Die berauschende Vermischung von Wahrheit und Fiktion

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Die berauschende Vermischung von Wahrheit und Fiktion

Wir haben uns mit der Fotografin Cristina de Middel über ihre Sichtweise auf die Fotografie, über die heutige Presse und über den Zusammenhang von Favelas und Korallenriffen unterhalten.

Christina de Middel fing einst eine Ausbildung zur Fotojournalistin an, entschied sich dann jedoch dazu, diesen Beruf wieder sein zu lassen, um—in ihren eigenen Worten—mittels Fiktion den Weg zur Realität zu finden. Im Jahr 2013 verlieh ihr das International Center of Photography in New York den Infinity Award für ihr Buch The Afronauts, welches auf dem sambischen Raumfahrtprogramm aus den 60er Jahren basiert. Mit diesem Programm sollte der erste Afrikaner ins Weltall geschickt werden.

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Ich traf mich mit Cristina auf einen Kaffee. Eigentlich wollten wir dabei vor allem über bestimmte Fotoprojekte reden, aber letztendlich drehte sich unser Gespräch dann um ihre Sichtweise auf die Fotografie und um ihre Arbeit im Allgemeinen.

VICE: Wieso hast du deinen Job als Fotojournalistin wieder aufgegeben?
Cristina de Middel: Ich war enttäuscht und desillusioniert. Ich bin total leidenschaftlich und mir ist Folgendes klargeworden: Falls es überhaupt möglich ist, die Welt mit einem Foto zu verändern, dann erscheint dieses Foto garantiert nicht in einer Zeitung, sondern auf anderen Plattformen. Ich wollte nicht mehr bei der Presse arbeiten und zwar aufgrund dessen, wie sie inzwischen funktioniert. Deshalb habe ich dann ein paar andere Dinge und andere Herangehensweisen ausprobiert. Ich entdeckte dann das Fiktionsgenre für mich, weil ich das Gefühl hatte, dass die Realität die „wirkliche Realität" ziemlich oft einfach nicht ausreichend darstellt und erklärt. Und das finde ich interessant—die Leute unsere Welt verstehen lassen.

Als Fotojournalistin muss man gewisse Regeln beachten, aber für mich hatte mein Wunsch, dass die Leute eine Geschichte auf mehreren Ebenen verstehen und ich so eine Diskussionsgrundlage schaffe, einfach eine höhere Priorität. Tageszeitungen basieren komplett auf einer Meinung, die von den Verlegern, den Werbepartnern und den Politikern schon vorher festgelegt wurde. Für mich ist es jedoch wichtiger, dass die Leute alle Vorgänge und die darin involvierten Faktoren verstehen, damit sie sich ihre eigene Meinung zu einem bestimmten Thema bilden können.

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Gibt es beim Erschaffen deiner Werke bestimmte routinierte Abläufe?
Zu Trainingszwecken schaue ich viele Filme. Ein Grundstein meiner Arbeit ist der Versuch, die Realität nach meinen Wünschen zu verbiegen. Und das ist einfach viel typischer im Film- als im Fotografiebereich. Ich will damit jetzt nicht sagen, dass ich ein Einhorn brauche oder so. Aber wenn ich jetzt zum Beispiel fotografieren will, wie Leute auf der Straße tanzen, dann kann ich das auf zwei Wege erreichen: Entweder gehe ich das Ganze dokumentarisch an und warte darauf, bis ich zufällig einen tanzenden Menschen sehe—was locker mal eine halbe Ewigkeit dauern kann—, oder ich kann einfach jemanden anhalten und fragen: „Hey, würdest du genau hier mal schnell für mich tanzen?"

Was ist deiner Meinung nach der gemeinsame Nenner deiner Arbeiten?
Das ist wohl die Tatsache, dass meine Arbeiten eine direkte Kritik an der Presse und an den Medien sind. Also es handelt sich jetzt nicht um eine Kritik an den Medien im Allgemeinen, sondern eher daran, auf was die Dinge reduziert werden und wie die Welt so nach dem Motto „10 Artikel und 15 Bilder und schon hat man die Wahrheit" vereinfacht wird.

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Ich denke auch gerne über Klischees nach, die ja eine direkte Folge dieser Art von Journalismus sind. Afrika wird so zu Elefanten im Sonnenuntergang; Indien wird zu Blumenmärkten, Frauen mit Nasenringen und Leuten, die im Ganges baden; Deutschland wird zu biertrinkenden Menschen. Diese Reduzierung lässt weder Raum zur Analyse, noch zur Kritik, noch zur Überprüfung. Sie fördert die Bildung von Klischees.

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In gewisser Weise bist du allerdings immer noch im Bereich des Journalismus tätig …
Ja, irgendwie schon. Ich berichte eben. Als Fotojournalist sollte man von Künstlern lernen und sich aneignen, wie man Geschichten anders erzählt, wie man die Öffentlichkeit bildet und wie man Dinge besser erklärt. Es ist deine Verantwortung, dass die Leute verstehen, was wirklich passiert.

Künstler sollten sich aber genauso so viel wie möglich von der Welt des Fotojournalismus abschauen und verstehen, wie sich diese Menschen komplett der Realität verschrieben haben und die Welt, in der sie leben, aufzeichnen und erklären. Ich finde diesen Typ Journalist richtig schlimm, der nach Syrien reist, um dort Schwarz-Weiß-Fotos zu schießen, als sei er eine Art Konzeptkünstler, der sich für niemanden interessiert und den keiner versteht.

Woran arbeitest du zur Zeit?
Ich bin gerade aus Brasilien zurückgekehrt, wo ich an einem Projekt namens „Sharkification" arbeite. Dabei geht es um die Favelas und die Taktik der brasilianischen Regierung, diese Favelas mithilfe einer sogenannten Friedenspolizei (UPP) wieder unter Kontrolle zu bringen. Auf diesem Weg entsteht schon fast eine Militarisierung der Gemeinden, wo plötzlich jeder Mensch verdächtig ist. Das ist ein Problem.

Ich kenne mich mit dieser Situation gut aus und erschuf eine Metapher. Ich versuche, die dort herrschende Dynamik darzustellen und zu erklären. Ich verwende eine Unterwasserwelt als Vergleich: Man soll sich vorstellen, dass die Favelas ein Korallenriff sind und es dort Jäger, Fischschwärme und eine Art Fisch-Camouflage gibt. Ich will das Ganze als Lebensraum darzustellen, in dem sowohl große als auch kleine Fische zu sehen sind. Es soll außerdem klargemacht werden, dass nicht alle kleinen Fische sterben. Manchmal sterben auch die großen Fische. Ich will eine Favela einfach durch ein Modell erklären, das jeder versteht.

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