das sehen wir ja dann. Gibt da ja so Bürgerinitiativen …“, sagt er. „Au weia“, denke ich mir. Auch wenn Flüge mittlerweile oft günstiger sind als Busfahrten, würde man den stereotypen „Armutseinwanderer“ wohl eher am Busbahnhof erwarten. Aber auch am Berliner Busbahnhof Funkturm kann ich keine Horden von „Armutsmigranten“ entdecken. Natürlich könnten sie auch an einem anderen Tag kommen, aber das ist nicht sehr plausibel. Wirklich kein Rumäne oder Bulgare, den ich in den letzten Tagen getroffen habe, (und das waren einige) wusste etwas von einer Abwanderungswelle. Die Busse, Züge und Flugzeuge aus Rumänien oder Bulgarien nach Westeuropa sind nicht voller als sonst, wird berichtet. So ein Nachmittag am Gate C kann unterhaltsam bis erschreckend sein, aber mit Sicherheit nicht repräsentativ. Daher noch ein paar offizielle Zahlen zu der vermeintlichen „Armutsmigration“: Das rumänische Wirtschaftswachstum lag im letzten Quartal bei 4,1 Prozent. „Warum im Aufschwung auswandern?“, fragt das englische Wirtschaftsmagazin The Economist daher rhetorisch. Außerdem steigen die rumänischen Gehälter, und unter 5 Prozent der Rumänen sind arbeitslos, in Bukarest sogar nur 2 Prozent. Wenn „Einwanderungswelle“, dann ist sie sowieso schon passiert—2007, als Rumänien der EU beigetreten ist. Von sieben Millionen rumänischen Arbeitnehmern, so der Economist, sei eine Million damals nach Italien ausgewandert, eine Million nach Spanien, eine halbe Million nach Frankreich und 400.000 nach Deutschland. Für 2014 rechnet Herbert Brückner vom Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung mit nur 100.000 bis 180.000 Einwanderern aus Bulgarien und Rumänien. „Das kann man nicht Armutsmigration nennen“, sagt Brückner dazu in Interviews. Im Übrigen waren 2012 nur 9,6 Prozent der in Deutschland lebenden Rumänen und Bulgaren arbeitslos gemeldet. Das liegt zwar leicht über dem deutschen Durchschnitt von 7,4 Prozent, aber weit unter dem Durchschnitt der ausländischen Bevölkerung, deren Arbeitslosenquote 2012 bei 16,9 Prozent lag. Vor allem die Politiker, die vor den Einwanderern gewarnt hatten, dürfte das Ausbleiben der Welle etwas enttäuscht haben. In London beispielsweise hatten sich konservative Politiker und Journalisten sogar am Flughafen versammelt, um die vermuteten Einwanderer in einer ironischen Aktion zu begrüßen. Dort kam auch niemand. Nur der rumänische Botschafter machte danach ein paar Witze, in denen er die konservativen Politiker mit den Figuren aus dem Theaterstück Warten auf Godot verglich.