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DIE WALL STREET ISSUE

Die wundersame Utopie der Wall Street

Der Traum vom grenzenlosen Wohlstand und der Widerstand dagegen.

Man sagt ja, die Wall Street werde von Angst und Gier regiert. Obwohl das sicher stimmt, ist es aber nicht die ganze Geschichte. Es gilt darüber hinaus das Credo, dass all die Deals und Emotionen sich in einen sprudelnden Quell allgemeinen Wohlstands verwandeln werden. In einer wundervollen Metamorphose werden dann, wo einst nur Angst und Gier waren, Wachstum und Reichtum regieren. Die Meuten von Lower Manhattan haben sich dieser Überzeugung in fieberhafter Erregung verschrieben.

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Die Wall-Street-Utopie handelt mit Träumen. Sie basiert auf dem Vertrauen, dass der Markt es letztendlich schon richten wird—vorausgesetzt, dass jeder als rationaler Akteur auftritt, der auf der Grundlage von Informationen kauft und verkauft. Er ordnet das Kapital auf wundersame Weise genau den Investitionen zu, die das beste Ergebnis versprechen. Er ist ein universelles Hirn mit einem unsichtbaren Herzen. Die zigtausenden privaten Transaktionen verwandeln sich in einen Energieerzeuger kaum vorstellbaren Ausmaßes. Wall Street produziert die aufregendsten Fantasien—von einem Maserati, von Kokain, von Privatflugzeugen, von sechsstelligen Summen für Urlaubsreisen. Die Vision eines Ikarus, der nicht nur nahe an der Sonne fliegt, sondern danach auch noch auf seinen Füßen landet.

Die Utopie der Wall Street ist natürlich nicht nur die Utopie der Wall Street. Sie reicht weit darüber hinaus. Sie ist grenzenlos und global. Die Globalisierung ist ein blasser Name für die versprochene Verbrüderung der Menschheit—in einer Welt, in der jeder die universelle Sprache der Kosten-Nutzen-Rechnung spricht. Diese Utopie setzt nationale Grenzen außer Kraft. Rasse, Geschlecht, sexuelle Orientierung und Religion—nichts davon zählt. Ein Dollar ist ein Dollar. Und so schöpft die Wall Street auch jederzeit aus Vernunft Wohlstand, der schließlich und endlich der beste Beweis moralischer Überlegenheit ist. Den Gewinnern geht es gut, aber sie tun auch Gutes. Doch damit nicht genug. Da der Dollar eines jeden Menschen dem des anderen genau gleicht, ist diese Utopie am Ende sogar noch egalitär …

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Und da liegt dann auch gleich das Problem, nicht wahr? Dass ein paar Leute eine ganze Stange mehr Dollar haben als andere. Man braucht erst mal ein paar, bis man mehr machen kann. Man braucht eine Menge, bis man eine Menge machen kann. Die Plutokraten schieben ihre Dollar hin und her, um sich Privilegien zu erkaufen, und vermehren diese dann, wie in einer Pyramide, von einer Generation zur nächsten. Eines der ersten Dinge, das sie mit ihren Erträgen tun, ist, die Gesetze so einzurichten, dass ihnen ihr Vorteil auch in Zukunft erhalten bleibt. Sie kaufen Vorzugsaktien—exklusive Sicherheitsnetzwerke. Die Ungleichheit des wachsenden Wohlstandes ist also, gelinde gesagt, grotesk. Daher auch das Bild mit dem einen und den 99 Prozent, von dem in den letzten drei Jahren so viel die Rede gewesen ist.

Trotz all seiner Mängel in Praxis und Theorie hatte Occupy Wall Street verstanden, dass es einer Gegenutopie bedarf, wenn man eine falsche Utopie bekämpfen will. Occupy wollte eine solche Gegenutopie sein, und war es für eine gewisse Zeit vielleicht auch: für diejenigen, die die Zeit dafür hatten, die Jungen, die Arbeitslosen, oder die nötige Leidenschaft, um in den 2.000 Quadratmetern Granit des Zuccotti Park abzuhängen. Ein paar Monate lang bot die Besetzung den Leuten mit dem nötigen Interesse oder der nötigen Unverfrorenheit, Artikulationsfähigkeit und der Bereitschaft, einem recht ausgeprägten Mangel an Komfort zu trotzen, eine mehr oder weniger selbstbestimmte horizontale Gemeinschaft—ohne Anführer und ohne groteske Unterschiede in den Besitzverhältnissen—die sich nach keinerlei Regeln richtete, als denen, die das Camp selbst beschloss. Für manche fühlte sich das an wie das Paradies, für andere wie ein Kult.

Doch es gelang den zeitweiligen Bewohnern des Parks trotz der großen Ambitionen der Bewegung nicht, sich dem Ausmaß des Einflusses, den die Wall Street auf die kollektive Vorstellungswelt ausübt, auch nur im Entferntesten anzunähern. Sie verlangten zu viel von zu wenigen. Ressentiments gegen bestimmte Klassen, Rassen und Geschlechter kochten hoch. Die Abwesenheit kollektiver Forderungen führte zum Chaos. Trommler hielten sich nicht an Abmachungen und nervten eigentlich wohlgesonnene Leute aus der Nachbarschaft. Occupy funktionierte, bis zu viele verschiedene Stile und Proteste zu viele der Beteiligten abschreckten—und bis die Polizei das Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit schließlich mit Füßen trat.

Es wäre aber zu einfach, zu behaupten, dass die Auflösung des Camps beweise, dass hier ein Polizeistaat am Werke war. Brutale Vorfälle gab es zur Genüge, aber es war genauso proble­matisch, dass die Occupy-Leute behaupteten, für das Wohl der Welt zu arbeiten, aber dann dennoch eine exklusive Gruppe blieben. Eine abgeschlossene Gemeinschaft, isoliert nicht nur durch die Polizeibarrieren, sondern auch durch die Vorstellung, „ein paar wenige Besondere" zu sein.

Die Tragik unserer politischen Gegenwart liegt nicht nur in der Faszination der illusionären Utopie der Wall Street, sondern auch in der Nichtexistenz eines kollektiven Gegenvorschlags. Oder sollten wir besser sagen, der Noch-nicht-Existenz? Kämpfe gegen die Fehltritte der Mächtigen gibt es schließlich allerorten. Optimisten richten den Blick auf die Gesamtheit der lokalen Kämpfe gegen die Zerstörer der Erde und die Arroganz des Geldes und sehen Fragmente einer Gegenvision. Andere—zu denen ich mich eher zählen würde—sehen Ansätze einer solchen an den Rändern der wachsenden Klimabewegung.

Was Occupy Wall Street uns gezeigt hat, ist, dass man mit kleinen Splittergruppen keine großen Visionen umsetzen kann. Man braucht einen Geist, der so plausibel und gleichzeitig so ehrgeizig ist, wie sein Gegenpart. Denn die kollektive Vorstellungskraft hat bislang noch kein Ideal produziert, das es mit dem Glanz der Utopie der Wall Street aufnehmen kann, und der Bulle mit seinem Charme und seiner Bedrohlichkeit beherrscht weiterhin das Feld.