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Deutschland, deine Atzen—Der Exzess des deutschen Spießers

Der schlimmsten Jugendbewegung dieses Landes ist eigentlich alles egal. Hauptsache Alk.

Einer der Vorteile daran, in einer Großstadt zu wohnen, ist ja der, dass man den Leuten aus dem Weg gehen kann, die einem auf die Nerven gehen. Meine Wege kreuzen sich selten mit druffen Ravern, aufgepumpten Wodka-Energy-Trinkern mit ausrasierten Tribals oder Leuten aus der Jungen Union. Aber manchmal trifft man eben doch auf Vertreter dieser einen Subkategorie, die alles Negative aus all diesen unangenehmen Jugendbewegungen miteinander vereint: die Atzen. Irgendwann gab es mal diese namensgebende Band, die—selbst mit viel Ironie—immer noch ziemlich mies war. Dann kam „Leider geil“ und die Schleusen waren damit geöffnet. Wenig Anspruch, Sinn und Verstand. Aber geiler Soundtrack zum Saufen, Dicker. Und ich spreche hier von einem gesamtdeutschen Phänomen, das sich sowohl in der Provinz als auch in den Großstädten beobachten lässt. In allem, was sie tun, geben sich Atzen die größte Mühe, einfach anders zu sein. Aber sie schaffen es nicht. Sie bleiben, was sie sind. Eine Jugendbewegung ist entstanden, ohne tieferen Sinn und irgendwelche Ziele, der der deutscheste aller Archetypen zu Grunde liegt: der Spießer.

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Das Motto ist „abgehn“, befeuert von Strobo, Konfettikanonen und jeder Menge Alk, musikalisch unterlegt mit breiten Synthies und dummen Parolen. Atzenmusik, Atzenparty. Um diese Musik, deren einziger Sinn und Zweck im Partymachen besteht, bildete sich eine Art Jugendkultur (wobei man hier Kultur am liebsten in Anführungszeichen setzen würde), deren einziger gemeinsamer Nenner im Konsum von Alkohol besteht und darin, in eng gesetzten Parametern „auszuflippen“. Frauen kommen in dieser Bewegung höchstens am Rande vor—nämlich vor allem in Musikvideos und der Phantasie des männlichen Partyvolks. Nahezu unbekleidet, selbstredend.

Geprägt wird sie von jungen Typen. Diese tennisspielenden, am Wochenende mal schön steilgehenden, drinnen Sonnenbrillen tragenden Arztkinder, die im Jahr 2014 immer noch nicht gemerkt haben, dass New Rave in den frühen 2000ern vorbei war, und die, wenn die Schule aus ist, mit neuen „Outfits“ in diesen riesigen sperrigen Primark-Tüten die U-Bahn verstopfen. Und es handelt sich dabei ja nicht nur um Abiturienten (wenn dem so wäre, könnte es einem ja egal sein. Mit 18 verhält sich gerne jeder noch so peinlich, wie es ihm oder ihr möglich ist.). Die, nennen wir sie mal, Atzen-„Bewegung“, hat Berufsabiturienten geschaffen. Junge Männer, die sich permanent so anziehen und verhalten, als wären sie gerade unterwegs zum Sport-LK.

Natürlich ist es schwer zu sagen, was diese Typen dazu zu bewegt, so zu sein, wie sie eben sind. Möglicherweise haben Deichkind und Fettes Brot sie aus ihrem Jugendzimmer abgeholt und sie auf einen Abenteuerspielplatz gebracht, auf dem sie all das verwirklichen können, von dem sie schon immer dachten, dass es zu einem guten Leben dazugehört. Scheinbar stellen sich Generationen von Jungs vor, wie geil es sein muss, sich mit dem Schlauchboot tragen zu lassen und dabei Jägermeister in die Menge zu schütten, oder sowas. Aus der Eigentumswohnung der Eltern oder dem Reihenhaus gehen sie zum ersten Mal in irgendeinen Club und glauben, die größte Erfüllung gefunden zu haben. Dann geht es weiter. Auf Abi-Partys folgen Uni-Partys und irgendwann ist man fertig mit dem Studium, aber man feiert eigentlich immer noch ganz genauso wie in der neunten Klasse. Aber Abi, Uni und Job sind schließlich auch wichtig. Haben Papa und Mama immer gesagt. So eine Partynacht muss demzufolge auch gut geplant sein. Vorglühen, Club, aber nicht zu lange. Deswegen sieht man eine Menge dieser Leute auch schon um 11 Uhr abends in einen Mülleimer auf dem Alex kotzen.

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leidergeil

Diese, man könnte sagen, Liebe zum Detail und zur korrekten Planung drückt sich auch in Klamotten aus. So wie eine Kölner Fleischwarenfachverkäuferin vor Rosenmontag planen diese Jungs ihr Wochenende minutiös. Und dieses Ausgehgebaren kommt doch genau diesem Karneval ziemlich nahe. Die Party wird zum eskapistischen Traum, der eine Auszeit aus dem langweiligen und vorbestimmten Alltag gewährt, nur dummerweise merkt niemand, dass die Party am Ende genauso langweilig und vorbestimmt ist. Quasi wie in diesem Video von der ehemaligen Soap-Darstellerin, die jetzt in Poetry-Slams macht. Extralange aufbleiben—aber nicht länger als nötig—, damit man den potentiellen Kindern erzählen kann, wie verrückt man mal war. Der Exzess des deutschen Spießers. Und das schön im extraweiten Tanktop, damit man auch gut das Ergebnis vom Uni-Sport sieht oder alternativ im Shirt mit witzigem Aufdruck. Am besten in Neon. Darauf dann die Kanye-Brille mit „abgefahrenen" bunten Bügeln.

Es ist mir schon klar, dass ich mich wie ein verbitterter alter Mann anhöre, der sich darüber beschwert, dass junge Leute in der Bahn SMS schreiben, statt „sich miteinander zu unterhalten“, aber mal ernsthaft: Muss man echt in einem Club den ganzen Abend dämliche Handybilder machen, die alle identisch sind, weil sich auf allen irgendwelche truckermützen- oder snapbacktragende Spät- oder Permanent-Pubertierende in den Armen liegen und irgendein dummes Gesicht ziehen, während sie sich fast ihre kleinen Wurstfinger dabei brechen, irgendwelche imaginierten Gangsymbole zu faken? Ich denke nicht. Was für ein Datenmüll auf den Instagram-Servern vor sich hinrotten muss, der dann auch noch mit Tags wie #läuft, #Atzenfaktor, #leidergeil oder ähnlichem Mist indiziert wird. Dann auch noch mal so tun, als würde man dem besten Bro einen Kuss auf die Wange drücken, aber #nohomo, ist klar.

Möglicherweise liegt darin auch der Grund für das permanente Wiederauftauchen und die Verjüngung dieser Gruppe, von der man sich doch nur wünscht, sie würde irgendwann verschwinden. Diese Jungs schauen sich und ihre Freunde und deren Freunde permanent auf Instagram und auf Facebook an und werden so Teil einer sich-selbst-erfüllenden Prophezeiung, die an den falschen Stellen nach dem perfekten Bild von „Männlichkeit“ und Coolness sucht.

Obwohl Atzen der Apex der vielbeschworenen apolitischen Jugend sind, sind sie im Herzen konservativ. Ihre Jugendbewegung setzt sich für nichts ein. Ihr Leben ist ja schon ganz nett. Und wenn es das nicht ist, auch egal. Am Wochenende wird trotzdem gefeiert. Gibt ja #Jäger. Egal wie sehr sie es in ihren Facebook-Profilen zur Plattitüde gemacht haben und wie sehr sie die Phrase zu ihrem Mantra gedroschen haben, diese Typen sind das genaue Gegenteil von „no risk, no fun“. Alles schön ordentlich, nur mal kurz ausflippen. Sonst hört Papa vielleicht noch auf, die Rate für den Kleinwagen zu zahlen. Der Job in der Unternehmensberatung bleibt sicher und irgendwann geht man halt zur Karnevalssitzung, statt zur Ed-Banger-Party. Laser.