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Die Lügen, die Prostituierte ihren Familien und Freunden erzählen

Die beste Versicherung dagegen, beim Lügen erwischt zu werden, ist, dass die Leute oft keine unangenehmen Fakten hören wollen.

Foto: Paul Falardeau | Flickr | CC BY-ND 2.0

Einige Jahre lang dachte mein Vater, ich würde für eine Catering-Firma arbeiten. Ich hatte in einer Restaurantküche gearbeitet, bevor ich Escort wurde, von daher passte die Geschichte zu meinen Fähigkeiten und meinen unregelmäßigen Arbeitszeiten. Er hatte früher auch in der Gastronomie gearbeitet, also hatten wir das gemeinsam. Ich setzte regelmäßig den machohaften, empörten Tonfall auf, den ich in Restaurants gelernt hatte, und schimpfte über die fiktiven Fehler meiner Kollegen.

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Wenn du neugierige Menschen loswerden musst, langweile sie mit Feindseligkeit. Funktioniert jedes Mal.

Die Lüge schien eine Zeit lang ganz gut zu funktionieren. Doch ich war nicht unausgeschlafen und gestresst genug. Die Backblech-Narben an meinen Unterarmen verblassten und verschwanden. Die Fragen wurden langsam sehr gezielt, also musste ich extravagante Hochzeiten erfinden, und dann wurde ich zur Teamleiterin befördert und musste immer „Schätzungen vor Ort" durchführen.

Ich hoffte, dass es meinem Vater reichte, wenn ich glücklich war und nicht beabsichtigte, wieder in seinen Keller zu ziehen. Die Kinder seiner Freunde flogen dank der unsicheren Wirtschaftslage scharenweise zurück ins Nest. Die Sexarbeit ist nicht völlig sicher vor der Rezession, aber so gut wie.

Doch es war das Geld, das die Lüge platzen ließ. Mein Vater ist nicht naiv—Caterer leben nicht in Manhattan, außer sie verteilen gar nicht Horsd'oeuvres, sondern Kokain. Mir wurde klar, dass wir beide logen: Ich log über das, was ich tat, und er log, dass er mich nicht für eine Lügnerin hielt.

Welche Lügen erzählen Menschen, die in der Sex-Industrie arbeiten? Das hängt zu aller erst einmal davon ab, was sie genau tun. Die Woche einer unabhängigen Escort verläuft unregelmäßig und variabel. Ich verbringe etwa ein Drittel meiner Arbeitszeit mit den Kunden und muss meine Einnahmen mit der Zeit verrechnen, die ich an meinem Laptop verbringe, um Traffic zu generieren, Tweets zu posten und unbeschwert klingende, schmeichelnde Nachrichten an Stammkunden zu schicken. Die meisten Termine sind nachmittags und am frühen Abend.

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Eine Escort namens Jane (ich habe alle Namen in dieser Story geändert) erzählt allen, sie sei Immobilienmaklerin. Es passt zu ihrem und erklärt ihr schwankendes Einkommen. Das ist eine gute Geschichte, aber sie kann schnell zu Problemen führen.

„Vor zwei Jahren hat mir meine Tante ein Blind Date vermittelt, und nachdem ich ja gesagt hatte, erzählte sie mir, er könne mir vielleicht einen Job in seiner Firma besorgen", sagte sie mir. „Daraufhin habe ich ganz schnell ‚im Fitnessstudio jemanden kennengelernt'."

Escorts, die für Agenturen arbeiten, sehen sich anderen Herausforderungen gegenüber. Wenn eine Escort sich bei einer Agentur anmeldet, dann bedeutet das, dass sie angezogen und zum Arbeiten bereit ist; wenn sie gebucht wird, muss sie innerhalb einer vorher vereinbarten Zeitspanne beim Kunden ankommen. Große Agenturen in New York City versprechen den Kunden, jede Adresse in Manhattan innerhalb einer halben Stunde zu bedienen. Es ist keine Garantie wie vom Pizzaservice—wenn sie nach 31 Minuten ankommt, gibt es nichts gratis. Da es unter diesen Bedingungen nicht möglich ist, zu Hause in Brooklyn zu warten, muss die Lüge erklären, warum sie am frühen Abend mit vollem Make-up aus dem Haus geht und zu unterschiedlichen Zeiten in der Nacht wiederkommt.

Karen, die sich ihren Abschluss als Buchhalterin mit Escorting finanziert hat, erzählte ihrer osteuropäischen Familie, sie sei Party-Promoterin. Das war immerhin recht nah an der Wahrheit, da sie die meiste ihrer Wartezeit in Clubs verbrachte.

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Lauren, eine weitere Escort für eine Agentur, verabschiedete sich abends von ihren vier Studenten-Mitbewohnern in Brooklyn, um „Bürogebäude reinigen" zu gehen. Ungeschminkt, in Leggings und mit einem Rucksack fuhr sie mit dem Zug zu einer Kollegin in Chinatown in Manhattan. Sie leisteten einander Gesellschaft, während sie sich fertig machten und darauf warteten, dass ihre Telefone klingelten.

Es war nicht perfekt, doch eine Zeit lang funktionierte es. „Ich log sie nicht gerne an, und die paar Mal, als ich spät noch gebucht wurde, musste ich mir verrückte Geschichten ausdenken", sagte sie mir. „Einmal habe ich ihnen gesagt, dass ich mit meinem Chef in seinem Büro Sex hatte. Es ist seltsam, dass das OK war, aber die Wahrheit nicht."

Stripperinnen haben wieder andere Herausforderungen. Die Stunden sind fest und sie können auf dem Arbeitsweg tragen, was sie wollen, doch es bedarf einer maßgeschneiderten Lüge, um zu erklären, warum man um 5 oder 6 Uhr morgens erschöpft und mit einem dringenden Bedürfnis nach einer Dusche und einer Mahlzeit nach Hause kommt. Miranda sagte ihren Dates, sie arbeite als Barkeeperin, was ausreichte, so lange es nicht ernst wurde. Doch als eine richtige Beziehung entstand, wollte ihre Freundin sie bei der Arbeit besuchen. „Ich bekam Panik—ich dachte ernsthaft daran, mir einen Job als Barkeeperin zu besorgen, doch ich wusste nicht, wie ich so tun konnte, als sei ich dort schon länger", sagte sie. Ihre Lösung war es, zu behaupten, sie sei gefeuert und sofort in einem neuen Lokal eingestellt worden, sodass sie ein wenig warten müsse, bevor sie Besucher zur Arbeit bringen könne. Als sie dieselbe Geschichte ein weiteres Mal anwenden wollte, wurde sie erwischt und gestand alles.

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Natürlich war der Job nicht so ein großes Problem wie die Lüge.

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Jobs, bei denen die Arbeitszeiten tagsüber sind und die eine feste Adresse haben, machen es einfacher. Jill arbeitet in einem Domina-Salon, und zwar Montags bis Freitags von 10 bis 18 Uhr. Die Ausrüstung wird im Studio gelagert, wo es eine Dusche und WLAN gibt. Sie verlässt die Wohnung um 9:30 Uhr und ist um 18:30 Uhr wieder da. Ihre Babysitterin hält sie für eine Personalerin.

„Ich sollte mir etwas anderes ausdenken, ich habe keine Ahnung, was Menschen im Personalwesen machen", sagte sie. „Aber ich glaube, das weiß sonst auch niemand. Niemand fragt."

Lily studiert drei Tage die Woche und arbeitet an zwei Tagen in einem Massagesalon. Sie erledigt ihre Hausaufgaben in den Pausen. „Die meisten meiner Freunde wissen davon, und wenn nicht, kann ich den Computerraum im Keller als Ausrede nutzen; dort gibt es keinen Empfang", sagte sie mir.

Die beste Versicherung dagegen, beim Lügen erwischt zu werden, ist, dass die Leute oft keine unangenehmen Fakten hören wollen.

Betty postete eine Online-Anzeige, als sie 21 war. Sie wusste nicht wirklich, wie sie die finanziellen Zuwendungen der sogenannten „Sugar Daddys" erklären sollte, also griff sie zu Täuschung.

„Ich sagte meiner Mutter, ich hätte mein Handy im Radio gewonnen, bekäme ständig Gratis-Upgrades und würde nur halb so viel Miete bezahlen, wie ich es tue. Sie wollte es nicht wissen", erklärte sie.

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Die Unwissenheit ihrer Familie fing an, gewollt zu wirken. „Ich fing an, es weniger gut zu verstecken, aber sie wollte nichts wissen. Manchmal will ich es ihr sagen, [aber] so mache ich es ihnen leichter."

Wenn Lügen das Leben erleichtern können, dann kann ein Mangel an Lügen das Gegenteil bewirken. Dan ist heute in den Dreißigern und hat vor zehn Jahren als Escort gearbeitet. Er erinnert sich: „Ich habe meinen Eltern nie gesagt, wie ich mein Geld verdiente, aber ich habe es durch vier Jahre Studium geschafft. Es hat mich verletzt, dass sie nicht gefragt haben. Wussten sie es? Oder schafften sie es einfach, nicht daran zu denken?"

Nach einem Jahr meines vorgetäuschten Catering-Jobs fragte ich mich selbst, warum ich log. Abgesehen von gelegentlichen Anflügen der Scham hatte ich eigentlich kein Problem mit meinem Job. Meine Freunde unterstützten mich, ich hatte Geld und ich hatte auch die zweifelhafte Freude, mir Sorgen über viel normalere Dinge zu machen. Es nagte an mir, dass ich ständig lügen musste.

Wenn man sie versteckt, dann deutet das darauf hin, dass Sexarbeit prinzipiell schlecht oder falsch ist, und es war die Überzeugung, dass dem nicht so ist, die mich dazu brachte, ehrlich zu sein. Ich hatte es meinem Vater nicht gesagt, weil ich nicht wusste, wie er etwas verarbeiten würde, das derart stigmatisiert ist. Wenn ich es ihm sagte, würde er die Information vielleicht in die Gehirnschublade stopfen, in der Menschen erschütternde Informationen liegen- und versauern lassen.

Ich hatte nicht das Gefühl, dass es mein Recht war, eine solche Bombe in seinem Leben abzuwerfen.

Er ist hartnäckig und ich bin nicht gut im Alkoholtrinken, also kam es schließlich irgendwann raus. Die Unterhaltung verlief viel besser, als ich je erwartet hätte. Ich habe seit drei Wochen nicht mehr gelogen und es fühlt sich fantastisch an.