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Popkultur

Bist du introvertiert, extrovertiert oder einfach nur unhöflich?

Man ist schnell in die Schubladen der intro- oder extrovertierten Menschen gesteckt. Gibt es diese Charakterzüge jedoch wirklich oder bilden wir sie uns bloß ein?

Ein introvertierter Mensch. Foto: Jake Lewis

2012 veröffentlichte Susan Cain ihr Buch Quiet, das zu einer Art Manifest für alle introvertierten Menschen dieser Welt geworden ist. Ihre Argumentationskette sieht folgendermaßen aus: Die westliche Kultur wird von großmäuligen Extrovertierten dominiert, während Introvertierte von der Gesellschaft nicht ausreichend geschätzt werden und die Menschheit deshalb das vorhandene Potenzial nicht voll ausschöpft. Da steckt jetzt zwar keine großartige Wissenschaft dahinter, aber man kann auch nicht wirklich etwas dagegen sagen … Schau dich doch einfach mal um.

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Seit der Veröffentlichung des Buches hat sich eine Art Internet-Community von introvertierten Menschen gebildet, die mit ihrem Zustand nicht hinter dem Berg halten. In ihrer halb Selbsthilfegruppe, halb Aktivistengemeinschaft haben diese Leute einen Haufen an Artikeln, Memes und Kommentaren hervorgebracht, in denen erklärt wird, was introvertierte Menschen sind, warum sie sich so verhalten und wie man mit ihnen umgehen sollte.

Oberflächlich betrachtet ist das Ganze schon irgendwie reizvoll. Im Internet findest du unzählige Fragebögen und Listen, mit denen du dich selbst testen kannst. Wenn ich das ausprobiere, dann lande ich geradewegs in der „Introvertiert"-Sparte. Ich bin gerne allein, ich gehe gerne lange in der Natur spazieren, ich bin nicht total wild auf Partys, ich ignoriere manchmal bewusst eingehende Anrufe, ich habe die Sitzreihe im Zug gerne für mich alleine, ich bin Autor, ich hasse Networking und ich bin ziemlich schlecht im Smalltalk. Die Vorstellung, dass ich einfach nur eine von vielen besonderen und wertvollen Blumen bin und ihr alle viel netter zu uns sein solltet, ist schon ziemlich verlockend.

Es gibt nur ein Problem: Viele meiner Bekannten ziehen jetzt gerade bestimmt verwundert die Augenbrauen hoch. Meine leidenden Kollegen und Chefs wissen genau, dass ich in Meetings kaum ein Blatt vor den Mund nehme. Ich habe schon auf großen Bühnen mit Politikern diskutiert und vor Hunderten Menschen gesprochen. Dazu sind es meine Freunde schon gewöhnt, dass ich in der Kneipe lautstark meine Meinung kundtue—wie ein angeblich richtig langweiliger Idiot eben. Falls ich wirklich eine introvertierte Person bin, dann mache ich meine Sache ziemlich schlecht.

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Bei diesen Multiple-Choice-Selbstdiagnose-Tests wird nicht bedacht, dass sich die Antworten je nach Situation ändern. Nehmen wir zum Beispiel mal diesen Fragebogen aus dem Guardian: „Ich bin gerne allein"—nun, das kommt auf meine Stimmung und auf den Menschen an, mit dem ich Zeit verbringen soll. „Ich unterhalte mich lieber mit einer einzelnen Person, als etwas in der Gruppe zu unternehmen"—auch hier kommt es darauf an. Geht es darum, mit meinen Kumpels Gokartfahren zu gehen, oder darum, mit spießigen Bankiers in einem spießigen Restaurant zu essen? Für solche Fragen gibt es keine eindeutige Antwort, denn diese Antwort ändert sich nunmal von Situation zu Situation.

Um dieses Problem zu umgehen, benutzen einige Psychologen inzwischen den Begriff „ambivertiert". Damit werden chamäleonartige Persönlichkeiten bezeichnet, die irgendwo in der Mitte liegen und für einen bestimmten Zeitraum in eine Richtung ausschlagen können. Damit macht man es sich ziemlich einfach. Zu einfach, um genau zu sein, denn wenn es darum geht, Menschen auf eine objektive Art und Weise einer Kategorie zuzuordnen, dann funktioniert das Ganze so nicht mehr.

Man kann bestenfalls jemandem ein paar Fragen stellen, die Antworten auf einer Skala einordnen und dann irgendwie festlegen, wo auf dieser Skala „normal" liegt.

Die Tatsache, dass viele dieser Tests von einem selbst durchgeführt werden, macht die Sache nicht gerade besser. Die große Mehrheit der Leute, die sich als intro- oder extrovertiert bezeichnen, wurden noch nie richtig untersucht. Sie stellen quasi ihre eigene Diagnose und es ist allgemein bekannt, dass man bei seinen eigenen Charakterzügen nicht immer ehrlich ist. Aber selbst wenn Psychologen mit einbezogen werden, kommen dabei so Dinge wie der lächerliche Myers-Briggs Typenindikator oder das Eysenck-Persönlichkeits-Inventar (EPI) heraus—ein 50 Jahre alter Persönlichkeitstest, der in der modernen Forschung als „logisch inkonsequent" angesehen wird.

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Wenn man sich dessen bewusst wird, dann ist es ziemlich offensichtlich, dass ein Großteil der Forschung im Bereich der intro- und extrovertierten Menschen auf ziemlich wackeligen Beinen steht. Diese Studie über die Fähigkeit von Introvertierten zur non-verbalen Kommunikation ist dafür ein gutes Beispiel: Das Ganze basiert auf einem dubiosen und veralteten Persönlichkeitstest (EPI) und die Probanden sind wenige Studenten—also nicht gerade repräsentativ.

Man argumentiert allerdings auch damit, dass die Wissenschaft hier gar keine so große Rolle spielt. Das Buch von Susan Cain war nie wirklich als wissenschaftliche Abhandlung gedacht, sondern eher als ein Manifest für einen bestimmten Typ Mensch—nämlich die Ruhigen, die ihr Herz nicht auf der Zunge tragen und deren Wünsche deswegen von der lauten Minderheit für gewöhnlich nicht berücksichtigt werden. Wenn man das Ganze so betrachtet, dann kann man es verstehen, wenn sich die Leute nach einer intelligenteren und rücksichtsvolleren Lebensweise sehnen.

Es gibt jedoch ein Problem: das Schubladendenken. Im Bezug auf die psychische Verfassung besitzen solche Schubladen extrem viel Macht. Das habe ich bereits in meiner Review zu Jon Ronsons Buch Die Psychopathen sind unter uns: Eine Reise zu den Schaltstellen der Macht geschrieben. „Manchmal ist das Schubladendenken richtig praktisch und gibt einem Sicherheit. Wenn man sich jedoch zu sehr in etwas verrennt, dann kann es passieren, dass du nicht mehr die Schublade definierst, sondern die Schublade dich.

Davon bekommt man einen guten Eindruck, wenn man sich die Online-Tipps zum Umgang mit introvertierten Menschen ansieht. In einem Comic aus 2013, der im Internet die Runde gemacht hat, findet man zum Beispiel folgende Hinweise: „Grüße sie, bleib freundlich und entspannt und zeige ihnen, dass du dir ihrer Anwesenheit bewusst bist und dich darüber freust. Für Introvertierte ist es sehr wichtig, sich wohl zu fühlen—sie werden ihre wertvolle Energie nicht für jemanden verschwenden, der sie gar nicht da haben will. Wenn du etwas Interessantes oder Wichtiges mitzuteilen hast, dann tu das. Versuche nicht, irgendwelches Getratsche zu erzwingen."

Die Leser werden also dazu aufgefordert, mit introvertierten Menschen wie mit verkümmerten und verletzlichen Gefühlskrüppeln umzugehen, die nichtmal dazu fähig sind, der Welt ihre Bedürfnisse auf die einfachste Art und Weise mitzuteilen. Die Introvertierten werden auf der anderen Seite durch den Comic dazu angehalten, genau diese Rolle zu erfüllen. Natürlich wollte der Zeichner damit bestimmt keinen ernsthaften psychologischen Ratschlag geben, aber die anderen Tipps und Ratgeber gehen in die gleiche Richtung und ich bin mir nicht sicher, wie fördernd das wirklich ist.