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The Photo Issue 2001

Die englische Art

Flaggen, Pitbulls, Schlangestehen und English Breakfast. Martin Parr und Kate Fox zeigen die feine englische Art.

Ich lese nicht viele Bücher. Ich ziehe es vor, wenn meine Inspiration in Form von Filmen, Kunst und Fotografie zu mir kommt. Allerdings bin ich über ein Buch gestolpert, das ich innerhalb weniger Tage verschlungen habe: Watching the English: The Hidden Rules of English Behaviour von Kate Fox. In diesem Buch habe ich all die Beobachtungen wiedergefunden, die ich über die Engländer, zu denen ich selbst gehöre, über viele Jahre hinweg gemacht habe—allerdings ausgedrückt in bissiger, schlagfertiger Prosa. Es ist wirklich witzig—die Art von Humor, bei der du laut anfängst zu lachen, obwohl du alleine bist! Als ich mit Kate Kontakt aufnahm, sagte sie mir, dass ihr Verlag darüber nachdächte, eine neue Ausgabe ihres Buches mit Fotos herauszubringen und dass sie bereits einige Motive von mir in Betracht gezogen hätten. Leider ist es nie zu diesem Projekt gekommen. Als mich VICE fragte, mit wem ich gerne für die diesjährige Photo Issue zusammenarbeiten würde, musste ich sofort an Kate denken. Ich schickte ihr eine Auswahl von unbestreitbar „englischen“ Bildern, die ich in den letzten Jahren fotografiert habe. Sie wählte sich ein paar außerordentlich englische Themen aus, um darüber zu schreiben, und das Ergebnis ist jetzt hier zu sehen. —Martin Parr

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EINE NATION HEIMLICHER PATRIOTEN 

Was mir sofort ins Auge sticht an diesen patriotischen Bildern, ist, wie unüblich sie sind. Um sie zu schießen, muss Martin sehr viel Geduld gehabt haben—vergleichbar einem Tierfotografen, der darauf wartet, dass das scheue nachtaktive Geschöpf hervorgekrochen kommt—denn ähnlich rar sind diese patriotischen Momente bei uns Engländern. Nur eine winzige Minderheit trägt ihren Nationalstolz öffentlich zur Schau—und selbst die nur zu besonderen Gelegenheiten. Den Engländern wird oft ein Mangel an patriotischen Gefühlen diagnostiziert, und es gibt Beweise, die diese Behauptung unterstützen. Der Durchschnittsengländer bewertet seinen Grad an Patriotismus auf einer Skala bis 10 gerade mal mit 5,8, so eine europäische Studie. Damit liegt er weit hinter den Schotten, Walisern und Iren und hinter allen europäischen Ländern. Am 23. April ist unser Nationalfeiertag, der St. George’s Day, aber Umfragen zeigen regelmäßig, dass sich zwei Drittel der Bevölkerung dessen nicht bewusst sind. Sich einen vergleichbaren Anteil von Amerikanern am 4. Juli vorzustellen—oder Iren am St. Patrick’s Day—unmöglich.

Auf Basis meiner ethnografischen Recherche jedoch beschlich mich nach und nach der Verdacht, dass die Abneigung gegenüber der Zurschaustellung unseres Nationalstolzes vielleicht eher mit den „ungeschriebenen Regeln des englischen Benehmens“ zusammenhängen—als mit einem tatsächlichen Mangel an Nationalstolz. Das hat mich dazu gebracht, meine eigene Umfrage aufzustellen: Kurz vorm St. George’s Day also stellte ich Fragen zum Patriotismus, die ich für detaillierter hielt als die anderen, offiziellen Untersuchungen. Die Ergebnisse bestätigten meinen Eindruck, dass wir ein Volk heimlicher Patrioten sind. Ich fand heraus, dass die große Mehrheit der Engländer (83 Prozent) zumindest eine Form von Patriotismus empfindet: Stolz, englisch zu sein, sind 22 Prozent „immer“, 23 Prozent „häufig“—und 38 Prozent zumindest „manchmal“. Drei Viertel meiner Befragten fanden, dass zur Feier unseres Nationaltags mehr unternommen werden sollte—von diesen wiederum wünschen sich 63 Prozent, dass wir den St. George’s Day „so ehren“ wie die Iren den St. Patrick’s Day. Eine knappe Hälfte würde am 23. April zumindest die englische Flagge gern häufiger gehisst sehen. Gerade mal elf Prozent hingegen würden so weit gehen, die Flagge selbst zu hissen—und 72 Prozent sagten, sie feierten den Tag überhaupt nicht und hätten auch nicht vor, es zu tun. Und das, obwohl der St. George’s Day im Jahr meiner Recherche auf einen Samstag fiel. Selbst wer zugab, den Tag zu „feiern“, meinte, dass das Höchstmaß dessen aus ein bis zwei Bier im Pub bestehe. Nur bedingt zu vergleichen mit den Extravaganzen am 4. Juli oder denen des St. Patrick’s Day.

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Aber warum nur? Wenn so viele von uns stolz sind, englisch zu sein, und finden, dass wir unseren Nationaltag und die Flagge mehr feiern sollten—warum feiern wir dann nicht oder hissen die Flagge einfach selbst? Es gibt eine englische Überzeugung, die uns unheimlich wichtig ist, ein Schlüsselelement unseres Stolzes, des berühmten englischen Humors—etwas, das ich als „ernst sein ist nicht alles“ zusammenfasse. Eine der ungeschriebenen Regeln des englischen Benehmens ist die Ablehnung der Ernsthaftigkeit und des Übereifers. Sentimentalen, überheblichen, schreienden, fahnenschwenkenden Patriotismus missbilligen wir—und winden uns vor seiner Peinlichkeit. Wohl sind wir stolz, Engländer zu sein. Doch sind wir zu gehemmt und vielleicht auch zu zynisch, um einen großen, überschwänglich patriotischen Aufriss darum zu machen. Ironischerweise hindert uns der wichtigste Aspekt unseres englischen Stolzes—der Humor—daran, ersteren ungezwungen zur Schau zu tragen. Zweitens wirst du beim Betrachten meiner Umfrageergebnisse feststellen: Der Anteil der Engländer, der sich wünscht, das mehr zur Feier des St. George’s Day unternommen wird (75 Prozent), deckt sich fast mit dem Teil, der überhaupt nicht feiert (72 Prozent). Auch dieser Widerspruch ist typisch englisch. Er spiegelt zwei grundlegende Eigenschaften des englischen Charakters, die ich vorher schon in Watching the English: The Hidden Rules of English Behaviour bezeichnet habe: Mäßigung und Trübsinnigkeit. Unser Verständnis von Mäßigung bedeutet, dass wir eher apathisch sind—wir meiden Extreme, Exzess und Intensität. Es wurde mal gesagt, die Engländer hätten statt Revolutionen die Satire. Und ungefähr so würde ein wirklich englischer Protestgesang klingen: „Was wollen wir? ALLMÄHLICHEN WANDEL! Wann wollen wir ihn? ZU GEGEBENER ZEIT!“ Unsere Trübsinnigkeit heißt, dass wir uns lieber therapeutisch stöhnend über ein Problem auslassen, als es tatsächlich anzugehen oder gar etwas dagegen zu unternehmen. Wir wimmern und beschweren uns, dass mehr getan werden sollte, um unseren Nationaltag zu feiern, organisieren aber sicher kein Fest, hissen keine Flagge oder sonst etwas.

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Fairerweise sei dazu gesagt, dass der Grund, die englische Flagge an nationalen Feiertagen nicht zu hissen, nur in Teilen auf diese Eigenschaften zurückzuführen ist. Obwohl wir uns die Flagge, was das angeht, zurückgeholt haben, war sie in der Vergangenheit Symbol der radikalen Rechten und des Rassismus und ist noch immer befleckt mit diesen Assoziationen. Außerdem wird sie in den letzten Jahren immer mehr mit Fußballfans in Verbindung gebracht. Auch das wirkt natürlich abstoßend auf einige, für die sie dadurch einen unangenehm prolligen Unterschichtentouch bekommt. Wie Martins Bilder aber zeigen, schaffen es manche, in ihrer patriotischen Heimlichtuerei dann und wann mal eine Runde auszusetzen. Zu großen königlichen Anlässen etwa, wie dem 60. Jubiläum der Königin 2012 und der königlichen Hochzeit 2011. Für diese Minderheit sind die königlichen Ereignisse kleine Anfälle von „kultureller Narrenfreiheit“ oder „feierlicher Umkehr“—wie Anthropologen sagen würden. Etwas wie Karnevale oder Stammesfeste, auf denen die gewöhnlichen sozialen Normen und ungeschriebenen Regeln zeitweise aufgehoben sind und wir Dinge tun, zu denen wir uns normalerweise niemals hinreißen ließen: die Nationalflagge schwenken, jubeln, auf der Straße tanzen—ja, sogar mit Fremden sprechen. Doch stehen die Feiernden, die Martins Fotos einfangen konnten, nur für einen winzigen Teil der Bevölkerung (höchstens sechs Prozent). Und Umfragen zeigen, dass sich etwa die Amerikaner viel mehr über die königliche Hochzeit gefreut haben als die Engländer—deren Mehrheit nicht gerade aus dem Häuschen war, entgegen allem Hype der Medien. Zwei Drittel von uns hätten sich „nicht weniger dafür interessieren können“ oder es war ihnen „weitestgehend egal“. Gerade einmal zehn Prozent sollen gestanden haben, dass sie wegen des Events „sehr aufgeregt“ seien. Ich schreibe „sollen gestanden haben“, denn selbst bei anonymen Umfragen sollten wir uns einer Sache bewusst sein, die Forscher „soziale Begehrtheits-Befangenheit“ nennen: eine Standardabweichung in Selbstgutachten—verursacht, weil der Befragte sich in ein sozial erstrebenswertes und akzeptiertes Licht rücken will (auch bekannt als: Lügen). Aber auch sozial akzeptierte Antworten dieser Art können einiges verraten: Wenn nur so wenige Engländer zugeben, sich auf die königliche Hochzeit zu freuen, mag uns das zwar nicht ihre wahren Gefühle zeigen. Es zeigt uns aber, dass die sozialen Normen, die derartige Aufregung verbieten, sehr machtvoll sein müssen. Martins Bilder fangen einen Patriotismus ein, den viele Engländer zumindest manchmal insgeheim fühlen. Etwas, das nur wenige öffentlich zeigen können—und wenn, dann nur in Augenblicken kultureller Narrenfreiheit. Für mich sind diese Fotos so was wie eine Sonnenfinsternis, ein seltener Komet oder eine seltsame Blume, die nur alle paar Jahre einmal blüht.

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SCHLANGE STEHEN

Was siehst du, wenn du dir diese Bilder von Schlange stehenden Engländern anschaust? Für Laien könnten diese Schlangen auf fast schon komische Weise langweilig und uninteressant sein: brav geordnete Leute, die geduldig darauf warten, an der Reihe zu sein. Tatsächlich haben schon viele über das Talent der Engländer fürs Anstehen gespottet, mit der Implikation, dass ein so berechenbares und folgsames Schafsvolk geradezu dazu prädestiniert ist, in langen, geordneten Reihen zu warten und zu leiden. Aber das kann nur daran liegen, dass sie sich die englischen Schlangen nicht genau genug angesehen haben. Wenn man solch gesittetes Verhalten mal durch die anthropologische Linse betrachtet, stellt man fest, dass sich in jeder Schlange in Wahrheit ein mikrokosmisches Minidrama abspielt—nicht einfach nur eine amüsante Sittenkomödie, sondern eine mitreißende Erzählung aus dem wahren Leben, voller zweifelhafter Machenschaften, Intrigen, moralischen Dilemmas, Schande, sich verschiebender Allianzen, Wut, Wiedergutmachung und Menschen, die ihr Gesicht wahren wollen …

Für die Recherche zu meinem Buch Watching the English: The Hidden Rules of English Behaviour habe ich mehrere Hundert Stunden damit verbracht, englische Schlangen zu beobachten. Und um die Gesetze der Schlangenetikette auszutesten, habe ich mich dazu gezwungen, im Rahmen eines Experiments die Todessünde zu begehen: mich nach vorne zu drängeln. Ich bin eine typische Engländerin, deshalb war das auch eine furchtbare Feuerprobe für mich—wahrscheinlich das Schlimmste, was ich je im Namen der Wissenschaft machen musste. Um die sozialen Regeln einer Nation auszutesten, muss man sie manchmal brechen. Normalerweise benutze ich dafür gerne einen ahnungslosen Hiwi und trage ihm auf, die heilige soziale Regel zu beschmutzen, während ich mir das Ganze aus sicherer Entfernung ansehe. Aber diesmal entschied ich, meine eigene Laborratte sein zu müssen. Wie diese mutigen Wissenschaftler und Ärzte, die Medikamente oder Viren an sich selbst austesteten. Und das führte mich zu einer doch sehr eigenartigen Entdeckung: Das Ironische am englischen Anstehverhalten ist die Tatsache, dass man hier einfacher mit Vordrängeln davonkommt als irgendwo sonst auf der Welt. Obwohl es ein großes Tabu ist, sich vorzudrängeln, gibt es hier wiederum andere soziale Regeln, die ins Spiel kommen: zum Beispiel, dass man in der Öffentlichkeit keine Szene macht, nicht zu viel Aufmerksamkeit auf sich lenkt, Fremde nicht anspricht und sich immer eher über ein Problem aufregt, anstatt tatsächlich etwas dagegen zu tun. Was bedeutet, dass das Schlimmste, was dir beim Vordrängeln passiert, sehr bösartige Körpersprache ist: wütende Blicke, Stirnrunzeln, hochgezogene Augenbrauen, laute Seufzer, pointiertes Hüsteln, verachtungsvolles Schnauben und generelles Genörgel hinter vorgehaltener Hand. Im Angesicht der Bedrohung durch Drängler brechen Engländer sogar die Regel, nicht mit Fremden zu sprechen, um entrüstet mit ihren Schlangennachbarn zu brummeln. Aber nur selten sprechen sie den Schuldigen selbst an. Manchmal passiert es—wenn der Akt des Vordrängelns besonders unverfroren war—aber es ist sehr ungewöhnlich. Es ist also einfacher, sich in England vorzudrängeln, wo es als Todsünde gilt, als in Ländern, wo es eher als ein geringfügiges Vergehen betrachtet wird. Allerdings nur, wenn man mit der Demütigung durch Augenbrauen, Schnauben und Genörgel umgehen kann—also nur dann, wenn man nicht aus England kommt. Ich glaube, man muss aus England kommen, um zu wissen, wie tief eine hochgezogene Augenbraue schneiden kann!

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Nur weil die Leute auf diesen Schlangenbildern geduldig und klaglos rüberkommen, heißt das nicht—wie offenbar viele der Kommentatoren glauben—dass wir das gern tun. Tun wir nicht. Wir hassen Anstehen wie alle anderen auch. Es macht uns sauer und gereizt, vielleicht sogar noch mehr als die Menschen anderer Nationalitäten. Denn wir nehmen die Prinzipien und Regeln des Anstehens ernster als sie—und außerdem ist unsere konstante Wachsamkeit und das Abschrecken von potenziellen Vordränglern durch hochgezogene Augenbrauen, Schnauben und das übrige Repertoire dieses „Körperenglisch“ ganz schön harte Arbeit. Wir beschweren uns vielleicht nicht lautstark darüber, wenn wir anstehen müssen— zumindest erreichen die Beschwerden höchstwahrscheinlich nicht den Kassierer oder Kartenabreißer oder wer auch immer es ist, der uns warten lässt—aber verwechselt unsere Stille bitte nicht mit Genügsamkeit oder gar Geduld. Kuck noch mal genauer hin und du wirst sehen, dass wir unseren Unmut und unsere Frustration durch noch mehr nonverbale Mikrosignale ausdrücken: laute Seufzer, entnervtes Augenrollen, geschürzte Lippen, Gezappel, Hüsteln, mit den Fingern klopfen und alle paar Sekunden betont auf unsere Uhr sehen. Leise reden wir mit uns selbst oder brechen sogar unsere Kontaktvermeidungsregeln, um hochgezogene Augenbrauen und Fratzen mit anderen Leidensgenossen zu teilen (und vielleicht, wenn wir wirklich sauer sind, reden wir sogar leise miteinander). Wie bei vielen der Bilder von Martin, die meine Texte inspiriert haben, stelle ich mir automatisch vor, was die Leute in diesen Schlangen wohl sagen. Das ist relativ vorhersehbar. Das Wort, das man am wahrscheinlichsten zu hören bekommt, wenn man sich neben den scheinbar geduldigen Leuten einreiht, ist: „Typical!“ Mit diesem einen, so vollkommen englischen Wort, das fast immer von einem Augenrollen begleitet wird, schaffen wir es manchmal, angefressen, stoisch-resigniert und selbstgefällig-allwissend zugleich rüberzukommen. Womit generell die englische Einstellung zu Schlange stehen, Regen, mittelmäßigem Essen, langsamem Service und den meisten anderen nationalen Frustrationen und Enttäuschungen zusammengefasst wäre. Wenn wir „Typical!“ vor uns hinmurmeln, drücken wir Ärger und Verdruss, zugleich allerdings auch eine Art widerwillig humorvolles Gefühl der Duldsamkeit aus—und irgendwo darin steckt sogar ein bisschen perverse Befriedigung: Der Regen oder die lange Schlange sind uns vielleicht lästig, aber immerhin wurden wir nicht davon überrascht. Wir wussten, dass das passieren würde, wir „hätten dir sagen können“, dass es regnen wird (weil es an Wochenenden, Feiertagen und bei besonderen Ereignissen immer der Fall ist) und dass eine lange, nervtötende Schlange vor der Ausstellung, dem Kaffeewagen, dem Bistro, der Bar, den Toiletten sein wird. Denn in unserer unendlichen Weisheit wissen wir, wie es läuft: Es gibt immer Schlangen, man stellt sich immer in die langsamste Schlange, man wartet immer ewig auf den Bus und dann kommen drei auf einmal. Nichts funktioniert je richtig, irgendwas geht immer schief und dann kommt auch noch dazu, dass es sowieso regnen wird. Uns wurden diese Sprüche in die Wiege gelegt und wenn wir erwachsen sind, ist uns diese Trübsinns-Attitüde längst ins Blut übergegangen. Auf eine eigenartige Weise stehen diese Leute auf den Bildern also gern an. Sie kommen in den Genuss eines typisch englischen Vergnügens—dem, die eigenen düsteren Prognosen bestätigt zu sehen.

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HUNDE

Diese Bilder zeigen eine sehr besondere und komplexe Beziehung. Sicher, auch andere Nationen haben Haustiere—ganz besonders Hunde—aber die übertriebene Tierliebe, zu der Engländer neigen, ist nach wie vor eine Eigenschaft, die uns charakterisiert. Eine Eigenschaft, die viele Ausländer verwirrend finden. Oft wird gesagt, dass die Engländer ihre Hunde wie Menschen behandeln, aber das ist nicht wahr. Ist dir klar, wie wir Menschen behandeln? Niemand würde je auch nur davon träumen, einem Hund gegenüber so kalt und unfreundlich zu sein. Ja, ich übertreibe, aber nicht sehr. Es ist Fakt, dass wir Engländer in unserer Beziehung zu Hunden viel offener, kommunikativer und expressiver sind als in den Beziehungen zu unseren Mitmenschen.

Wir leiden an einem Zustand, den ich die „britische Sozialverhaltensschwäche“ nenne—zusammenfassend für all unsere chronischen sozialen Hemmungen, unsere Engstirnigkeit, unsere Unfähigkeit, mit anderen menschlichen Lebewesen auf normale und unmittelbare Art zu interagieren. Sowohl die berühmte „englische Reserviertheit“ als auch der berüchtigte „englische Hooliganismus“ sind Symptome dieser Krankheit. Wenn wir uns in sozialen Situationen unwohl fühlen (also quasi immer), werden wir entweder überhöflich, zugeknöpft und merkwürdig zurückhaltend oder laut, rüpelhaft, grob, gewalttätig und allgemein unerträglich. Es scheint, als wären wir zu der spontanen, freundlichen Straßenecken-Geselligkeit, die den meisten anderen Nationen so leicht fällt, nicht in der Lage. Engländer vermeiden beharrlich jede soziale Interaktion mit Fremden; schon ein Augenkontakt, der über den Bruchteil einer Sekunde hinausgeht, gilt entweder als Anmachversuch oder als aggressiv. Allerdings haben wir kein Problem damit, lebendige und freundliche Gespräche mit Hunden zu führen. Das gilt selbst für fremde Hunde, denen wir nicht vorgestellt wurden. Engländer sind in der Tat in der Lage, südländisch-mediterrane Wärme, Enthusiasmus und Geselligkeit zu leben; wir können genauso direkt, zugänglich, gefühlvoll und taktil sein wie die sogenannten „Kulturen des Kontakts“. Diese Qualitäten zeigen sich allerdings nur in Bezug auf Tiere. Im Gegensatz zu britischen Menschen reagieren Hunde auf die Demonstration unenglischer Zuneigungsbekundungen in aller Öffentlichkeit weder peinlich berührt noch verstört. Das erklärt, warum Hunde den Engländern so wichtig sind: Sie repräsentieren die einzige signifikante Erfahrung einer offenen, unbeschränkten und emotionalen Bindung an ein anderes empfindsames Wesen.

Das Haus eines Engländers mag vielleicht sein Schloss sein, aber sein König ist der Hund. In anderen Ländern kauft man luxuriöse Fünf-Sterne-Zwinger und seidendurchwebte Körbe für seine Hunde, wir Engländer übergeben ihnen gleich das ganze Haus. Unseren Hunden ist es erlaubt, sich auf allen Sofas, Stühlen und Betten breit zu machen und sie bekommen mehr Aufmerksamkeit, Zuneigung und Quality Time als unsere eigenen Kinder. (Vielleicht ist es kein Zufall, dass die Königliche Gesellschaft zum Schutz von Tieren vor Gewalt über ein halbes Jahrhundert vor der Königlichen Gesellschaft zum Schutz von Kindern vor Gewalt gegründet wurde, obwohl es im Nachhinein scheint, als sei die Gründung letzterer eher eine logische Folge von ersterer.) Ein typischer englischer Haushalt wird oft von mehreren ausgelassenen, lauten und chronisch ungehorsamen Hunden geführt, deren unfähige Besitzer jeder ihrer Launen folgen und ihre kleine Vergehen liebevoll belächeln. Außerdem gibt es die ungeschriebene Regel, die jede Kritik am Hund einer anderen Person verbietet. Wie schlecht auch immer ein Hund sich benimmt—und wie wenig es dir auch gefallen mag, angesprungen, beklettert, gekratzt, im Schritt beschnüffelt, am Bein begattet und prinzipiell misshandelt zu werden—es steht dir nicht zu, schlecht von der Bestie zu sprechen. Das wäre eine schlimmere soziale Taktlosigkeit, als die Kinder dieser Person zu kritisieren. Wir kritisieren natürlich unsere eigenen Hunde, aber das geschieht immer auf zärtliche und nachsichtige Art: „Ach, der kleine Schlingel, das ist schon das dritte Paar Schuhe diesen Monat!“ In diesen „Ist er nicht schrecklich?“-Kommentaren schwingt mehr als eine Prise Stolz mit, als wären wir insgeheim verzaubert von ihren Missetaten. Ich vermute, dass die Engländer in Wahrheit Spaß haben an den Ungezogenheiten und Streichen ihrer Köter. Wir lassen ihnen all die Freiheiten, die wir uns selbst nicht gönnen. Die verklemmtesten Menschen auf dem Planeten haben die ungezogensten Tiere. Unsere Hunde sind Alter Egos, vielleicht sogar die symbolischen Inbegriffe dessen, was Therapeuten gerne als „inneres Kind“ bezeichnen (du weißt schon, das, mit dem du dich verbinden, das du umarmen und heilen sollst und so weiter). Nur ist dieses Kind in Wahrheit ein verwöhntes, verzogenes und nervtötendes Gör. Unsere Hunde verkörpern unsere Wildheit: Durch sie können wir die unenglischsten unserer Gefühle und Bedürfnisse ausdrücken; wir können alle Regeln brechen, wenn auch nur indirekt.

Dieser Faktor kann sich auch auf die Beziehungen zu anderen Menschen positiv auswirken. Eine englische Person hat zum Beispiel die Chance, mit einem Fremden ins Gespräch zu kommen, wenn einer von beiden einen Hund dabei hat. (Obwohl in diesem Fall beide eher geneigt sein werden, sich direkt mit der hündischen Anstandsdame zu unterhalten, als einander direkt anzusprechen). Sowohl verbale als auch nonverbale Signale werden mittels des völlig ahnungslosen Hundes ausgetauscht, der den Augenkontakt, die netten Begrüßungen und das Gestreichel gern absorbiert, das auf eine frische Bekanntschaft aufdringlich wirken würde. Ich schlage Besuchern aus dem Ausland und Immigranten stets vor, sich einen Hund anzuschaffen oder auszuleihen, wenn sie sich mit Einheimischen anfreunden wollen, und den Hund als Gesprächseinstieg und Vermittler sozialer Interaktion zu nutzen. Auch wenn Hunde universell beliebt sind, der Typ Hund, den du auswählst, zeugt von deiner Klassenzugehörigkeit—und in dem Land, das George Orwell nicht zu Unrecht als am meisten vom Klassensystem geplagtes Land unter der Sonne bezeichnete, ist das keine unbedeutende Angelegenheit. Die höheren Schichten bevorzugen eher Labradore, Golden Retriever, King Charles Spaniel und Springerspaniel, während die unteren Klassen sich eher für Rottweiler, Elsässer, Pudel, Afghanen, Chihuahuas, Pitbulls und Cockerspaniel begeistern. Es ist natürlich höchst unwahrscheinlich, dass englische Hundehalter zugeben würden, ihren Hund aufgrund von Klassenzugehörigkeit auszuwählen. Sie werden betonen, dass sie Labradore (oder Springerspaniel oder was auch immer) für ihr Wesen schätzen. Und wahrscheinlich sagen sie die Wahrheit, weil sie das von Klassengedanken geprägte Element ihrer Entscheidung gar nicht bewusst wahrnehmen. Aber die höheren Klassen werden sich einige der Hunde in Martins Bildern anschauen und leicht spöttisch von oben herab belächeln. Sie werden außerdem die soziale Schicht der Halter danach beurteilen, was der Hund trägt. Ober- und Mittelklassehunde tragen in der Regel einfache braune Lederhalsbänder, während Hunde der unteren Mittelschicht und darunter eher bunte Halsbänder, Schleifen und kleine Accessoires tragen. Nur ein bestimmter Typ von eher unsicheren Männern aus der Arbeiterklasse wird sich für Furcht einflößende, aggressiv wirkende Wachhunde entscheiden, die sie mit großen schwarzen Nietenhalsbändern bestücken. In der Regel sind ausschließlich Hundebesitzer aus der Mittelschicht und darunter an Hundeschauen interessiert—und auch nur sie würden einen Aufkleber mit der Aufschrift „Ausstellungshund an Bord“ an ihrer Heckscheibe anbringen. In der Oberklasse gelten Hunde- und Katzenschauen gemeinhin als eher vulgär—auch wenn sie selbst gerne Pferde und Ponys ausstellen. Das alles folgt keiner besonderen Logik, aber, wie schon gesagt, die oberen Klassen werden beim Anblick von Martins Hundeschaufotos wahrscheinlich die Augenbrauen hochziehen und süffisant grinsen. Die Besitzer der Hunde selbst aber würden diese versnobten Mikrosignale wahrscheinlich nicht mal wahrnehmen. Wie alle englischen Hundehalter sind sie einfach zu sehr damit beschäftigt, sich mit ihrem inneren Gör zu verbinden.