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Diese Auschwitz-Überlebende hat den Enkel ihres KZ-Kommandanten adoptiert

Eva Mozes Kor ist ein großartiges Beispiel für gelebte Versöhnung.

Foto: Rainer Höß und Eva Mozes Kor

Als sie—geplagt von lebensgefährlichem Fieber—auf dem Krankenbett im Konzentrationslager Auschwitz lag, war die Aussicht, eines Tages ihre Zwillingsschwester Miriam wiederzusehen, das einzige, was Eva Mozes Kor Trost spendete.

Nach einiger Zeit in dem kalten, leeren Raum bekam sie Besuch von Josef Mengele—dem „Todesengel" der SS. Eva erinnert sich, wie er schmunzelnd mit dem Finger auf sie zeigte und sagte: „Zu schade, sie ist noch so jung, hat aber nur noch zwei Wochen zu leben."

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An diesem Punkt hat sich die Zehnjährige geschworen, Mengele das Gegenteil zu beweisen und eines Tages wieder ihre Schwester in den Armen zu haltenwas ihr durch bloße Willenskraft auch gelang. „Woher ich diese Kraft nahm, weiß ich bis heute nicht", hat sie mir vor Kurzem erzählt. „Ich spürte aber, dass ich den Kampf verlieren und sterben würde, sollte ich mich nur einen Moment aufgeben."

Mit ihren 80 Jahren ist Eva heute ein Sinnbild der Versöhnung und hat mit all den Menschen, die ihr jemals wehgetan haben—sogar den Nazis—ihren Frieden geschlossen. Besonders bemerkenswert ist dabei die Tatsache, dass sie Rainer Höß—den Enkel von Rudolf Höß, der zu dem Zeitpunkt Kommandant von Auschwitz war, als Eva in dem KZ gefangen gehalten wurde—als ihren eigenen Enkel adoptiert hat—wenn auch nur symbolisch.

Eva und ihre Schwester wurden als Töchter einer jüdischen Bauernfamilie am Silvestertag 1934 in Rumänien geboren. Als ihr Dorf sechs Jahre später von ungarischen Nazis besetzt wurde, sollte sich ihr Leben für immer ändern. Erst wurde Alexander, ihr Vater, schikaniert, weil er Jude war, und dann wurde auch noch ihre Mutter Jaffa krank. Und die Kinder in ihrem Dorf wurden dazu aufgefordert, Eva und ihre Schwester als „dreckige Juden" zu beschimpfen.

Die Familie wurde Anfang 1944 in ein jüdisches Ghetto gebracht, bevor sie im Mai desselben Jahres in einen Viehwaggon mit dem Ziel Auschwitz gesetzt wurde. Die Zustände im Zug waren schrecklich: unzählige wimmernde Menschen, die auf engstem Raum eine 70 Stunden lange Odyssee—ohne Essen und bei brüllender Hitze—durchstehen mussten.

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Eva erinnert sich noch an den Moment, als die Türen aufgingen: „Als wir endlich in Auschwitz ankamen, baten wir um Wasser. Doch mehr als Befehle aus den Mündern von schreienden Deutschen bekamen wir nicht. Ich blickte mich um und plötzlich waren mein Vater und meine zwei älteren Schwestern, Edit und Aliz, in der Menschenmenge verschwunden. Ich klammerte mich an meiner Mutter fest, weil ich dachte, dass sie uns beschützen kann."

In dem Durcheinander ging ein deutscher Offizier zu Jaffa und wollte von ihr wissen, ob ihre Töchter Zwillinge wären. Als sie die Frage bejahte, wurden die beiden Mädchen weggezerrt. „Wir haben beide geweint, während meine Mutter verzweifelt mit ausgestreckten Händen dastand", so Eva. „Wir hatten nie die Gelegenheit, voneinander Abschied zu nehmen. Ich hatte die beste Mutter der Welt."

Der Eingang vom KZ Auschwitz (Foto: Logaritmo | Wikicommons | Public Domain)

Gerade einmal eine halbe Stunde im Lager hatten die Mädchen schon ihre Familie für immer verloren. Anschließend wurden sie mit anderen weiblichen Zwillingspaaren zusammengetan. Dann wurden sie ausgezogen, bevor man ihnen den Kopf kahl schor und sie zum Tätowieren wegbrachte. „Es war wie in einem Albtraum. Darum habe ich meine Augen geschlossen und beim Öffnen gehofft, dass der Albtraum vorüber sein würde", erzählte Eva. „Ich habe es probiert, aber es hat nicht funktioniert."

Als es dann zum Tätowieren ging, leistete Eva so viel Widerstand, dass nicht weniger als vier Wärter nötig waren, um sie, ein zehnjähriges Mädchen, zu bändigen, damit ihr auf den einen Arm die Nummer „A-7063" unter die Haut gestochen werden konnte.

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Wie bei vielen weiteren Zwillingspaaren, die von den Nazis gefangen gehalten wurden, wurden auch an Eva und Miriam medizinische Experimente durchgeführt—und das an sechs Tagen in der Woche. Ein Teil der Untersuchungen sah so aus, dass man die Mädchen montags, mittwochs und freitags in ein Beobachtungslabor steckte, wo man sie auszog und bis zu acht Stunden lang ihre Körperteile untersuchte. „Sie haben sich drei Stunden an meinem einen Ohrläppchen aufgehalten—es war unglaublich erniedrigend. Sie behandelten mich, als wäre ich nichts wert, als wäre ich ein Stück Fleisch", erzählte mir Eva.

Das Schlimmste aber waren die Dienstage, Donnerstage und Samstage, als es ins „Blutlabor" ging. Dort erhielt Eva mittels fünf großer Nadeln Injektionen im rechten Arm, während ihr aus dem linken Arm Blut abgenommen wurde. Was ihr da injiziert wurde, hat sie nie erfahren, auf jeden Fall haben diese Experimente dazu geführt, dass sie für einige Wochen ins Krankenhaus gebracht werden musste. Dort fasste sie auch den Entschluss, gemeinsam mit ihrer Schwester die Tortur zu überstehen, dort hat sie sich auch—wie durch ein Wunder—von den Experimenten erholen können.

Jüdische Zwillinge wurden für medizinische Experimente am Leben gehalten. (Foto: United States Holocaust Memorial Museum/Belarussian State Archive of Documentary Film and Photography | Wikicommons | Public Domain)

Zu dem damaligen Zeitpunkt war Eva noch nicht klar, dass ihr Überleben auch das Leben ihrer Schwester gerettet hat: Die Nazi-Ärzte warteten eigentlich darauf, dass Eva stirbt. Anschließend hätten sie dann auch Miriam getötet, um die Körper der beiden Mädchen obduzieren und miteinander vergleichen zu können.

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Doch die beiden Schwestern gaben nicht auf. Und am 18. Januar 1945 gaben die Deutschen den Befehl, das Lager umgehend zu verlassen. Wer nicht weiterlaufen konnte, wurde erschossen.

Während des Todesmarschs ging Eva zu einem Fluss, um vom eiskalten Wasser zu trinken. „Auf der anderen Seite des Ufers sah ich ein Mädchen, das ungefähr so alt war wie ich. Es hatte ein wunderschönes Kleid an und trug einen Schulranzen", erinnerte sie sich. „Da erst wurde mir klar, dass es draußen eine echte Welt gab. Ich dachte erst, die ganze Welt sei ein einziges Konzentrationslager geworden."

Ein paar Tage später hörte Eva, wie eine Frau rief: „Wir sind frei!"

Eva und Miriam gehörten zu den 200 von insgesamt fast 1.500 Zwillingspaaren, die die Experimente überlebten.

Frauen, die Auschwitz überlebt haben

Die beiden Mädchen kehrten nach Rumänien zurück, wo sie zusammen mit ihrer Tante wohnten. Doch das Leben im Dorf war weiterhin kein angenehmes. Antisemitismus war immer noch weit verbreitet, und der Mann, den die Tante geheiratet hatte, wurde ohne Prozess ins Gefängnis gesteckt, weil er beschuldigt wurde, der Bourgeoisie anzugehören. Also wanderten die Mädchen 1950 nach Israel aus, wo sie endlich—frei von Vorurteilen—leben konnten. „Zum ersten Mal konnte ich schlafen, ohne Angst vor Verfolgung haben zu müssen, weil ich Jüdin bin", sagte Eva.

Dort konnten die Zwillinge auch ein neues Leben beginnen. Eva bekam endlich eine gute Ausbildung: Nach ihrem Abschluss an einer Landwirtschaftsschule erreichte sie einen hohen Feldwebeldienstgrad im Ingenieurkorps der israelischen Armee. 1960 heiratete sie Michael Kor, auch er ein Holocaust-Überlebender, und zusammen wanderten sie in die USA aus, wo sie zwei Kinder, Alex and Rina, bekamen.

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1978 beschloss Eva dann, herauszufinden, was aus den anderen Überlebenden unter den Zwillingspaaren geworden ist. Sie wollte mehr über die Experimente erfahren, denen sie ausgesetzt waren, und wissen, inwieweit der Holocaust ihr Leben beeinflusst und beeinträchtigt hat. In nur einer Woche spürten die beiden Schwestern 80 Zwillingspaare auf, später dann noch 42 weitere.

1984 gründeten Eva und Miriam CANDLES (Children of Auschwitz Nazi Deadly Lab Experiments Survivors)—eine Stiftung, deren primäre Aufgabe es ist, der Welt zu zeigen, dass auch in den verzweifeltsten Situationen noch Platz für Hoffnung ist.

1993 verstarb Miriam dann leider an Krebs, aber Eva hat die Arbeit fortgeführt und auf ihrer Suche nach Antworten auch Dr. Hans Münch—einen ehemaligen Nazi-Arzt—getroffen. Munch erzählte ihr, wenig überraschend, dass „Auschwitz die Hölle auf Erden war". Er gab zu, den Leuten heimlich beim Sterben in den Gaskammern zugeschaut zu haben. So konnte er auch sehen, dass die Menschen begannen, verzweifelt aneinander hoch zu klettern, sobald das Zyklon B den Raum erfüllte.

„Er sah Berge von Menschen, die ihren letzten Atemzug taten", erinnerte sich Eva. „Die Stärksten lagen ganz oben, und als die Wächter sahen, dass sie sich nicht mehr bewegten, wussten sie ganz genau, dass alle tot waren."

Münch behauptete, dass die Wächter und Ärzte im Lager nur noch funktioniert hätten—und das mehr schlecht als recht. Darum hätten sich auch alle—mit Ausnahme von ihm und Mengele—Abend für Abend betrunken. „Ich habe jemanden gebraucht, um über das Erlebte zu sprechen, aber Mengele hat die Experimente immer nur verteidigt", erzählte er Eva. „Er sagte, die Gefangenen würden eh sterben. Und so könnten wir sie für eine Weile vor dem sicheren Tod bewahren."

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Eva fiel eine Zeugenerklärung von Münch in die Hände, die er 50 Jahre nach der Auschwitz-Befreiung unterschrieben hatte. Sie nahm zu ihm Kontakt auf, um ihm dafür zu danken, dass er die Holocaust-Leugner Lügen gestraft hatte. Zehn Monate später beschloss sie, einen Brief zu schreiben, in dem—in ihrem Namen—den Nazis ihre Verbrechen verziehen wurden. Außerdem sprach sie mit ihrem Englischprofessor, der ihr dazu riet, zu Hause ein imaginäres Gespräch mit Mengele zu führen, um auch ihm verzeihen zu können.

Vier Monate hat es gedauert, bis sie all ihren Schmerz zum Ausdruck bringen konnte.

„Als ich fertig war, spürte ich, dass das ehemalige Versuchskaninchen jetzt die Kraft besaß, dem Gott von Auschwitz zu verzeihen", erzählte sie. „Ich hatte die Kraft zu verzeihen. Niemand konnte mir diese Kraft geben, aber genauso wenig konnte sie mir wieder weggenommen werden. Ich wollte nicht länger ein Opfer sein und jetzt bin ich endlich frei."

Rudolf Höß in Auschwitz (Foto: Wikicommons)

Später erhielt Eva dann eine E-Mail von Rainer Höß, der sie treffen und sie dann umarmen wollte. Zuerst dachte sie jedoch, dass es sich um einen Scherz handeln musste, denn kein Enkel eines Nazis wäre jemals in der Lage, die Taten seines Großvaters zu verurteilen.

In einer zweiten E-Mail fragte Höß Eva dann, ob sie seine Adoptiv-Großmutter werden will. Vor ihrem ersten Treffen im letzten Juli in Auschwitz waren sie beide nervös, aber Eva war sofort fasziniert von Rainers Intelligenz, seinem Mut und seiner Freundlichkeit. Ihr imponierte ebenfalls, dass er sich trotz seiner Kindheit in einem bösen Umfeld zu einem anständigen Menschen entwickelt hat.

Nach ihrem Treffen entschied sich Eva dazu, seine Frage mit Ja zu beantworten. „Ich bin stolz, seine Großmutter zu sein", erzählte sie mir. „Ich bewundere und liebe ihn. Er brauchte einfach die Zuwendung einer Familie, die er nie hatte."

1985 brach Höß jeglichen Kontakt zu seiner eigentlichen Familie ab und würde laut eigener Aussage auf das Grab seines Opas urinieren, falls es eins gäbe. Eva will jedoch immer noch, dass er seinem Vater und seinem Großvater verzeiht. „Wir streiten uns natürlich auch, denn wir sind ja nicht immer der gleichen Meinung. Ich liebe ihn aber trotzdem über alles", sagte sie. „Zwischen uns besteht eine richtige Bindung und wir verstehen uns auf emotionaler Ebene. Es kann für einen Hoffnungsschimmer sorgen, wenn sich zwei Menschen aus verschiedenen Orten der Welt gegenseitig Großmutter und Enkel nennen."

Heutzutage hat Eva immer noch ihre Rolle bei CANDLES inne und hält Vorträge, die sich alle um ihr wichtige Botschaften drehen: Gib dich niemals auf, verurteile niemanden für seine Herkunft und vergebe auch deinen schlimmsten Feinden, weil man nur so zum Seelenfrieden kommt.

Außerdem ist sie weiterhin bei Gedenkveranstaltungen in Auschwitz anwesend, wo sie immer auf der Selektionsplattform tanzt, wo sie damals ihre Familie verloren hat.

„Dort wurde ich meiner Lebensfreude und meiner Familie beraubt", erklärte sie. „So hole ich mir genau das zurück."