Die Geschichte von Claudette

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Die Geschichte von Claudette

Claudettes Intersexualität hat sie nie davon abgehalten, zwischen Berufen wie Schweißerin und Personalchefin hin und her zu wechseln. Der Prostitution, ihrer eigentlichen Leidenschaft, ist sie aber immer treu geblieben.

Als ich damals in der Schweiz lebte, arbeitete ich ehrenamtlich für eine Vereinigung namens Aspasie, die sich für die Rechte von Prostituierten einsetzt. So habe ich Claudette kennengelernt—ein Mitglied dieser Vereinigung und selbst Prostituierte.

Zum ersten Mal haben wir uns im November 2011 in einem Genfer Café getroffen. Wir sind sofort gut miteinander ausgekommen. Claudette war diejenige, die vorschlug, dass ich eine Foto-Story über sie machen sollte. Darüber hatte ich zwar schon nachgedacht, aber ich traute mich nicht, diesbezüglich nachzufragen. Ich wollte, dass wir zuerst noch mehr Zeit miteinander verbringen. Im Laufe der darauffolgenden Wochen lernte ich zuerst ihre Freunde, ihre Ehefrau und ihre Familie kennen. Dann gestattete sie es mir schließlich, sie in ihrem Zuhause zu fotografieren.

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Claudette ist 76 Jahre alt und intersexuell. Das bedeutet, dass sie ohne eindeutige körperliche Geschlechtsmerkmale geboren wurde. Wenn heutzutage ein Kind so auf die Welt kommt, wird es noch immer oftmals sofort operiert und im Allgemeinen zur Frau gemacht—eine Vagina ist leichter zu formen als ein Penis. Dabei wissen die Ärzte gar nicht, welche Sexualhormone das betroffene Kind in den Jugendjahren mal produzieren wird. 1937 waren Claudettes Eltern ihrer Zeit schon ziemlich weit voraus und ließen Claudette ihre Identität selbst aussuchen. Offiziell wurde sie dennoch als Junge angesehen, weil man (vor allem damals) als Mann einfach viele Vorteile genoss.

Claudette hat sich trotzdem immer mehr als Frau gesehen und ist in ihrem Leben zwischen den Geschlechtern hin und her gesprungen. Sie spricht jedoch nicht wirklich gerne über dieses Thema und geht dem Problem oft aus dem Weg, indem sie Unisex-Sportklamotten trägt.

Mit 16 arbeitete Claudette zum ersten Mal als Prostituierte. Damals lebte sie mit ihrer Familie in Marokko, wo sie sich in eine Nachbarin namens Carmen verliebte. Carmen zeigte Claudette, wie viel Vergnügen Sex und Männer bereiten können. Als dann klar wurde, wie viel Spaß Claudette an beiden Dingen hatte, schlug Carmen ihr vor, sich an ihrem Arbeitsplatz vorzustellen—ein Bordell in Tanger.

Während der marokkanischen Unabhängigkeitsbestrebungen der 50er Jahre entschieden sich Claudettes Eltern dazu, wieder in die Schweiz zurückzukehren. Damals studierte sie gerade. Zur finanziellen Unterstützung überließ Carmen Claudette ihr gesamtes Geld, das sie im Bordell verdient hatte. Dank dieser Hilfe konnte Claudette ihr Architekturstudium in der Schweiz fortsetzen.

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Prostituierte war aber nicht der einzige Beruf, dem Claudette in ihrem Leben nachging. Zwar war das immer dann ihr Plan B, wenn sie Geld brauchte, aber vor allem war es auch ihre Art, sich wie eine Frau zu fühlen. Ansonsten stehen die unterschiedlichsten Tätigkeiten auf der Liste ihrer beruflichen Tätigkeiten—zum Beispiel Schweißerin, Personalchefin, Architektin, Vertriebsmitarbeiterin in einem amerikanischen Unternehmen oder Sophrologin. Und das ist nur ein kleiner Auszug.

Später wurde Claudette dann Vater und musste sich dementsprechend wie ein Mann verhalten. In ihrem Privatleben hat sie nie ein Geheimnis aus ihren Kurven gemacht, aber sie wollte auch nicht, dass ihre Kinder irgendwelche Probleme in der Schule bekommen. Deshalb hielt sie sich in der Öffentlichkeit eher bedeckt. Inzwischen ist Claudettes Nachwuchs alt genug und die Meinungen anderer Leute sind ihr jetzt egal. Sie steht aktiv und öffentlich für die Rechte von Sexarbeitern ein. Claudettes Frau André hat schon immer von ihrem Zustand und ihrem Beruf gewusst und unterstützte sie bei all ihren Entscheidungen.

Heute lebt Claudette in Haute-Savoie, einer französischen Stadt eine Stunde außerhalb von Genf. Ihre Zeit verbringt sie mit ihrer Familie, ihrer Arbeit, ihrem Aktivismus und Fahrradfahren. Früher empfing sie ihre Kunden noch in einer eigens dafür gedachten Wohnung, aber seit ein paar Jahren besucht sie ihre Freier verstärkt bei ihnen zu Hause. Manchmal ist sie auch auf dem Boulevard Helvétique anzutreffen—diese Gegend gilt als das Rotlichtviertel Genfs.

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Für diese Fotoreihe musste ich mir Claudettes Vertrauen Stück für Stück erarbeiten. Ich wollte zeigen, dass Prostitution ein komplexes Tätigkeitsfeld ist, das nicht immer nur auf Ausbeutung herunter gebrochen werden kann. In der Vergangenheit wurde Claudette von Journalisten schon mehrere Male sehr einseitig dargestellt: In den Artikeln wurde sich nur auf einen Aspekt ihres Lebens konzentriert und ausschließlich darüber berichtet, wie sie ihre geschlechtlichen Umstände mit ihrem Job vereinbart. Mir gelang es, sie davon zu überzeugen, dass es dieses Mal anders sein würde (hoffentlich ist mir das auch gelungen).

Ich wollte zwar Nacktfotos von Claudette machen, dabei aber nicht jedes Detail ihres Körpers zeigen. Als ich ihr diesen Vorschlag machte, sind wir zusammen auf die Idee mit dem Handtuch gekommen. Ich habe mich auch mit einem von Claudettes Kunden getroffen, der gleichzeitig einer ihrer engsten Freunde ist. Ich erzählte ihm, dass ich gerne unverfängliche Bilder schießen würde und was meine Beweggründe dafür wären. Er willigte ein und ließ mich ihn fotografieren.

Wenn Claudette über ihre Kunden redet, dann ist das sehr bewegend. Ich erinnere mich noch an eine Geschichte: Einmal kam ein Freier schon zum Orgasmus, als Claudette ihn nur an seinem Oberschenkel berührte. Das war ihm so peinlich, dass er sofort wieder gehen wollte. Claudette überredete ihn noch zu bleiben—er hatte ja schließlich schon bezahlt und sie wollte ihn nicht ausnutzen. So unterhielten sie sich und er gab letztendlich zu, dass vorzeitige Samenergüsse schon immer zwischen ihm und einer richtigen Beziehung standen. Claudette gab dem Mann nützliche Ratschläge, die er von da an befolgte. Ein paar Monate später erhielt sie einen riesigen Blumenstraßen mit einer Karte—der Kunde bedankte sich bei Claudette und schrieb, dass er jetzt eine glückliche Beziehung führe.

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Claudette und ich stehen noch immer in Kontakt. Das letzte Mal habe ich sie vor zwei Monaten bei meiner Hochzeit gesehen. Dort war sie mit ihrer Frau anwesend und sprach einen Toast aus. Bei dieser Gelegenheit hat sie auch meine Familie und meine Freunde kennengelernt. Sie ist gut mit meinem Mann und seinem Vater befreundet, denn die Beiden sind genauso begeisterte Fahrradfahrer wie sie.

Zur Zeit hat Claudette schwere gesundheitliche Probleme. Bei ihr wurde Kehlkopfkrebs diagnostiziert, aber dank einer anscheinend geglückten Operation befindet sie sich auf dem Weg der Besserung. Sie hat es sich zum Ziel gesetzt, innerhalb der nächsten drei Jahren den Radrennbahn-Weltrekord in der Altersklasse 80 bis 84 zu brechen.