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Die 0,1 Prozent vom Bundespressestrand

Nach der Räumung des Occupy Wall Street Camps in New York, froren wir uns einen Tag, solidarisch mit den Leuten von Occupy Berlin, am Bundespressestrand den Arsch ab.

Verdienen die Wachowski Brüder eigentlich am Verkauf dieser Guy Fawkes Masken mit? Als ich von der Räumung des Zuccotti Parks mit den Menschen von Occupy Wall Street erfuhr, gab es auch für mich nur eines: Empörung! Also packte ich mir eine Thermoskanne mit Tee ein und fror mir solidarisch mit den Leuten von Occupy Berlin am Bundespressestrand den Arsch ab.
 
Die Räumung in New York war eine Mischung aus Vorwänden wie sanitäre Bedenken und Brandschutzbestimmungen und zog etwa 70 Verhaftungen nach sich. Zwei Monate hielt dort das Camp durch. Die Gesinnungsbrüder aus Berlin sind erst seit einer Woche vor Ort und müssen schon jetzt um ihre Zelte bangen. Am 30. November läuft der Vertrag der Pächterin Johanna Ismayr aus, die die Besetzer auf dem Bundespressestrand duldet. Dann wird das Inventar versteigert und Platz gemacht für Gebäude des Bildungsministeriums. Und auch wenn der Pächterin, die übrigens hochschwanger ist, Druck gemacht wird, weil die Besetzung dem ursprünglichen Pachtvertrag widerspricht, wird es voraussichtlich nicht zu einer vorzeitigen Räumung kommen. Nach Angaben der Besetzer läuft zwar eine Horde Anwälte heiß, die versucht die Räumung vorzuziehen, aber Saskia, eine der ersten am Platz und mit gutem Draht zur Pächterin, bleibt locker. „Es gibt Verhandlungen mit anderen Plätzen. Aber eigentlich bin ich gekommen, um zu bleiben.“
 
Aber was sind das eigentlich für Typen, die mitten im November eine kleine Zelt- und Strandparty in Berlin feiern? Eines ist klar, die bundesweite Empörung verlangt Opfer und braucht—neben warmen Socken—jede Hilfe, die sie bekommen kann. Der harte Kern der 99% in Berlin besteht jedenfalls aus einer Reihe unterschiedlichster Menschen, die sich eine leicht masochistische Leidenschaft für politisch motiviertes Wintercampen teilen.

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Das Sani-Zelt. Abgesehen vom allgemeinen Weltschmerz ist der Gesundheitszustand der Bewohner gut.

Das Camp an sich besteht aus etwa 25 Zelten, wovon die meisten frei für spontane Zeltbesetzungen sind. Es sind nur etwa 20 Menschen ständig vor Ort und die haben sich gut organisiert. Die Infrastruktur steht, Sanitäranlagen und fließendes Wasser sind vorhanden, es gibt eine gut ausgestattete Küche und jede Menge Optimismus: „Den Winter überstehen wir locker.“ Einige Medienvertreter sind auch da, unter anderem ein Fernsehteam für das ukrainische Fernsehen. Aber die Weicheier bleiben nicht lange hier in der Kälte. Ich wünschte, ich hätte noch ein zweites Paar dicke Socken angezogen.

 „Brennholz! Ohne Brennholz geht hier bald nichts mehr!“

Sofort nach meiner Ankunft werde ich selbst okkupiert. Ob ich wisse, wo man jetzt an Brennholz kommen könnte, die Vorräte würden langsam knapp. Ich muss leider verneinen, da ich wirklich nicht weiß, wo man in einer Großstadt an Brennholz kommen soll.

Das dynamische Duo Harry und Itzi. Unzertrennlich auch
 
Harry ist gelernter Maschinenbauer und hilft bei der Installation von Wasserhähnen und beim Holzhacken. Seiner Hündin Itzi hat er einen Rucksack auf den Rücken geschnallt. Die Hündin folgt ihm bedingungslos und hat auch kein Problem damit, ein laufender Werkzeugkasten zu sein. Die Tasche sei auch gar nicht so schwer, sagte Harry: „So ab acht Bierdosen wird’s etwas schwierig, aber auch das bekommt sie hin.“ Klingt logisch.

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Geschichte verpflichtet. The Next Wall to Fall: Wallstreet.

Tornado hilft gerne, wo er nur kann.

Tornados Grinsen ist ein wenig irritierend, da er kaum noch Zähne hat. Als selbsterklärter Weltenbummler besucht er zur Castorzeit auch gerne seine Freunde im Wendland. Er verdient sich ein bisschen Geld mit dem Verkauf von Obdachlosenzeitungen, für die er mir direkt ein Abo andrehen will. Eine Frau, die so aussieht, als wäre die gesamte Hippiebewegung ihrem Kopf entsprungen, rät uns im Vorbeigehen: „Das Wichtigste ist jetzt, so schnell wie möglich das Geld vom Konto holen!“ Tornado lacht laut und zeigt dabei seinen zahnloses Grinsen: „Ein Konto habe ich doch schon seit Jahren nicht mehr.“ Eine Wohnung leider auch nicht.

Ein Grund mehr ins Camp zu ziehen, das interne Arbeitsamt hat eine Menge freier Stellen.

Aber der Böse Wolf von heute hustet und prustet nicht mehr, sondern benutzt bald Wasserwerfer und Tränengas.
 
Am Abend begleite ich eine Gruppe von 50 Leuten zur amerikanischen Botschaft. Aus Solidarität für New York hält man eine Mahnwache. Kurz gibt es ein kleines Wortgefecht mit der Polizei, aber die merken schnell, dass keine Gefahr von ein paar durchgefrorenen Aktivisten ausgeht.

Aus Solidarität mit New York wird das menschliche Mikrofon vor der amerikanischen Botschaft installiert und mit rund 50 Menschen direkte Demokratie demonstriert. „Yes, We Camp!“ Nach einer Stunde ist alles vorbei.

Überhaupt ist für niemanden, mit dem ich gesprochen habe, Gewalt eine Option. Das würde auch dem Ethos des Ganzen widersprechen. Am Ende des Tages ist es eine soziale Bewegung ziemlich normaler Menschen, denen es egal ist, aus welchem politischen Lager du kommst, so lange du ihr neues Sozialbewusstsein teilst. Und obwohl es auch hier mehr negative Rhetoriken als echte positive Gegenvorschläge gibt,teilen alle eine einnehmende Art, die erfrischend frei von politischem Lagerdenken ist. Nicht die schlechteste Gesellschaft, wenn man mal im November Lust auf Zelten hat.