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Raphael Bossong: Es gibt den Artikel 26 im Schengener Grenzkodex, nach dem man Grenzkontrollen durchführen kann. Aber: nur zeitweise und unter relativ strengen Bedingungen. Es muss eine Notsituation geben, zum Beispiel einen terroristischen Anschlag. Auch Großereignisse wie der G8-Gipfel oder ein internationales Fußballspiel, wo viele Hooligans zu erwarten wären, sind solche Anlässe. Aber es darf nur kurzfristig sein und eine europäische Institutionen sollte das mit absegnen. Das hat vor allem in letzter Zeit nicht geklappt. Dänemark, Schweden, Österreich, all die kontrollieren zwar ihre Grenze, aber eine richtige EU-Entscheidung war das nicht. Bisher konnten die Staaten den Status auch immer wieder verlängern, aber langsam geht das nach den bestehenden Regeln nicht mehr.Und dann?
Im April oder Mai müsste der Normalzustand wiederhergestellt sein, also die Grenzen offen. Die Frage ist, ob das passiert. Lange sah es so aus, dass die Mitgliedstaaten dazu nicht bereit sind. Und dann würde Schengen immer weiter auseinandergenommen werden. Nicht mit einem Schlag, aber schleichend.
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Genau. Es hängt viel davon ab, wie das Abkommen mit der Türkei funktioniert, das läuft ja erst zwei Tage. Wenn dazu die Balkanroute dicht bleibt—es gibt natürlich immer noch die Zehntausenden Gestrandeten in Mazedonien—dann ist ein weiteres Argument weg. Und die dritte Frage: Was macht Griechenland? Es gibt Berichte, dass die Lager und Hotspots langsam anfangen zu funktionieren und die versprochene europäische Hilfe zumindest teilweise ankommt. Wenn das zutrifft, dann gibt es keinen Grund mehr, weiter zu kontrollieren.Also lautet die Formel: Je stärker die EU-Außengrenzen, desto mehr Freiheit innerhalb der EU.
Das ist der Deal. Manche sagen, es ist ein schmutziger. Man kann da unterschiedlicher Meinung sein, aber so läuft es gerade.Wie muss man sich das vorstellen, wenn es plötzlich kein Schengen mehr gäbe: lange Staus auf der Autobahn, finstere Grenzer, die im Zug das Gepäck durchwühlen?
So, als wenn man nach Großbritannien reist. Die sind ja auch nicht im Schengen-Abkommen. Man müsste sich daran gewöhnen: jedesmal eine Pass- und Identitätskontrolle, vielleicht auch eine fürs Visum, wenn man im Auto nach Polen fährt oder den Zug nach Frankreich nimmt. Innerhalb der EU kann man auch relativ einfach von einem Land ins andere ziehen: Die Gesundheitskarte ist übertragbar und man muss sich nicht erst irgendwo die Erlaubnis holen, sich registrieren oder wird im Sicherheitscheck überprüft. Mal ein halbes Jahr in Frankreich studieren? Heute packen Sie den Koffer, fahren rüber und das war's. Das wäre dann nicht mehr so einfach.Wie geht es also mit Deutschlands Grenzen weiter?
Wenn nichts ganz Unerwartetes passiert: Ich glaube, dass wir in den nächsten Monaten eine Normalisierung haben. Dass Deutschland mit den Kontrollen aufhört und andere auch. Gleichzeitig wird die elektronische Überwachung und der Datenaustausch ausgebaut. Das ist der aktuelle Kompromis: Man behält Schengen, räumt aber dafür viel mehr Möglichkeiten der Kontrolle ein. Wir werden das als Normalbürger kaum merken. Aber jeder, der sich in Europa bewegt, wird mehr durchleuchtet werden—und immer mehr Daten an die Behörden abgeben, zum Beispiel im Schengener Informationssystem und durch die Fluggastdatenspeicherung.Aber frei bewegen kann man sich doch trotzdem?
Es gibt seit ein, zwei Jahren Experimente, könnte man fast sagen, Leuten das Reisen zu verbieten. Weil man glaubt oder weiß, sie unterstützen den Terrorismus. Das wird sich auf jeden Fall verstetigen. Aber wo hört das auf? Was ist zum Beispiel, wenn jemand beim G8-Gipfel demonstrieren will? Da kommt dann die Polizei vorbei und sagt: Nee, Sie bleiben mal schön im Land. Auch wenn offiziell die Grenzen offen sind, wird es dafür Reiseverbote geben.