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Gestern heulten wir Blut und Wasser bei den Krawallen in Athen

Griechenland ist pleite und für nichts ist mehr Geld in den Kassen, doch Prügel und Tränengas gibt es noch immer zu Genüge.

Elektra Kotsoni, Hugo Donkin, Henry Langston und Alex Miller von VICE.

Tränengas. Beschissenes Tränengas. Ich stinke danach. Meine Bomberjacke und meine Haare kleben deswegen; meine Nasenlöcher sind im Grunde Dresden und Nagasaki. Ich hasse Tränengas. Die griechische Polizei hingegen liebt es. Heute antwortete sie im Zentrums Athens den Demonstranten auf die Art und Weise, wie sie es immer tun: in dem sie sie mit Kanistern voll abscheulicher, giftiger Scheiße festnageln.

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Wir sind jetzt seit drei Tagen in Griechenland, um für VICE.COM zu filmen. Bevor ich ankam, nahm ich an, es würde sich als eine extreme Version der Londoner oder Berliner Proteste entpuppen. Ich dachte, die Öffentlichkeit und die Anarchisten wären getrennte Gruppen, einander argwöhnisch und unsympathisch gegenüberstehend. Aber Griechenland hat uns diese Woche sehr überrascht. Die Taxifahrer haben die Tugenden aller empor gehoben, die kämpfen wollen—gegen die griechische Regierung und die Sparmaßnahmen, entstanden aus Korruption und Ineffizienz. „Ich hoffe, das Griechenlands junge Söhne eine Woche lang nicht ins Bett gehen“, sagte ein Mittfünfziger. Er erzählte, er habe sich einen Helm gekauft und wäre nun hier, um mitzumachen.

Heute kämpften auf dem Schlachtfeld des Syntagma-Platzes, auf den irgendwas um die 200.000 Griechen gekommen waren, verhüllte Hausbesetzer Seite an Seite mit Männern, die ihre Zähne bereits während der Revolution von 1974 ausgeschlagen bekommen haben könnten, aufgebracht wegen einer Polizei, die seit Jahrzehnten von Missbrauch bestimmt wird.

Nachdem wir ihrem Kampf fünf Stunden lang zugesehen hatten, war es ein Leichtes, sich davon tragen zu lassen und zu glauben, dass wir am Abgrund der Geschichte stehen. Dieses Land ist am Ende. Ein Land mit einer Geschichte entmachteter Herrscher, die es gehörig versaut haben. Frauen um die 80 beglückwünschten Jugendliche mit Misfits-Aufnähern, alte Männer schnappten sich Waffen aus den Trümmern von Blumenkübeln, Mauern und Pfählen, die von vermummten Punks zertrümmert worden waren.

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Die Proteste starteten um 10 Uhr morgens. Wir befanden uns in Exarchia, einem Gebiet, das von den griechischen Medien „Anarchistenzentrum“ genannt wird. Es ist quasi all das, was Kreuzberg oder Camden Town in den 80ern sein wollten. Eine fast polizeifreie Zone, in der sich besetztes Haus an besetztes Haus reiht. Von hier aus marschierten die Anarchisten, Studenten und einige weitere Linksorientierte mittleren Alters zum Zentrum Athens. Dort wollten sie sich mit vielen anderen politischen Gruppen treffen, von deren politischen Strategien ich keine einzige im Kopf habe.

Nach einer Stunde auf dem überfüllten Syntagma-Platz formierte sich eine Reihe Kommunisten mit Stöcken in der Hand, um die friedlichen Demonstranten vor dem Kampf zwischen Polizei und Anarchisten zu beschützen. Nach ungefähr 45 Minuten verpissten sie sich. „Ihr solltet aufpassen, die Stalinisten haben den Platz verlassen. Jetzt herrscht hier keine Organisation mehr, nur noch gewalttätiger Wahnsinn“; warnten uns einige ernste Athener, als ich, Elektra Kotsoni und Hugo Donkin (VICE) mit unseren Gasmasken in einer Seitengasse standen, nachdem die erste Schlacht vorbei war. An uns vorbei trotteten Männer und Frauen mittleren Alters und wandten sich einer anderen Prügelei im Stadtzentrum zu.

Überall um den Syntagma-Platz war Gas, das uns blind machte und die Menge zurückdrängte. Wir hatten damit gerechnet, dass die Polizei ihre Granaten heben würde und waren alle zerknautscht, erblindet und husteten, als wir in unsere ursprüngliche Richtung zurück torkelten. Leute mit Alkalispray rannten umher und reinigten die Augen der Protestanten. Ich wünschte aber, sie hätten mehr als sieben Euro in eine Gasmaske investiert. Mit gereinigten Augen würde die Menschenmenge sich wieder mit Marmorstücken ausrüsten, die sie von den Wänden der Bänke geschlagen hatte und erneut aufbegehren. Waren die Spartaner nicht Griechen? Nah genug dran jedenfalls.

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Explosionen standen auf der Tagesordnung und wurden mit Beifall begrüßt. Ein kurzes Aufatmen, dann ein Anflug von Panik, als Leute vor einer voraussichtlichen Welle Schlagstöcke und Chemikalien flüchteten. Schnell versammelten sie sich aber wieder. Es ist eine aufgeschlossene Umgebung, vorausgesetzt du bist kein Journalist. Wenn du allerdings eine Kamera mit dir trägst, bist du geliefert, wie Hugo und VICE- Fotograf Henry Langston herausfanden. Jeder hier hasst die Presse. Und weißt du auch, warum? Die Berichte über die Krawalle werden hier als lückenhaft angesehen, als herablassend und von den griechischen Medien verharmlost dargestellt. Trotzdem hättet ihr Hugos Kamera nicht mit einem schweren Metallstück zertrümmern müssen, oder? Und ihr hättet Henry auch nicht durch einen Haufen brennenden Mülls jagen müssen. Na ja, am Ende standen ich und Elena allein da. Tadaa!

Morgen stimmt das Parlament über die neuen Sparmaßnahmen ab, die diese ganze Wut hervorgebracht haben (nach Jahren des Polizeimissbrauchs und mutmaßlicher Korruption in der Politik). Die Maßnahmen werden wohl durchkommen, weil die Griechen sonst keine Kohle aus Deutschland bekommen. Ich weiß nicht, wie irgendeine Antwort zu der wirtschaftlichen Scheiße in Griechenland lauten wird, aber ich weiß, dass sich morgen wieder alle vor dem Parlament treffen—und das es nicht locker sein wird.

Wenn du den ganzen Tag mit einer Gruppe rumrennst und siehst, wie Polizisten Frauen schlagen, dann weckt das in dir gerechte Empörung gegenüber den Männern hinter den taktischen Einsatzschildern, die dir Steine an den Kopf werfen. Also, ich bin wahrscheinlich nicht vollkommen frei von Vorurteilen und vielleicht kralle ich mich wie wild in einige vertraute Vergleiche fest, in einer Umgebung, die mir total fremd ist—aber für mich sieht es so aus, als sei jeder in dieser heruntergekommenen Stadt ein junger Schwarzer aus Tottenham. Jung und alt fühlen sich von unzuverlässiger Polizeigewalt bedroht und von der Wirtschaft aufgegeben. Und genau das ist der Grund dafür, dass die Anarchisten hier nicht als Pariahs angesehen werden. Sie sprechen sicherlich nicht für alle, aber wenn du gegen bewaffnete Menschen für deine Zukunft kämpfst, dann sind 2.000 Jugendliche mit Molotowcocktail willkommene Bündnispartner.

Wie auch immer, wir werden sehen, wie es morgen weiter geht. Ich schätze mal, schlecht.

WORDS: ALEX MILLER
PHOTOS: HENRY LANGSTON Follow VICE's adventures in Athens at the VICE UK Twitter.