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The Fashion Issue 2012

Das Ende der Eleganz

Stefano Pilati, der ehemalige Kreativdirektor von Yves Saint Laurent erklärt, warum Mode vielleicht nie wieder modisch sein wird.

Fotos von Carlotta Manaigo Man kann wohl ohne Übertreibung sagen, dass Yves Saint Laurent der größte und sinnträchtigste Name in der Geschichte der Mode ist. Und Stefano Pilati, seit einem Jahrzehnt und bis Ende Februar 2012 Kreativdirektor des Unternehmens, hat mit seinem analytischen Blick für Design und seinen freimütigen Äußerungen über den Stellenwert der Mode in der zeitgenössischen Kultur noch einmal eine ganz neue Ära geprägt. Bevor er bei YSL das Steuer übernahm, arbeitete Stefano eng mit Tom Ford und Miuccia Prada zusammen, den vielleicht innovativsten Köpfen der italienischen Modewelt der letzten 20 Jahre. Die Tatsache, dass Stefano nach dem Weggang von Tom Ford der geeignetste Kandidat war, um das milliardenschwere Modehaus zu übernehmen, bedeutet nicht, dass er bei diesem Prozess nicht einer Menge Leute auf den Schlips getreten ist. Und obwohl man sich schnell in prätentiösem Unsinn verrennen kann, wenn man über die Macher und Macherinnen der Modebranche schreibt oder sie interviewt, ist für jemanden wie mich, der Mode lebt wie andere Leute Musik oder Kunst, Stefano so unprätentiös wie es nur geht. Während seiner Zeit ist es ihm gelungen, YSL als rentables Unternehmen weiterzuführen und gleichzeitig die einst von seinem Mentor und Meister Yves—einem psychotischen Genie, das mit seinem Wahnsinn eine neue Art von Kommunikation schuf—gehisste Flagge der Eleganz und Extravaganz hochzuhalten. Aber die Zeiten ändern sich auch für Modeschöpfer, und in harten Zeiten will gut überlegt sein, welche Kämpfe es sich auszutragen lohnt. Wie Kim Jong-il zu sagen pflegte: „Wer Angst vor der Herausforderung hat, wird nie ein guter Revolutionär sein.“ Stefano ist zweifelsohne eine revolutionäre Figur und schreckt vor keiner Provokation zurück—ob er nun selbst Kontroversen aufwirft oder sich zurücklehnt, während Mode-Blogger über ihn ablästern. Das folgende Interview habe ich mit Stefano über Skype geführt, bevor bekannt wurde, das er YSL verlassen wird. Er saß wie aus dem Ei gepellt in seinem Pariser Büro, während ich mich auf meinem Bett herumflezte wie auf einem Nan-Goldin-Foto. VICE: Die Vision, die du bei Yves Saint Laurent eingebracht hast, unterscheidet sich erheblich—manche würden sagen, sie ist verwegener und perverser—von der deines Vorgängers Tom Ford. Gab es Leute aus der Modebranche, denen deine Ideen nicht gefallen haben und deren Widerstand du überwinden musstest?
Stefano Pilati: Natürlich! Ich hatte mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen und habe es mitunter immer noch. Mein Weg war immer aufrichtig, respektvoll und professionell, basierend auf der YSL zugrunde liegenden Idee von Eleganz. Zwar sind einige der Entscheidungen, die ich bei meinen Kollektionen treffe, letztendlich wirtschaftlich motiviert, aber ich finde, man kann sie dennoch als glamouröse Entscheidungen bezeichnen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Firma, als ich damals anfing, viel Geld verloren hat—75 Millionen Euro pro Jahr. Ich habe nicht bei null angefangen, ich habe mit minus 75 Millionen angefangen. Ich musste einen Mittelweg finden. Ich sollte innovativ sein, aber die Traditionen des Maison respektieren und dabei gleichzeitig kommerziell und marktfähig sein. Die Leute erwarteten ein Feuerwerk, was sie nicht bekamen. Ich musste erst einmal ein Fundament schaffen. Wäre es angemessen zu sagen, dass dein Einfluss subtil, aber signifikant war?
Ja, ich habe eine neue Linie kreiert. 2004 liefen alle mit Hüfthosen und -röcken herum. Es war ekelhaft! Du gingst die Straße entlang und sahst überall fette Ärsche in tief geschnittenen Jeans. Da dachte ich mir: „Vielleicht muss man sich das ja nicht länger ansehen.“ Damals setzte ich die Taille höher und schnürte sie mit Gürteln enger und so weiter. Und trotz der anfänglichen Kritik habe ich letztendlich Lorbeeren dafür geerntet. Mit welchen Schwierigkeiten wurdest du konfrontiert, als du bei YSL anfingst?
Weißt du, YSL ist—wenn du mich fragst unglücklicherweise—in den Köpfen der Leute bereits ganz klar definiert. Fast jeder hat eine Meinung dazu. Machst du Röcke mit Volants, wollen sie Capes; machst du Capes, wollen sie Smokings; machst du Smokings, wollen sie es mehr 70er-Jahre-mäßig; machst du auf 60er Jahre, heißt es, nein, du hättest die 80er nehmen sollen. Meine größte Herausforderung bestand darin, diesen ganzen Mist beiseite zu räumen. Wenn ich ein Kleidungsstück kreiere, denke ich an das heutige Leben—seine Dynamik, die Rolle der Frau in der Gesellschaft und ihr Verhalten in bestimmten Situationen. Ich spreche von Frauen, die in unserer Gesellschaft Führungsrollen übernehmen, nicht nur von den Big-Spender-Gattinnen oder Geliebten, die ihre Tage damit verbringen, von ihren reichen Liebhabern gevögelt zu werden. Ich versuche, die ganze Gesellschaft in meine Kreationen einzubeziehen. Das ist die größte Herausforderung. Saint Laurent ist die wahrscheinlich komplexeste Marke des Modesystems. Schließlich hat man es mit der Fantasie der Leute zu tun hat, und die ist unendlich, so unendlich wie Yves’ Werk war. Er war vielleicht der produktivste Modeschöpfer in der Geschichte der Mode. Von den 60ern bis in die 80er Jahre—ich rede von der Geburtsstunde des Prêt-à-porter—als er am aktivsten war und die Modeindustrie das nächste Level erreichte. Der Inbegriff von Frauen und Glamour, zumindest im kulturellen Mainstream, ist vielleicht das Outfit für den roten Teppich. Aber uns fehlt es an Ikonen der Eleganz; wir haben keine Grace Kelly. Gibt es heutzutage Frauen, die ein Beispiel für Eleganz sind?
In meiner Vorstellung—und das bezieht sich auf Frauen wie auf Männer—ist jemand dann elegant, wenn er oder sie ein gutes Verständnis dafür zeigt, was zu ihm oder ihr passt, wenn man auf Natürlichkeit und Selbstwert trifft. Nicht auf Aufschneider. Eleganz heißt, ein optimistisches Bild von sich selbst zu zeigen und sich in der Frivolität von Style und Fashion verlieren zu können. Heutzutage ist es doch eh allen egal, ob sie elegant oder chic sind. Wenn man es macht, dann für sich selbst, weil man so ist. Wenn man nicht denkt, das ist Mode, und keine Klamotten kauft, um ein Statement abzugeben, ist man auf dem richtigen Weg. Wenn die Mode tief geschnitten ist und du einen dicken Hintern hast, vergiss es einfach, zieh keine engen Jeans an. Sie werden an dir fürchterlich aussehen. Du solltest Schwarz tragen; das wäre besser. Nein, mal im Ernst. Es ist nicht einfach, elegante Frauen zu finden. Es gibt ein paar wenige, und die meisten davon sind alt—und es gibt auf der Welt eine oder vielleicht zwei, die einen neuen Stil kreiert haben, als sie jung waren. Ein Teil der Kunst, mit der Stefano sich umgibt, und die ihn, so versichert er, im Grunde kaum inspiriert Gibt es bestimmte Künstler oder kreative Köpfe, von denen du dich inspirieren lässt?
So bin ich nicht. Ich bin ein Kulturautodidakt, ich lerne durch Neugier. Ich bin in den 80ern aufgewachsen, für mich waren Künstler wie Cy Twombly und Hermann Nitsch Kult und … es gibt da eine ganze Menge mehr. Aber es ist mir noch nie passiert, dass ich einen Kunstband durchgeblättert und mir gedacht habe: „Jetzt mache ich eine von Rothko inspirierte Kollektion.“ Manchmal reizt mich irgendein Meister, der in seinem Werk eine allgemeine ästhetische Bedeutung festgeschrieben hat, die mich inspiriert. Du musst bedenken, dass ich in einer äußerst inspirierenden Umgebung arbeite. Unsere Archive sind der Wahnsinn. Yves hat viele verschiedene Werke geschaffen. Er machte Mondrian-Kleider, Picasso-Jacken etc. Hat die Vorstellung von Mode als Teil der Gegenwartskultur—neben Kunst und Musik—noch Gültigkeit? Oder hat der Markt die Realität und Wahrnehmung dessen, was modisch ist, zu einer Art Abstraktion gemacht?
Mode ist nicht mehr Mode. Da bin ich mir sicher, aber niemand merkt es, weil die Welt voller Romantiker wie mir ist—voller Leute, die weiterhin daran glauben. „Modisch“ kann heute alles bedeuten. Vor einiger Zeit war all das noch elitärer, was es ihr ermöglichte, erstrebenswerter und richtungsweisender zu sein, was wiederum andere inspiriert hat. Sie hat womöglich sogar andere „belehrt“—um einen furchtbaren Begriff zu verwenden. Was kann man anderen heute noch beibringen? Das andere Problem ist, dass Mode als System sehr inselartig und introvertiert ist. Wir recyclen andauernd die gleichen Konzepte und präsentieren sie auf die immer gleiche Art. Sobald du anfängst, Videos zu machen oder dich vom Laufsteg wegzubewegen, haben die meisten Journalisten keinen Schimmer mehr, was du da tust, weil ihnen die Zeit, die Bereitschaft oder die Kultur fehlt, um wirklich mal etwas Neues zu verstehen. Man wird dich missverstehen, und dir bleibt keine andere Wahl, als wieder die Dinge zu machen, die eine für alle verständliche Sprache sprechen. In den 1960er Jahren hat Yves Saint Laurent Street Fashion auf den Laufsteg gebracht und dann Prêt-à-porter kreiert. Mir fallen nicht viele Modeschöpfer ein, die in den letzten 20 Jahren die Jugendkultur in ihrer Arbeit so kristallisiert haben wie er. Vielleicht noch Raf Simons oder Junya Watanabe. Ist die Beziehung zwischen High Fashion und Streetwear offiziell vorbei?
Die wirkliche Frage ist doch: Was kann man aus Streetwear rausholen? Alle Mädchen tragen Miniröcke, Leggings und Lederjacken. Das haben wir alles schon gesehen. Streetwear hat mir noch nie was gebracht. Überleg mal: Yves Saint Laurent war einer der ersten Modeschöpfer, der Vintage wiederaufgelegt hat. Er hat früher die ersten Flohmärkte in London nach Klamotten aus den 1930er Jahren durchkämmt. So hat er den Damen-Smoking erfunden. Er hat eine Herrensmokingjacke gekauft und sie einer seiner Musen angezogen. So haben die meisten seiner Innovationen begonnen. Ich persönlich sehe meine Arbeit als Kunsthandwerk. In der Hinsicht bin ich sehr egozentrisch. Ich mache Mode, um mich selbst zu verwirklichen, weil ich das nur so kann. Glaubst du, Mode wird missverstanden, weil die Leute, die sie kreieren, eine andere Sprache sprechen als die, die sie konsumieren und analysieren?
Wenn Leute unser Geschäft betreten, erwarten sie Kaschmir, Seidenkrawatten, Hemden aus Crêpe de Chine, Krokodillederschuhe. Natürlich machen wir die, aber das ist, als würde ich mir selbst in die Eier treten. Ich habe 800 Kaschmirmäntel und 900 Seidenkrawatten. Was ich damit sagen will, ist, deine Arbeit darf nicht nur ein Egotrip sein. Du arbeitest für eine Marke, nicht für deine Marke. Du musst dich anpassen. Ich lass mich gern auch mal von Ideen treiben, aber der Rest des Unternehmens muss auch mit an Bord sein, und du musst dich auch mit den Schwachköpfen auseinandersetzen, die einfach nur Geschäftsleute sind—diejenigen, die die Mode ruiniert haben, die Leute, die von Danone zu YSL gehen, als wäre das die natürlichste Entwicklung der Welt. In den 1970ern, in seiner Blütezeit, hatte Yves Saint Laurent ein sehr aufregendes Leben, oder zumindest schien es von außen so: Drogen, Stricher etc. Meinst du, in der heutigen Modewelt könnte sich ein Designer so ein Verhalten noch leisten?
Ich glaube nicht, denn heute ist das ein richtiger Bürojob. Ich arbeite eigentlich 24 Stunden am Tag. Ich muss alle zwei Monate eine Kollektion abliefern. Du musst fit sein, eher ein Athlet sein als ein Rockstar. Vielleicht haust du mal für zehn Tage ab und machst Party, und danach brauchst du dann zehn Tage, um dich davon zu erholen und hoffst, dass es keiner merkt. Exzesse musst du heutzutage privat ausleben. Aber du kennst ja meine Vergangenheit und weißt, dass ich früher oft high war. Als ich richtig drauf war, noch bei Prada, kam so ein Typ und sagte: „Na ja, David Bowie hat seine besten Platten gemacht, als er drauf war.“ Da hatte ich womöglich das letzte Mal das Gefühl, dass das, was ich tat, irgendwie akzeptiert wurde. Heute ist so was schier unmöglich. Ohne zu sehr ans Eingemachte gehen zu wollen, aber John [Galliano] hat dieser Möglichkeit quasi ein Ende gesetzt. Sein Verhalten mag damals unentschuldbar gewesen sein, aber ich bin immer noch schockiert darüber, dass Galliano bei Dior rausgeschmissen wurde. Seine Couture-Shows gehörten zu den besten und einprägsamsten, die ich je gesehen habe.
Absolut. Ich finde, es war eine tragische Geschichte, sowohl für ihn als auch für das Maison. Es ist doch so, um auf das zurückzukommen, was ich eben über den Exzess gesagt habe: Wir dürfen nicht vergessen, dass wir keine reinen Kreateure sind mit reichen Liebhabern, die unsere Arbeit finanzieren und uns ans Händchen nehmen, während wir tun und lassen können, was wir wollen. Wir arbeiten für große Unternehmen mit Hunderten von Angestellten, die um zwei Uhr morgens mit der U-Bahn nach Hause fahren, nicht mit einem Chauffeur. Es gibt ganze Fabriken mit Leuten, die unseren Kram herstellen, und irgendwie gibt es da ein öffentliches Mediensystem, das uns ins Zentrum des Ganzen stellt, ein System, für das wir das Gesicht eines kompletten Unternehmens sind. Du musst dich mit deiner Verantwortung und deinen Entscheidungen arrangieren. Wenn du dein eigenes Ding am Laufen hast, kannst du das machen, aber dann kannst du nicht erwarten, neben Charlize Theron vor Millionen von Menschen zu stehen. Wenn du aber auf dieser Bühne neben Charlize Theron stehst, musst du in der Lage sein, aufzustehen und dich eloquent zu äußern. Scheiße, wenn du nicht mal normal reden kannst und dann auch noch zwei Stunden zu spät völlig zugedröhnt ankommst, nur um zwei Glas Rotwein später wieder zu verschwinden, wäre es vielleicht besser, ganz zu Hause zu bleiben. Wir müssen kapieren, dass die Menschen für uns da sind. Unsere Kreationen haben Macht, und wir haben Macht, die wir auf andere übertragen. Die Leute wollen dir diese Macht übertragen, und in dem Moment, in dem sie das tun, erwarten sie, vor sich eine Person zu sehen, die das zumindest zu schätzen weiß. Siehst du dich im Bezug auf dein gesellschaftliches Leben eher als Scott-Walker- oder eher als Truman-Capote-Typ?
Ich mag keine Schmeicheleien. Die sind mir so was von egal. Vielleicht bin ich so extrem egozentrisch, dass es mir einfach egal ist, was andere denken. Wenn ich etwas mache, was mir gefällt, dann hat das für mich auch eine Berechtigung. In den ersten paar Jahren als ich diese Stellung hatte, muss ich zugeben, dass ich, wenn ich gemeinsam mit Kathryn Bigelow und Richard Gere den Aufzug zu Mick Jaggers Wohnung genommen habe, mir später zu Hause erst mal eine Ohrfeige geben musste, um sicher zu sein, dass das auch wirklich ich war. Natürlich fasziniert mich diese Art von gesellschaftlichem Leben, aber lieber noch bleibe ich zu Hause, entspanne mich, sehe fern oder verbringe Zeit mit meinem Partner. Davon abgesehen arbeite ich wie ein Tier, und wenn ich nach Hause komme, bin ich meistens so durch, dass ich kaum noch was auf die Reihe kriege. Im Moment gehe ich nur zu meinen eigenen Eröffnungsshows und manchmal sonntags mit Freunden eine Pizza essen. Ich hab keine großen Beziehungen zur High Society. Aber ich liebe diese Erfahrung, und ich liebe meinen Job. Ich bin dankbarer für den Lifestyle, den der Job mir ermöglicht, als für den Ruhm und die Anerkennung. Wenn ich die Straße entlanggehe und mich jemand erkennt und nach einem Autogramm fragt … na, dann wundere ich mich. Dann frage ich mich: „Was habe ich getan? Ich meine, wollen Sie wirklich mein Autogramm? Ich bin Designer.“ Aber klar, ich verstehe das auch—du bist jemand, der die Träume der Menschen nährt, du lebst umgeben von Schönheit, und in diesem Kontext sieht man auch dich als eine privilegierte Person. Bedauerlicherweise wird die Person des „Modeschöpfers“ immer noch vergöttert.