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The Up Close and Personal Issue

Auf einen Cappuccino und einen Orangensaft mit Anohni

Anohni nimmt auf ihrem aktuellen Album den Klimawandel, soziale Ungerechtigkeit und viele weitere Probleme der Moderne in Angriff—ein Porträt.

Porträt von Annie Collinge

Aus der The Up Close and Personal Issue

Anohni befürchtete, weinen zu müssen. Die Künstlerin, die früher als Antony Hegarty bekannt war, saß mir in einem fensterlosen Zimmer des Roxy Hotel in Manhattan gegenüber und gestand, beim letzten Interview hätten sowohl sie als auch die Journalistin geweint. "Das will ich diesmal nicht", sagte sie und hielt inne, um sich zu sammeln. "Ich habe mich da zu sehr reingesteigert."

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Kurz zuvor war sie in der Lobby erschienen, in einem schwarzen Pulli, in der Hand eine Tüte Kleidung. Nach unserem Interview bei entkoffeiniertem Cappuccino und Orangensaft musste sie zu ihrem Schneider an der Lower East Side.

Dies war nur eine von vielen Erledigungen, die sie noch vor sich hatte, bevor es zur Oscarverleihung 2016 gehen sollte, denn Anohni war zusammen mit dem Komponisten J. Ralph für "Manta Ray" aus der Umwelt-Dokumentation Racing Exctinction für den besten Song nominiert. Sie und Filmkomponistin Angela Morley sind die einzigen Transfrauen, die je für einen Oscar nominiert worden sind.

Die Nominierung war ein Meilenstein in der Karriere der in England geborenen und in Kalifornien aufgewachsenen Künstlerin, über den ich gern mit ihr sprechen wollte. Oder über ihre Anfänge in der queeren Performancekunst-Szene im New York der 1990er an der Spitze der Drag-Theatergruppe Blacklips oder über die vielseitige Stimme, die ihr Lou Reed als frühen Mentor und 2005 den Mercury Prize einbrachte. Ich wollte auch gern fragen, wie es war, mit ihrem akustischen Kammerpop-Ensemble Antony and the Johnsons ein Jahrzehnt lang Konzerthallen und Opernhäuser in aller Welt zu füllen. Doch Anohni wollte kaum über ihre Erfolge sprechen. Nicht einmal die Hintergrundgeschichte zu ihrem eben erschienenen fünften Album, Hopelessness, wollte sie teilen. Anohni wollte über unsere Entwicklung als Spezies sprechen.

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"Ich mache seit zehn Jahren eine Umfrage­—ich frage Taxifahrer nach dem Wetter", sagte sie.

"Jeder von ihnen sagt auf seine Art irgendwann dasselbe: 'Das Wetter verändert sich schrecklich, vor allem in meinem Heimatland.' Es ist die Endzeit. Die Endzeit, die Endzeit." Anohni schlug mit den Wimpern, als wolle sie die Silben betonen.

Hopelessness erforscht eine Weltanschauung, die ihrer Meinung nach für die industrielle Zerstörung der Umwelt verantwortlich ist. Doch sie behandelt auch andere Themen wie Kapitalismus, US-Außenpolitik, das Patriarchat und das Versagen der Menschen im Umgang miteinander. Das Album handelt einfach von allem, und Anohni ist entschlossen, Debatten über alles loszutreten.

"Bei mir geht es darum, die Augen weit zu öffnen", sagte mir Anohni. "Wie weit kann ich sie öffnen, wie viel kann ich versuchen zu sehen, wo ich doch weiß, dass ich nie alles sehen werde?" Hopelessness verarbeite 15 Jahre des Zeitunglesens, der Gespräche mit Fremden und Freunden und die zahllosen Fehler des Westens, die ein "System" bilden, so Anohni. Als es an das Verfassen der Texte ging, seien die Worte innerhalb weniger Tagen nur so aus ihr herausgeströmt. "Ich war so wütend wegen dieser Dinge, und ich hatte Angst, all das zu sagen", sagte sie. "Mir wurde bewusst, wie viel Energie darin steckt: Warum sonst habe ich solche Angst, diese Wahrheiten auszusprechen?"

Verglichen mit dem Durchbruchalbum von 2005, I Am a Bird Now, und den darauffolgenden Alben, die als kryptische Meditationen über Liebe und Tod berührten, ist Hopelessness schockierend und fast schon euphorisch direkt. Ein Song, "Drone Bomb Me", wird aus der Perspektive eines Mädchens gesungen, dessen Familie von einer Drohnenbombe getötet wurde. "Watch Me" handelt vom Leben in einer überwachten Gesellschaft und "Execution" kritisiert staatlich genehmigten Mord in aller Welt.

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Das Album wendet sich ab von dem streicherlas­tigen Sound, der lange Anohnis Markenzeichen war. Ihre Botschaften zur Endzeit haben einen modernen Hintergrund bekommen, mit an Filmmusik erinnernden Synths, Trap-Drums und elektronischen Schnörkeln von dem schottischen Producer und Kanye-West-Kollaborateur Hudson Mohawke und dem experimentellen US-Musiker Oneohtrix Point Never. Die Instrumentals seien ein trojanisches Pferd, sagt Anohni. "Ich wollte, dass es künstlich, süßlich, köstlich und verführerisch genug ist, um einen Text darin einzubetten, der dazu im Kontrast steht, aber den die Leute trotzdem aufsaugen", sagte sie mir. "Es klingt manipulativ, und das ist es auch."

Einen Monat nach unserem Interview enthüllte Anohni mit dem Video zu "Drone Bomb Me" ein weiteres trojanisches Pferd. Sie hatte Naomi Campbell engagiert, um als ihre Stellvertreterin zu agieren, und während das Supermodel mit Tränen in den Augen die Lippen bewegte, fiel mir eine Geschichte ein, die Anohni erzählt hatte: die von Martha Wash, der Sängerin hinter einigen der größten Dance-Hits der frühen 90er, darunter "Strike It Up" von der italienischen House-Kombo Black Box. In dem Video das zu dem Song erschien, fehlte allerdings von Wash, damals Ende 30, jede Spur. Ihr Alter und Gewicht hatten sie in den Augen des Labels RCA unverwertbar gemacht, und so ließ man ein französisches Model die Sängerin mimen und Washs Beitrag zu diesem und anderen Songs unter den Tisch fallen. (Wash erkämpfte mit einer Klage einen außergerichtlichen Vergleich mit RCA.)

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"Ich will als 'sie' angesprochen werden, weil ihr meine Seele würdigen sollt."

Fast 25 Jahre später ist Anohni noch immer von dem Skandal fasziniert. "Es ging darum, ein Paket zu schaffen, das sich verkaufen würde", sagte sie. Diese kommerzielle Logik wird in "Drone Bomb Me" für Anohnis kritische Absichten eingespannt. "Wenn die Leute meine Musik durch meine physische Erscheinung wahrnehmen, können sie sich ihr oft nicht richtig öffnen, weil sie alles durch die Identitätspolitik meines Körpers gefiltert hören", sagte sie mir.

Nicht nur bei "Drone Bomb Me" setzt Anohni die Körper anderer als Stellvertreter für ihren eigenen ein. Die Collagenkunst für Hopelessness kombiniert Anohnis Gesicht mit dem des Models Liya Kebede—und bei Auftritten zeigt sie Porträts von Frauen, während sie sich im Schatten hält. "Mir geht es dabei darum, meine Stimme von meinem Körper zu trennen", erklärte sie. "Meine Idee war es, mich auszulöschen."

Wie befürchtet füllten sich Anohnis Augen im Laufe des Interviews zweimal mit Tränen: einmal, als es um das grenzenlose Mitgefühl der indigenen kanadischen Folksängerin Buffy Saint-Marie ging, und einmal, als sie gestand, sie hoffe, eines Tages ein Buch zu schreiben. Doch mir fiel auf, dass Anohni sich trotzdem bedeckt hielt. Bei den Verhandlungen mit ihrer Publizistin verwehrte sie mir Zugang zu ihrem Zuhause; im letzten Moment verschob sie ein zweites Interview im Brooklyn Botanic Garden auf unbestimmte Zeit. Stattdessen nahm sie mich mit zum Schneider, doch selbst hier drapierte sie gestrickte Stoffe über meine Schultern und stellte mich vor einen Spiegel, als sei ich diejenige, die sich etwas maßschneidern lassen wollte.

Als wir später in einem Gemeinschaftsgarten saßen, war ich etwas frustriert. Nach ein paar Stunden fühlte sich das Gespräch über Imperialismus, fossile Brennstoffe, Guantánamo, 9/11, Ferguson und den perfiden Entzug unserer Privatsphäre durch soziale Medien an, als baue sie einen Schutzwall damit auf. Ich fragte, ob es auch in ihrer Kindheit begründet sei, dass sie so gewillt sei, die Probleme der Welt anzusprechen. "Ja", sagte sie, "aber das ist privat."

Ihre Vorsicht kann man ihr schwer zum Vorwurf machen. In ihrem Jahrzehnt im Rampenlicht hatte sie unsensible Fragen über ihre sexuelle Identität als verstörend empfunden. Auch die Oscars verstörten sie, wie ich herausfinden sollte. Zwei Tage nach unserem Treffen schrieb sie auf ihrem Blog, sie habe den Flug nach L.A. storniert, denn die Academy hatte sie trotz ihrer Nominierung nicht gebeten, bei der Verleihung aufzutreten, aufgrund "eines Systems der sozialen Unterdrückung und Chancenungleichheit für Transpersonen, das der US-Kapitalismus einsetzt, um unsere Träume und unseren kollektiven Geist zu zerstören".

Mit Hopelessness macht sie sich in gewisser Weise verletzlicher denn je. "Ich war noch nie ein Mann, aber ich habe mit einem Männernamen gelebt und es den Leuten recht gemacht, die mich 'er' nannten", sagte Anohni. "Dann habe ich mich endlich getraut zu sagen: 'Ich will als 'sie' angesprochen werden, weil ihr meine Seele würdigen sollt. Ich bin transgender und will für meine weibliche Essenz und meine weibliche Perspektive respektiert werden.'"

Die Sonne versank hinter der Skyline und ich erwog, dass die "weibliche Essenz", wie Anohni sie nennt, etwas so Großes sein könnte, dass es in keinen einzelnen Körper passt; etwas, das mit ihrem Wunsch einhergeht, das Schicksal aller Menschen und Tiere und Pflanzen der Erde auf ihren Schultern zu tragen. Dann erinnerte ich mich an den Wunsch, den sie mir gegenüber geäußert hatte. Ihr war klar, dass mein Porträt auch mich widerspiegeln würde. "Nimm mich als Gelegenheit, über etwas zu schreiben, das dir wichtig ist", bat sie mich. "Das wünsche ich mir: Nutze mich auf eine nützliche Weise."