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Der VICE-Guide zur Kritischen Theorie

Wie Du auch als fauler und durchschnittlich intelligenter Mensch schnell komplizierte Gedanken simulieren kannst.

Illustrationen von Jenny Hirons

Solltest du dich entschließen, ein kunst- oder geisteswissenschaftliches Studium zu absolvieren, wirst du Texte von postmodernen, neo-marxistischen und sozialkritischen Wissenschaftlern lesen müssen, die deinen Kopf schmerzen und deinen Körper nach Pornos lechzen lassen. Diese Autoren sind auch als Vertreter der Kritischen Theorie bekannt.

Vielleicht denkst du jetzt: Ich werde einfach die Artikel auf Wikipedia lesen. In diesem Fall kann ich nur sagen: Das ist eine gute Entscheidung. Es gibt tatsächlich kaum einen Grund, diese Bücher zu lesen, geschweige denn, sich mit den entsprechenden Theorien auseinanderzusetzen. Weiterbildung ist heute billig (wenn auch leider nicht im wörtlichen Sinne) und du musst nicht sonderlich intelligent sein, um einen geisteswissenschaftlichen Abschluss an einer vernünftigen Uni zu machen.

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Wenn du allerdings mehr Arbeit investieren willst, als von dir verlangt wird: Warum nicht ein paar schwer verständlich Texte lesen, die wahrscheinlich völlig bedeutungslos sind? Denn um nichts anderes geht es beim Studieren ja letztlich. Ein Jahr nach der Uni hast du keine Ahnung mehr, was sie bedeutet haben, aber du wirst ein besseres, instinktives (d.h. angelesenes) Verständnis der Gesellschaft haben und einmal sagen können: „Ich habe Roland Barthes gelesen und irgendwie auch fast verstanden, was er meint."

Im Hinblick auf die anspruchsvolle Bibliothek könnte es, wie mit fast allem Universitären, das Beste sein, dich mit Feuer und Flamme mit diesen Ideen auseinanderzusetzen—damit du später mit hochgezogenen Brauen darauf zurückzublicken kannst. „Oh, das waren noch Zeiten", kannst du schmunzeln, wenn du in 40 Jahren auf Jay Prossers längst vergessenes Buch Second Skins: The Body Narratives of Transsexuality stößt.

Bis dahin seien hier einige der Leute und Situationen aufgelistet, die dir auf der Reise durch den logischen Urwald der Kritischen Theorie begegnen werden.

Elaine Scarry

Die liebe Elaine übt von ihrem Thron in Harvard jede Menge Einfluss auf die Welt aus. Scarrys große Leistung ist ein Buch namens Der Körper im Schmerz, in dem es um verschiedene Arten des Schmerzes geht und um die Frage, wie Schmerzen zugefügt werden. Der springende Punkt dabei ist die Einsicht, dass es schlecht ist, jemandem weh zu tun, und gut, etwas zu erschaffen (es sei denn, es ist schmerzhaft). Indem du etwas erschaffst, „erzeugst" du die Welt, wenn du jemandem Schmerzen zufügst, „vernichtest" zu sie. Wenn du jemanden also erbarmungslos folterst, hilfst du der Welt nicht weiter. Wenn du hingegen ein Buch darüber schreibst, warum Leute andere Leute erbarmungslos foltern, hilfst du ihr auf jeden Fall weiter. Scarry ist eine der größten biblischen Analogien zu verdanken, die du jemals lesen wirst. Sie vergleicht die Schöpfung Gottes mit dem Bau eines Tisches, der eigenständig denken kann und, wann immer es erforderlich ist, seine Form ändern kann. Wärst du darauf gekommen? Nein. Aber vielleicht kannst du ja eine Sitcom daraus machen.

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Andere Sprachen

Ja, du bist im Arsch. Du kannst noch so viel darüber reden, dass du in der Schule Französisch hattest, aber Jacques Derrida hat sich nicht mit der Frage beschäftigt, wo der Bahnhof ist oder ob das Schwimmbad sonntags offen hat. Er hat Bücher über binäre Oppositionen, Rhetorik, Dekonstruktion und eine Menge andere Themen geschrieben, die in deinem Lehrbuch nicht vorkamen. Wenn du darüber hinaus das Glück hast, etwas zu studieren, was mit dem Alten Griechenland oder Rom zu tun hat (und Akademiker führen im Grunde alles auf diese beiden kulturellen Sümpfe zurück), wirst du auch mit Latein und Altgriechisch kämpfen müssen. Latein ist immerhin in demselben Alphabet geschrieben, das du auch auf der Rückseite einer herkömmlichen Friends-DVD findest. Die griechische Schrift besteht dagegen aus einer Menge antiker Wingdings, viel Spaß also damit. Wenn du in deinem Essay über Wikinger-Sagas nicht ein paar geistreiche altnordische Referenzen einbauen kannst, kannst es vergessen, auf meinem Beiboot mit nach Asgard zu fahren. Und wenn es um Beowulf geht, muss der Ray-Winstone-Akzent eingebracht werden.

Jacques Rancière

Niemand hat die Rolle des Zuschauers in so einer komplizierten französischen Weise erklärt wie dieser Typ. Ja, die Rolle des Zuschauers. Das heißt die Rolle, die du bei einem Auftritt von Atlas Sound hast oder wenn du russische Mädchen dafür bezahlst, im Internet für dich zu strippen. Wovon Rancière angepisst war, war die Tatsache, dass der Zuschauer die Machenschaften hinter den erfundenen Geschehnissen im Theater („Schauspiel"), die er erlebte („beobachtete"), nicht kannte; er saß einfach da und tat so, als würden ihm Shakespeares Witze gefallen. Rancière wollte die vierte Wand einreißen—ein kulturelles Anliegen, das sich durch den Punk wühlte und mit Wayne's World endete.

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Macht

Anhänger der Kritischen Theorie waren früher sehr an der Analyse der MACHT interessiert—MACHT in Großbuchstaben, weil es um das alles umspannende Gefüge geht, dem du niemals entkommen und an dem du nichts ändern kannst. Die Dummen reden noch immer über die Machtapparate der Elite und wie sie über die Romane von Henry James, die Musik von Beethoven und die Zutaten unseres Müslis unser Begehren steuern. Theoretikerinnen wie die späte Eve Kosofsky Sedgwick, der Autorin von Jane Austen and the Masturbating Girl (kein Scheiß) ließ die Frage der MACHT hinter sich und kam zur Einsicht, dass die Welt aus Grautönen besteht. Ihre ehemaligen Schüler labern indessen noch immer davon, dass der John-Malkovich-Typ in den Romanen von Henry James ein Vorläufer von Donald Rumsfeld sei.

Walter Benjamin und Michel Foucault

So wie Gandalf und dessen schwuler Sohn sind Walter Benjamin und Michel Foucault (Bild oben) die großen Zauberer der Kritischen Theorie. Benjamins Hauptwerk, das Passagenwerk, war noch nicht fertig, als der Zweiten Weltkriegs ausbrach und Benjamin schließlich Selbstmord beging. Versteckt in der Bibliothèque Nationale in Paris blieben die Schriften bis weit nach dem Krieg unentdeckt. Foucault war Benjamin verpflichtet, schuf mit seinem Werk aber eine internationale Gruppe weltfremder Adepten, die es nicht abwarten konnten, seinen französischen Hängesack in den Mund zu nehmen. Was man ihnen nicht zum Vorwurf machen kann. Er war ein unheimlich intelligenter Mann.

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Der übertriebene Gebrauch von Nebensätzen

Wenn ein Wissenschaftler versucht, einen komplizierten Sachverhalt auszudrücken oder, wie es so oft vorkommt, ein einfaches Phänomen in komplizierter Weise zu analysieren, um einen sinnlosen Essay zu rechtfertigen, verwendet er zahlreiche Nebensätze und bildet Sätze, die sich über mehrere Seiten erstrecken. Ideen oder Aussagen werden sich häufen, dem Leser, dem Konsumenten des Textes, des Produkts, wird jede Handlungsmacht genommen; die Aussagen, die Aussage an sich, werden oder wird unter den Nebensätzen begraben. In der Oberstufe hat man wahrscheinlich versucht, dir einen guten Schreibstil beizubringen (drücke dich klar und einfach aus, benutze keine Metaphern und so weiter und so fort. Das kam mir schon damals langweilig vor). Diese Stil-Regeln können mitsamt deinen Träumen für eine bessere Zukunft auf den Müll wandern. In der Kritischen Theorie ist kein Raum für Schwachsinn wie kurze Sätze.

Theodor W. Adorno

Der große, hochtrabende Gockel der Ernsthaftigkeit des 20. Jahrhunderts mag den berühmten Satz gesagt haben, dass man nach dem Holocaust nicht mehr lachen könne. Doch auch wenn er sein Leben damit verbracht hat, wütend die Populärkultur auseinanderzunehmen, konnte er nicht verhindern, dass sein Klassiker Minima Moralia nun kunstvoll in Urban-Outfitters-Filialen verstreut liegt. Er hätte es gehasst. Andererseits hat er nichts Anderes verdient. Er war ein Arschloch.

Queer Theory

Du bist kein Mann. Du bist keine Frau. Du bist kein Neutrum. Du bist ein Konstrukt. Dein Gender ist eine konstante Performance. Diese Ideen erscheinen heute nicht mehr allzu radikal, doch bevor Judith Butler sie von Foucault übernommen und 1990 in ihrem Buch Das Unbehagen der Geschlechter dargelegt hat, schienen sie außerirdisch. „Mich mit Kumpels abzuschießen soll eine kulturell überlieferte Performance sein? Willst du sagen, dass ich schwul bin? Meinst du, dass ich nicht gern in der Kneipe Bier runterkippe und in den Club gehe, um auf meinen besten Freund Steve zu kotzen?" Diese Worte hätte Judith Butler vielleicht 1990 an den Kopf geworfen bekommen. Jetzt liest der Typ Das Unbehagen der Geschlechter und kann endlich entspannt zuhause bleiben und mit seiner Freundin Sex and the City kucken.

Willkommen also zum innersten Zirkel der Kritischen Theorie. Noch bevor du es merkst, wirst du den in deiner Familie herrschenden Terrorismus enthüllen, die Macht der Polizei in der Literatur analysieren und eine direkte Verbindung zwischen dem Buch, das du liest, und deinem öffentlichen Nickerchen ziehen. Du wirst denken: Natürlich, ich habe mich ja immer gefragt, warum ich mich so verhalten habe, und jetzt weiß ich, dass es an den Mechanismen unserer Gesellschaft liegt. Und diese gesellschaftlichen Mechanismen werden perfekt in diesem Buch über die Geschlechterpolitik in den Romanen von William Faulkner demonstriert. Der Tag dieses Gedankens ist der Tag deiner Geburt.