Die Flüchtlingsuni heute – Was ist mittlerweile aus dem idealistischen Projekt geworden?
Markus Kreßler, einer der Gründer von Kiron, Foto: Grey Hutton

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Die Flüchtlingsuni heute – Was ist mittlerweile aus dem idealistischen Projekt geworden?

Das erste Semester ist vorbei und für Kiron ist es ernst geworden.

Die potentiell größte Uni der Welt residierte bis vor Kurzem noch in einem Kreuzberger Hinterhof. Untergebracht in einem zweigeschossigen Co-Working-Space, dem Social Impact Lab, das den feuchten Träumen eines Start-up-Designers entsprungen zu sein schien und von SAP und dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert wird. Mittlerweile haben sie ein eigenes und größeres Büro bezogen. Kiron ist auf dem besten Weg, die Welt, wie wir sie kennen, zu verändern.

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Gegründet von Markus Kreßler und Vincent Zimmer, beide 25, soll Kiron eine Art internationale Universität für Flüchtlinge und Menschen ohne Papiere werden. Kiron ist natürlich keine reguläre Uni, mit Hörsaal und Mensa, sondern vermittelt den Zugang zu Hochschulbildung. Das erste Semester fing im September 2015 an. In diesem April werden die nächsten Studenten angenommen.

Zugang zu Bildung ist in Deutschland und international besonders problematisch für Flüchtlinge. Die Hürden, zu einer Universität zugelassen zu werden, sind hoch, besonders wenn Papiere und Unterlagen fehlen oder verloren gegangen sind. Während dem eigentlichen Asylantrag dürfen Flüchtlinge in Deutschland nur sehr wenig; arbeiten und sich weiterbilden gehören nicht dazu. Die Hauptbeschäftigung der meisten Geflüchteten besteht aus Warten. 2015 sind in Deutschland etwa eine Million Flüchtlinge ankommen. Das sind eine Million Menschen, die ausschließlich warten werden. Gleichzeitig meldet die Bundesagentur für Arbeit über 600.000 freie Stellen. Die Agentur begrüßt die Flüchtlinge eindeutig und spricht von einer „Riesenchance" für den Arbeitsmarkt. Gleichzeitig sagt aber ein Sprecher auch, dass Investitionen in Sprache, Qualifizierung und Ausbildung nötig seien.

Dieser Film, in dem auch Geflüchtete zu Wort kommen, die mit Hilfe von Kiron anfangen konnten zu studieren, läutete die Crowdfunding-Kampagne ein, mit der über eine halbe Million Euro gesammelt werden konnte.

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Ich treffe Markus am frühen Nachmittag im Büro von Kiron. Er hat bis halb sechs morgens gearbeitet und ist seit zehn Uhr wieder auf den Beinen. Im letzten November war ich zum ersten Mal hier, damals gab es etwa 70 Mitarbeiter; im Berliner Büro waren es an dem Tag, an dem ich Markus traf, 15. Mittlerweile sitzen im Berliner Büro 40 Menschen, weltweit 250. Dabei sind die zahlreichen Freiwilligen nicht mitgezählt. Bei Kiron sammeln sich hochqualifizierte Menschen aus aller Welt, die ehrenamtlich daran arbeiten, die Universität für Flüchtlinge zu verwirklichen und weiterzuentwickeln. Einer von ihnen ist Florian Rücker (27), der einen Master in Entwicklungsstudien in Cambridge gemacht hat und für die Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit in Kenia war. Er glaubt, dass „die Lücke zwischen dem, was wir machen könnten, und dem, was wir machen" im Bildungsbereich riesengroß ist. Dadurch, dass die Universität auf ehrenamtliche Helfer angewiesen ist, herrscht allerdings auch eine gewisse Fluktuation. Trotzdem glaubt Florian, dass schon eine Art Stabilität erreicht ist, obwohl immer Leute, vor allem mit Auslandserfahrung, gebraucht werden. Das Projekt ist an „einem Punkt maximaler Beschleunigung angekommen, jeden Tag gibt es eine neue große Nachricht".

Viele der ehrenamtlichen Helfer erzählen eine ähnliche Geschichte wie der Gründer Markus, der vor Kiron als Werkstudent bei einer Unternehmensberatung gearbeitet hat. Er sagt: „Den ganzen Tag über hat einem eigentlich die Arbeit Spaß gemacht, aber abends fragst du dich nach der Sinnhaftigkeit dahinter. Solange es diese Zustände auf der Erde gibt, will ich keine Luxusimmobilien vermarkten oder großen Pharmafirmen dabei helfen, noch größer zu werden."

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Vincent (links) | Alle Fotos: Grey Hutton

Auch Vincent, der zusammen mit Markus die Universität gegründet hat, kommt aus dem Start-up-Bereich, hat vor Kiron mehrere Unternehmen gegründet und beschreibt seine vorherigen Jobs mit den Worten „Aufmachen, großmachen, verkaufen". Abseits von rein kapitalistischer Verwertung hatte er mit Kiron eine Idee, von der er hofft, auch noch in 20 Jahren daran arbeiten zu können.

Sinn scheinen viele Leute hier zu finden. Auch Teodora Blendu, eine 26-jährige in Rumänien geborene Amerikanerin, die mit Zwischenstopp in Brüssel und bei verschiedenen Start-ups jetzt ebenfalls für Kiron arbeitet. Sie ist Grafikdesignerin und glaubt, wie wahrscheinlich die meisten im Team, an Integration durch Bildung. Markus beschreibt das so: „Wir sagen ganz bewusst, dass bei uns Integration unter dem Dach eines Universitätsstudiums läuft. Unser primärer Fokus ist nicht der Abschluss, eigentlich wollen wir ein Ökosystem aufbauen, das Bildung für Flüchtlinge bietet."

Kiron ist weit mehr als eine „Online-Universität". Das ganze Projekt soll Flüchtlingen auf der ganzen Welt ermöglichen zu studieren, kann aber auch dazu dienen, eine Ausbildung zu machen oder an Praktika zu kommen. Man will perspektivisch auch bei der Jobvermittlung helfen. Gleichzeitig ist aber auch der Weg das Ziel. So oder so werden Menschen, die ein Studium absolvieren oder es anfangen, Wissen mitnehmen. Vermutlich werden es nicht alle aus zeitlichen und organisatorischen Gründen schaffen, das Programm quasi fehlerfrei durchzuziehen. Das würde bedeuten, dass nach einem einjährigen Studium Generale eine Spezialisierung erfolgt und man nach zwei oder drei Jahren zu einer der Partner-Unis wechselt, um dort (zumindest teilweise) vor Ort weiterzustudieren. Und Partner-Unis gibt es mittlerweile einige: zum Beispiel die TWTH Aachen, die FH Lübeck, die Uni Kassel und weitere private und öffentliche Schulen. Gleichzeitig geht Markus davon aus, dass das Studium (es wird Vorlesungen auf Deutsch, Französisch, Englisch und Arabisch geben) Flüchtlingen dabei helfen wird, Deutsch und Englisch zu lernen: „Es wird sich wahrscheinlich bei vielen drei, vier oder fünf Jahre hinziehen, bis sie bereit sind, ins dritte Jahr einzusteigen, aber wenn du vier Jahre auf Englisch studiert hast, die ganzen Deutschkurse machst, die wir anbieten, dich mit den ganzen Apps beschäftigst, die es gibt, dich mit Leuten auf dem Campus oder andere Leute triffst, die schon an den Partner-Unis studieren, ist das wahrscheinlich ein Umfeld, in dem du besser Deutsch lernst als in den üblichen Deutschkursen."

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Markus und Kollegen im ursprünglichen Kiron-Hauptquartier

Gerade im Start-up-Game, zu dem man Kiron durch Personal und Sprache zählen kann, sind vollmundige Versprechungen nicht selten. Trotzdem ist der sehr große Ansatz, den Markus und seine Mitstreiter versuchen zu realisieren, vielleicht wirklich eine Antwort auf viele Probleme, die in Deutschland herrschen. Gut ausgebildete Menschen zahlen in der Regel jährlich 22.000 Euro in die Steuerkassen ein. Deutschland ist vom demographischen Wandel besonders stark betroffen, was sich auch im Sozialsystem bemerkbar macht. Dadurch, dass die Ausbildung, die Kiron bieten will, sich nicht nur auf Universitäten beschränkt, sondern eben auch andere Bereich des Arbeitsmarktes abdecken wird, könnte damit ein Teil beigetragen werden, um die Probleme, die dieses Land erwartet, zu verkleinern. Und immerhin sind etwa 50% der ankommenden Menschen unter 18.

Eigentlich ist es bemerkenswert, dass noch niemand vorher die gleiche Idee hatte. Für Menschen, die unter den Umständen leben, wie viele Flüchtlinge es tun müssen, ist das Konzept von Kiron vermutlich perfekt, weil es große Flexibilität erlaubt und gleichzeitig die bürokratische Hölle, die wir Deutschland nennen, umgeht oder zumindest erleichtert, Markus beschreibt die aktuelle Situation von Geflüchteten so: „Du kommst nach Deutschland, musst erstmal bis zu ein Jahr warten, bis du ein Interview bekommst, um überhaupt mal in den Asylbewerberprozess reinzukommen. In der Zeit darfst du gar keine Kurse machen. Dann machst du einen Sprachkurs, quälst dich vielleicht ein zwei Jahre, immer noch in der Ungewissheit, ob du überhaupt bleiben darfst. Wenn du das dann gepackt hast, kannst du ans Studienkolleg gehen, um da dein Abitur nachzumachen, was nochmal ein Jahr dauert, um dich danach an einer deutschen Uni zu bewerben, wo du dann abgelehnt wirst." Tatsächlich gibt es bereits seit 1992 die „Deutsche Akademische Flüchtlingsinitative Albert Einstein", diese erlaubt aber faktisch nur einem Bruchteil der dazu fähigen Menschen zu studieren.

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Das UNHCR bemängelt immer wieder die Hürden, die Flüchtlingen (auch weltweit) in den Weg gelegt werden. Dazu gehören Schwierigkeiten bei der Anerkennung von Zeugnissen und Abschlüssen, der legale Status der Person als im Idealfall Geduldeter, die wenigen Plätze im ersten Semester und die Ausländerquote, die bestimmt, dass nur ein geringer Anteil an Studienplätzen an Nicht-Deutsche vergeben wird.

Kiron will diese Hürden umgehen und gleichzeitig ein flexibles, niedrigschwelliges System schaffen, „du kannst anfangen und dir soviel Zeit lassen, wie du willst." Er fährt fort: „Und während du das alles durchläufst, hast du wenigstens eine Perspektive. Du weißt, solltest du [als Asylsuchender] anerkannt werden, bist du zumindest schon im dritten Studienjahr und hast die ganze Zeit was getan. Selbst wenn man abgeschoben wird, versucht man es vielleicht mal in der Türkei, da haben wir auch eine Partner-Uni, zu der man gehen kann."

Start-up-Coworking-Stereotype werden auch bei Kiron erfüllt: das gemeinsame vegetarische Mittagessen

Wenn man sich auf den Seiten der sogenannten „Asylgegner" umschaut und den Hass und die rassistische Hetze sieht, mit denen viele Menschen nur so um sich werfen, fragt man sich irgendwann, wo diese Leute eigentlich herkommen und in was für einer Welt sie aufgewachsen sind. Die gleiche Frage könnte man sich auch bei Menschen wie Markus stellen. Vielleicht ein „linksgrünversiffter" Professorensohn, der nicht weiß, wie der „kleine Mann" da draußen lebt, wie es der gemeine „Asylkritiker" vermutlich ausdrücken würde. Tatsächlich hat er aber eine ganz andere Geschichte zu erzählen. Er ist in Jena geboren und in einem Dorf im Taunus aufgewachsen: „Ich komme aus einem Dorf, wo keine großen Willkommensfeste für Flüchtlinge gefeiert worden wären, mit Sicherheit würde es auch keine Aufstände geben. Aber dort herrscht ein einfaches Leben. Meine Eltern waren eigentlich selber Flüchtlinge, die aus der DDR, direkt als die Grenze geöffnet wurde, in den Westen geflohen sind." Auch wenn viele der Flüchtlingshasser den Vergleich mit der Situation Deutschlands 1989 ablehnen und sich in einem diffusen Volksbegriff suhlen, der davon ausgeht, dass mit der Wiedervereinigung ein gewaltsam getrennter Volkskörper endlich wiedervereint wurde, war die Situation für die DDR-Flüchtlinge in der BRD in vielen Aspekten überhaupt nicht anders, als sie sich heute für Menschen aus Syrien und dem Balkan darstellt, wie Markus erzählt: „Meine Eltern hatten auch das Problem, dass sie keine Arbeit hatten, weil sie keine Wohnung bekommen haben, und keine Wohnung, weil sie keine Arbeit hatten. Freunde haben uns dann ihr Haus überschrieben, damit mein Vater eine Arbeit finden konnte. Und so haben sie sich ein Leben aufgebaut. Sie sind mit dem Trabi und einem Koffer und mir—ich war auch noch krank damals—rübergekommen. Sie haben einfach gesagt: ‚Komm, wir fahren jetzt mal und versuchen, ein neues Leben zu starten.' Sie haben sich alles aufgebaut, aber mussten immer hart arbeiten."

Zum Studium zog Markus nach Mannheim, wo ihm vor einer Dönerbude bewusst gemacht wurde, wie geografische Zufälle das Leben bestimmen. Nach dem Ende des Semesters und auf dem Rückweg vom Feiern traf er gemeinsam mit Freunden auf Kabuko, einen Flüchtling aus Gambia, der nach einer Odyssee über Teneriffa und das spanische Festland in Deutschland angekommen war, allerdings nicht wusste wohin. Markus und seine Freunde nahmen ihn für ein halbes Jahr in ihrer WG auf. Kabuko war sehr gut ausgebildet, aber vor der Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit in Gambia geflohen, und konnte in Deutschland keine Uni besuchen. Die Begegnung mit ihm öffnete Markus die Augen: „Da sind Menschen, die jedes Potential haben, aber überhaupt keine Möglichkeit, dieses Leben mitzuleben. Er musste Tagelöhnerjobs annehmen, während wir von unseren Eltern versorgt wurden. Das erlebst du dann Zimmer an Zimmer mit."

Natürlich reichen der gute Wille und die Euphorie für die eigene Idee nicht immer und obwohl Kiron bereits mit über 100 Unis spricht und sich davon ein Großteil bereit erklärt hat, an dem Programm teilzunehmen, gibt es trotzdem auch Kritik, vor allem aus den Reihen der „besorgten Bürger". Sie fühlen sich wie so oft ungerecht behandelt, bedenken dabei aber nicht, dass das Angebot von Kiron tatsächlich für alle gilt, auch wenn man ein besonderes Gewicht auf Flüchtlinge legt. Auf die Frage, was das Worst-Case-Szenario für Deutschland bezüglich der Geflüchteten sei, antwortet Markus: „Das Schlimmste, was dem deutschen Steuerzahler passieren kann, ist ein Nullgeschäft. Kiron schafft neue Arbeitsplätze in Deutschland, das einzige, was Geld kosten könnte, wäre, wenn die Menschen kriminell werden oder Gesundheitsleistungen in Anspruch nehmen. Aber das sind alles Dinge, die durch Bildung verhindert werden können."

Und tatsächlich belegen Studien, dass Menschen ohne Perspektiven und eben gerade auch traumatisierte Menschen, die aus ihrem alten Leben und ihrer Umgebung flüchten mussten, viel stärker von psychischen Krankheiten betroffen sind. Das ewige Warten auf Entscheidungen der Bürokratie ist zermürbend. Eine niederländische Studie aus dem Jahr 2004 belegt, dass psychische Krankheiten bei Flüchtlingen zunehmen, je länger sie ohne Beschäftigung einfach nur warten müssen.

In einem Land, in dem die Asylgesetze immer weiter verschärft werden, der Innenminister sich darüber beschwert, dass Geflüchtete sich nicht vor Dankbarkeit einnässen, und regelmäßig Flüchtlingsunterkünfte mysteriöserweise in Flammen aufgehen, ist Kiron ein Lichtblick. Wenn Markus und Vincent und ihr Team es schaffen, dieses gigantische Projekt tatsächlich zu realisieren, würde das nicht nur potentiell Millionen von Menschen helfen, sondern auch noch was Gutes für Deutschland tun. Obwohl ich nicht so sicher bin, ob ich das den „besorgten Bürgern" dieses Landes wirklich wünsche.