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Reisen

Für eine Handvoll Dinar

Wir sind durch eine obskure Anzeige in einem Friseursalon gelandet, in dem ein zwielichtiger Ukrainer verarmten Belgradern ihre Haare abkauft.

Die für uns interessante Anzeige befindet sich ganz oben.

Seit ein paar Monaten schon säumt eine obskure Anzeige die Häuserwände und Laternenpfähle Belgrads. Der Text lautet: „Ich kaufe Haare (naturbelassen, 40 cm oder länger) am 16. Oktober. Nur am 16. Oktober." Eine Telefonnummer ist nicht angegeben—lediglich die Adresse eines Friseursalons namens „Kruz". Google konnte mir keine weiteren Informationen liefern, also schnappte ich mir meine Kamera und machte mich auf den Weg zu der angegeben Adresse.

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Wer auch immer hier Haare kaufen wollte, hatte sich dafür genau den Tag ausgesucht, an dem Putin zu Besuch in Belgrad war. Der öffentliche Nahverkehr stand still und die halbe Stadt war abgesperrt. Angesichts des ungünstig gewählten Termins und der kryptischen Wegbeschreibung auf dem Poster fragte ich mich dann doch, wie wichtig es dem Käufer mit den Haaren überhaupt sein konnte.

Den ganzen Hürden zum Trotz schaffte ich es, den Salon Kruz ausfindig zu machen. Dort traf ich auf Dragan, den Besitzer des Ladens, der einsam und gelangweilt in der Tür stand. Da er sich wohl über etwas Gesellschaft zu freuen schien, machte er mir Kaffee und erzählte, dass er selber mit der Anzeige nichts zu tun habe. Bei dem mysteriösen Haarkäufer handele es sich um einen Ukrainer aus Donezk namens Sergej, dem Dragan immer mal wieder seinen Salon zur Verfügung stellt. Da Sergej gerade aber nicht da war, beschloss ich, auf ihn zu warten.

Dragan zufolge konnte ich mir wenig Hoffnung darauf machen, dass mir Sergej viel über sich erzählen würde, also erzählte mir Dragan stattdessen etwas über sich. Wie sich herausstellte, hatte ihm mal eine Kette von Salons in Loznica gehört—einer kleinen Stadt im Westen Serbiens. Als die Zahl der Kundschaft auf unter 250 pro Tag gefallen war, schloss er alle Filialen und sagte sich: „Scheiß drauf, ich ziehe nach Belgrad." Während er auf den „Lang lebe Tito"-Schriftzug an der gegenüberliegenden Hauswand starrte, erzählte er mir davon, wie er dazu gekommen war, seinen Salon für 25 Euro pro Tag an Sergej zu vermieten.

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Wie in einem Film trat just in diesem Moment Sergej durch die Tür. Ich schaffte es gerade mal, ihm Hallo zu sagen, bevor er mich eindringlich ermahnte, ja keine Fotos von ihm zu machen—und erzählen würde er mir erst recht nichts.

„Kein gutes Marketing, kein gutes Marketing", sagte er in einem Mix aus Serbisch und Russisch. Dieser Ort und die ganze Situation schienen mir derartig abstrus, dass ich es für das Beste hielt, ihm zu gehorchen.

Dragan schaute sich auf einem kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher die Live-Übertragung der Militärparade an, die gerade in Belgrad abgehalten wurde. Gerade als der Nachrichtensprecher bekannt gab, dass Putin in Serbien gelandet sei, kam die erste Kundin durch die Tür.

Ruža

Ihres Zeichens selber Friseurin hatte Ruža eine ganze Tasche voller Haare dabei. Nervös zog sie vier Zöpfe heraus. Sergej betrachtete die Ware eindringlich für ein paar Minuten und warf dann zwei Stück wieder zurück in die Tasche—an gefärbten Haaren war er offensichtlich nicht interessiert. Er maß die Länge der anderen beiden Zöpfe und legte sie auf eine kleine Waage.

Die Stimmung war angespannt und alle schauten erwartungsvoll zu Sergej. „65 Euro für beide", sagte er schließlich. Wir alle atmeten erleichtert auf und lächelten uns gegenseitig an, als würde jeder von uns hier an dem Geschäft teilhaben. Ruža erzählte mir, dass sie die Haare sammeln würde, die ihre Kunden zurücklassen. „Es ist immer gut, noch etwas nebenbei zu verdienen", sagte sie.

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Während wir auf die nächsten Kunden warteten und ein paar Bier tranken, begann Sergej dann endlich doch, mit mir zu reden.

Laut eigener Aussage kauft er Haare für „irgendeine ukrainische Firma" und verdient damit zwischen 400 und 850 Euro im Monat—nicht wirklich genug, um über die Runden zu kommen. In der Regel fährt er selber mit dem Auto nach Serbien und braucht dafür ungefähr zwei Tage.

Als Dragan ihm scherzhaft sagte, dass sein Präsident gerade in Belgrad gelandet sei, zog Sergej eine imaginäre Pistole, richtete sie auf Putins Kopf auf dem kleinen Fernsehbildschirm und „PENG!".

„Das ist nicht mein Präsident", sagte Dragan.

Die Leute, die dann den Laden betraten, bekamen viel weniger Geld für ihre Haare. Radojka, eine 83-jährige Großmutter, die den langen Weg hierher zu Fuß zurücklegen musste, da die öffentlichen Verkehrsmittel ja nicht fuhren, bekam nur 8 Euro und die alte Frau, die nach ihr kam, sogar nur 6 Euro—aber beide verließen den Laden zufrieden und mit einem Lächeln im Gesicht.

„In Serbien gibt es kein Geld. Die Menschen verkaufen dir alles, wenn sie nur können", sagte Sergej, während er Haare in einer Plastiktüte verstaute.

Wo die Haare hingehen und wofür sie verwendet werden, weiß Sergej nicht. Die Menschen, die hier heute ihre Haare verkauft hatten, sagten mir auch, dass ihnen das egal ist.

Nicht ganz so egal dürfte ihnen aber sein, dass in Belgrad—je nach Friseursalon—natürliches, unbehandeltes Menschenhaar, das länger als 40 cm ist, normalerweise für 200 Euro den Besitzer wechselt. Aus diesen Haaren werden dann später Perücken, Extensions und ähnliche Sachen gemacht. Außerhalb Serbiens und des Balkans sind Perücken und Extensions dann auch wesentlich mehr wert als ein paar Hundert Euro. Komischerweise hat Serbien aber in den letzten Jahren eine ganze Menge Menschenhaar importiert—das sagen jedenfalls die Zahlen der nationalen Statistikbehörde.

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Als ich gerade dabei war, herauszufinden warum Sergej seine Geschäfte nur mit ausgedruckten Aushängen bewirbt, betrat die 24-jährige Mina den Salon. Sergej bot ihr 35 Euro für den langen Zopf ihrer Mutter an, aber sie lehnte ab.

„Meine Mutter spart für eine Reise ins Ausland. Sie hat mich deswegen darum gebeten, ihre Haare zu verkaufen, aber der Typ hier spinnt doch. Ich war vorher bei einem anderen Friseursalon und die haben mir 60 Euro für den gleichen Zopf angeboten", sagte sie mir und wandte Sergej den Rücken zu.

Ich fragte Sergej, ob die Kunden ihn oft nach einem besseren Preis fragen. „Es gibt alle möglichen Menschen. Hier kommen nicht nur die alten Omis hin. Einmal war eine Go-Go-Tänzerin hier und wollte 1.000 Euro für ihre Haare haben. Die war total verrückt."

Igor

Eine halbe Stunde bevor Sergej dann beschloss, Feierabend zu machen, betrat der letzte Kunde den Laden. Igor hatte einen Pferdeschwanz dabei, den er, wie er berichtete, zehn Jahre lang getragen und gepflegt hatte. Als er ihn dann für gerade mal 8 Euro an Sergej verkaufte, fühlte ich mich schon ein wenig traurig.

„Nein, der Preis ist nicht OK, aber ich bin schließlich schon den langen Weg hierher gekommen—also warum nicht? Ich bin wie Samson—bis jetzt habe ich meine Kräfte für mich behalten. Jetzt aber, dachte ich mir, sollte ich sie an jemand anderen weitergeben. Ich hoffe nur, dass sie meine Haare nicht benutzen, um daraus Gift zu machen. In unserer heidnischen Kultur sind unsere Haare und unsere Fingernägel sehr wichtig—man muss sie gut behüten, denn wenn sie dir jemand nimmt, können sie für schwarze Magie verwendet werden. Aber eigentlich glaube ich nicht an den ganzen Kram", erzählte Igor.

Sergej schien nicht wirklich glücklich mit der Ausbeute des Tages. Putins Besuch und der Regen hatten dazu geführt, dass die meisten Belgrader lieber daheim geblieben waren. Er packte seinen halbleeren Sack zusammen und fing an, die Vorbereitungen für den nächsten Tag zu treffen. Er wollte noch mehr Städte entlang der serbischen Hauptverkehrsstraße besuchen—bis in den tiefen Süden des Landes. Dort haben die Menschen noch weniger Geld als in Belgrad.