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Der alte Mann und das Sexkino

Passaus PAM-Kino ist das verdorbene Herz der Stadt.

Als ich ein kleiner Junge war, machten wir jeden Samstag einen Familienausflug. Meistens in die nächstgrößere Stadt Passau. Meine Mutter ging shoppen, mein Vater langweilte sich und wir Kinder freuten uns darauf, nach Mamas Einkaufstour auf den großen Spielplatz am Innufer zu dürfen. 
Anders als meine Geschwister bezog sich meine Vorfreude eher weniger auf den großen Kletterpark. Für mich war vielmehr der Weg dorthin das Ziel: Wer in Passau von der Fußgängerzone aus über die Theresienstraße zum Inn marschiert, kommt unweigerlich am PAM-Kino vorbei. Schon damals, Mitte der 90er, sah man der Fassade des kleinen Pornokinos die Jahre an, die es auf dem Buckel hatte. Das Schimpfen meiner Mutter ignorierend, presste ich jedes Mal, wenn wir daran vorbeikamen, mein Gesicht an das schmutzige Schaufensterglas, um einen Blick auf die Poster zu erhaschen, auf denen sich dauergewellte Sexamazonen in Spitzenbodys rekelten und eingeölte David­Hasselhoff-Doubles ihre aufgepumpten, nackten Oberkörper präsentierten. Das PAM strahlte eine gewisse Aura aus, die alles andere als subtil war. Es war ein dreckiger Ort. Ein Ort der Lust. Ein verbotener Ort. Vermutlich war es diese Mischung, die mich so sehr daran faszinierte. Damals als kleiner Junge schwor ich mir, das Mysterium des PAM-Kinos auf eigene Faust zu ergründen, sobald ich groß genug sein würde, um hineinzugehen.
Letzte Woche setzte ich meinen in Kindertagen gefassten Plan in die Tat um.

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Es ist Montagnachmittag, halb drei und das alte Sexkino sieht von außen noch genau so aus wie in meiner Erinnerung. Hinter dem staubigen Schaufenster hängen exakt die gleichen (oder vielleicht sogar dieselben) Poster wie damals und auch das Layout des Programmzettels, der mir verrät, dass heute um 15:00 Uhr ein „Gay-Video“ gezeigt wird, hatte sich nicht verändert.

Erich Siebzehnrübl, Gründer und Besitzer des PAMs erwartet mich bereits und begrüßt mich mit einem lautstarken „Grüß Gott!“
Vorsichtig folge ich dem kleinen, alten Mann in sein Reich: rosafarbene Wände, die mit den Inlays und Hüllen alter Porno-VHS zugepflastert sind, ein brauner, durchgetretener Teppichfußboden und eine Art Kassenhäuschen, ebenfalls mit Kassettenhüllen und rosa Stoffgirlanden dekoriert. Noch bin ich der einzige Besucher für heute.  
Der Raum, in dem die Filme gezeigt werden, ist nur durch einen Vorhang vom Foyer getrennt. Herr Siebzehnrübl führt mich daran vorbei, in den Raum hinter dem Kassentresen, der gleichzeitig auch sein Büro ist. „Ich führe dieses Kino schon seit 36 Jahren“, sagt er zu mir.

Erich Siebzehnrübl ist 82 Jahre alt und Kinos spielten zeit seines Lebens eine wichtige Rolle für ihn. Mit 17 fing er als Platzanweiser und Kartenabreißer in einem alten Passauer Lichtspielhaus an. Im Laufe der Jahre jobbte er neben seinem eigentlichen Beruf als Postbote in mehreren Mainstreamkinos, bevor ihm im Jahr 1973 die Idee zu einem Erotikkino kam. Sein erstes PAM-Kino eröffnete er auf der anderen Seite des Inns in der Passauer Löwengrube. „Ja, das war in der Innstadt, da hatte ich 35 Plätze. Das Geschäft hat gebrummt.“

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Um zehn vor drei springt Herr Siebzehnrübl zum ersten Mal hechelnd vom Stuhl auf, beugt sich durch das kleine Verkaufsfenster und ruft: „Grüß Gott! Wegen Überfüllung geschlossen!“ Die Plexiglasscheibe hängt so niedrig, dass ich den Neuankömmling nicht sehen kann. Aber hören. „Haben Sie auf?“ Die Stimme klingt schüchtern und irgendwie ängstlich, mit schwachem Akzent. Herr Siebzehnrübl lacht und reist ihm ein Ticket ab. „Aber warte noch mit dem Reingehen, fängt erst in zehn Minuten an. Heute läuft ein Männerfilm, das weißt du, oder? Ein Männerfilm läuft jetzt. Na gut, setz dich rein, aber dauert noch 10 Minuten.“ Nachdem er sich wieder hingesetzt hat, erklärt er mir, dass das Kino für ihn schon immer die größte Freude gewesen sei. „Und ist es noch! Selbst jetzt, wo ich 50 bin“, fügt er scherzend hinzu. Er mache das Ganze nicht wegen des Geldes. Wenn niemand kommt, kommt halt niemand. „Ich hab ja meine Rente.“

Obwohl Passau eine Bistumsstadt ist, habe er nie Probleme mit den Behörden gekriegt. Er sei immer vorsichtig gewesen. Unter 18 darf niemand rein und auch die Bilder im Schaufenster zeigen keine wirklich anstößigen Sachen. Während unseres Gesprächs reißt Erich noch für zwei weitere Besucher Tickets von der Rolle. Um Punkt 15:00 Uhr ist es an der Zeit, den Film zu starten. Ich folge dem scheinbar vor Anstrengung hechelnden, alten Mann in den ca. 15 Quadratmeter großen Vorführraum. In der hinteren der beiden Sitzreihen hat es sich Herrn Siebzehnrübls heutiges Publikum gemütlich gemacht. Es sind drei Männer: Ein unscheinbarer Mittfünfziger mit Brille, ein haarloser, übergewichtiger Rentner, der in etwa so alt wie Herr Siebzehnrübl sein dürfte und, etwas abseits von den anderen beiden, ein junger Südländer, dem Anschein nach Mitte zwanzig. Sie erschrecken leicht, als sie die Kamera in meiner Hand sehen, aber ich verspreche, keine Fotos von ihnen zu machen.
Herr Siebzehnrübl nimmt eine der überall herumliegenden DVDs, legt sie ein und kurze Zeit später beginnt der Vorspann des heutigen Hardcorestreifens, über den Bildschirm des uralten Röhrenfernsehers zu flimmern—die Leinwand ist schon seit fünf Jahren nicht mehr in Gebrauch.

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Anschließend gehen wir wieder zurück in sein Büro und ich frage ihn, ob er früher mehr Besucher hatte. „Ja um einiges.“ Erst als 1991 in Passau die Beate-Uhse-Filiale eröffnete, sei es weniger geworden. Das Internet sähe er nicht als Konkurrenz. Er selbst hat ja auch gar kein Internet.
Extreme Filme wie Kaviargeschichten oder snuffartige Filme bekommt man im PAM nicht zu sehen. Nur „normale Sexfilme“ und natürlich „Männerfilme“, so wie heute, denn heute ist Montag und Montag- und Freitagnachmittag zeige er immer „Männerfilme“.
Die Frage, ob er sich auch manchmal selbst einen der Filme ansehe, verneint er vehement. „Überhaupt nicht! Noch nie hab ich mir so einen angeschaut!“

Als ich ihn nach der Bedeutung des Wortes PAM frage, sagt er: „Das habe ich aus München. Ich bin damals immer nach München gefahren und da habe ich diese Reklametafel über einem Erotikkino gesehen. Dann habe ich meins einfach auch so genannt. PAM-Kino.“ Er spricht es aus wie in Pampelmuse. Was PAM bedeutet, weiß er nicht. „Sexkino“, sagt er.

Er war lange verheiratet. Bis zu ihrem Tod hat ihn seine Frau Hedwig oft an der Kinokasse vertreten, wenn er krank war oder wenn er bei der Post die Nachmittagsschicht hatte. Hedwig Siebzehnrübl starb mit 59 Jahren an den Folgen eines Gehirntumors. Der freundliche alte Mann verlor mit ihr das Liebste, was er jemals besessen hatte. „Das Schlimmste für mich war, als ich sie zum letzten Mal im Krankenhaus besuchte. Da hat sie sich aufgesetzt, mir ihre Hand hingehalten und gesagt: ‚Pfiat‘ di, Erich.’ Wenn mein Bub nicht gewesen wäre, würde ich heute nicht mehr leben.“
Dann wird er ganz still und die schwarzen Knopfaugen werden glasig.
Aus dem Vorführraum dringt das monotone Stöhnen der Pornodarsteller, das sich mittlerweile mit dem nicht ganz so monotonen Stöhnen der Besucher vermischt hat.
Ein besonders genussvolles Grunzen, gefolgt von lautem Rascheln und Poltern ertönt und Herr Siebzehnrübl erwacht aus seiner Starre. „Da geht wohl wieder einer früher nach Hause.“

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Ob er weiß, was da drinnen vor sich geht? Er schweigt und schaut mich fragend an. Ich versuche es anders, frage ihn, wieso die Leute nach wie vor zu ihm ins Kino kommen, obwohl sie sich die Pornos auch genauso gut zu Hause ansehen könnten.
Sein Kino sei so etwas wie die Stammkneipe seiner Kunden, meint er. „Die Leute fühlen sich wohl bei mir. Sie schauen sich einen Film an und danach gehen sie gemeinsam aus. Zu essen und zu trinken gibt’s bei mir auch. Früher, da war das im Ticket inbegriffen. Da hab ich sieben Euro verlangt und es gab zum Ticket ein Bier dazu. Ganz am Anfang war das ja auch Pflicht.“

Er meint damit ein altes Gesetz aus den 70ern: Kinobetrieben war die Vorführung pornografischer Filme als Hauptzweck untersagt. Deshalb liefen die Kinos unter dem Deckmantel lizenzierter Schankbetriebe. Der Eintrittspreis lag bei 10 bis 12 DM, womit man offiziell ein Getränk kaufte. Das stellte sicher, dass der Gewinn überwiegend in der Gastronomie gemacht wurde und nicht aus der Vorführung der Filme stammte.Daher laut einiger weniger Quellen auch der Name PAM. PUB AND MOVIES.

Dem alten Credo „quid pro quo“ folgend, behalte ich die vermeintliche Bedeutung für mich. Schließlich will er mir auch nicht sagen, was gerade im Dunkel des Vorführraums geschieht. Vielleicht weiß er es aber auch tatsächlich nicht, ignoriert es oder blendet es aus. Ich beschließe, mir selbst ein Bild zu machen und frage ihn, ob ich mich in die Vorstellung setzen dürfte. Ich darf.

Mein Herz pocht vor Aufregung, als ich vor dem roten Vorhang stehe. Aufzugmusik und Geräusche aneinander klatschender Oberschenkel dringen aus dem Inneren. Bevor ich es mir anders überlegen kann, nehme ich all meinen Mut zusammen und gehe hinein. Beschienen vom fahlen Licht des Fernsehers, sehe ich zuerst den Alten. Die Hose hängt ihm in den Kniekehlen und er steht da, als würde er gerade auf den Kinositz scheißen. Den bebrillten Mittfünfziger, der es ihm von hinten besorgt, erkenne ich erst auf den zweiten Blick.
Der junge Mann sitzt immer noch komplett angezogen in seiner Ecke und wirft mir einen hoffnungsvollen Blick zu. Ich will so nah wie möglich beim Ausgang bleiben und setze mich auf den ersten Platz der vorderen Sitzreihe—direkt vor die beiden kopulierenden alten Männer. Auf dem Bildschirm versorgen sich zwei dunkelhaarige Jungs in 69.
Eine schrumplige Hand greift nach der Lehne rechts von mir und neben meinem Gesicht erscheint der haarlose Kopf des Alten, zieht sich wieder zurück, nur um im nächsten Moment erneut aufzutauchen. Aus dem Augenwinkel heraus beobachte ich ihm beim Vor- und Zurückwippen, solange bis er mein Starren bemerkt und seine kleinen Schweinsäuglein mir aufmunternd zuzwinkern. Hastig wende ich mich wieder dem Geschehen auf dem Bildschirm zu, wo gerade ein dritter Darsteller hinzustößt. Er sagt etwas auf Italienisch und beginnt, einem der beiden Anderen den Arsch zu lecken.
Ich bemerke, dass der Junge mich von seiner Ecke aus immer noch fixiert. Ein schüchternes Lächeln huscht über sein Gesicht. Ich habe Mitleid mit ihm. Er ist nicht hässlich und die Tatsache, dass er an einem Ort wie diesem nach Befriedigung sucht, lässt auf ein riesiges Problem mit seiner eigenen Sexualität schließen. Aber er scheint auch nicht alle Prinzipien über Bord geworfen zu haben: Die beiden vögelnden Halbleichen scheinen ihn ebenso anzuwidern wie mich.
Als das rhythmisch Klatschen hinter mir verstummt und von einer Mischung aus Saug- und Würggeräuschen abgelöst wird, beschließe ich, genug gesehen und gehört zu haben.

Erich Siebzehnrübl erwartet mich auf der Straße vorm Eingang des PAM-Kinos, die Hände in den Taschen seiner dunkelblauen Trainingsjacke. Ich bedanke mich bei ihm dafür, dass er sich für mich Zeit genommen und mir seine Geschichte erzählt hat. Wie lange er das PAM-Kino noch betreiben will, frage ich ihn noch, bevor ich mich auf den Weg nach Hause mache, wo ich vorhabe, den restlichen Tag damit zu verbringen, mein angeschlagenes Weltbild durch den exzessiven Konsum mehrerer Disney-Filme wieder ins Reine zu bringen.
Herrn Siebzehnrübls Augen blitzen und ich erwarte wieder einen der Witze, die er permanent reist. Aber seine Stimme bleibt ernst, als er mir antwortet. „Bis am Eingang ein Zettel hängt, auf dem ‚Wegen Tod geschlossen’ steht!“