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Ein Wiener IT-Experte, der nach einer Demo in Berlin im Häfn sitzt, bleibt weiterhin in Haft

Im Juli demonstrierte der Wiener gegen die Räumung der Rigaer Straße 94. Sein Anwalt sagt, die Berliner Politik und Justiz wollen an dem 28-Jährigen aus politischen Gründen ein Exempel statuieren.
Das ehemals besetzte Haus in der Rigaer Straße. | Foto: Florian Boillot

Anmerkung: Die Pressestellen der Generalstaatsanwaltschaft Berlin und des Senats für Justiz Berlin waren zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Artikels für VICE nicht erreichbar.

Es ist ein Mittwoch im August 2016. Von den fast 40 Grad Außentemperatur bekommen die Gäste im klimatisierten Seminarraum eines der größten Hotels der Welt kaum etwas mit. In mehreren Konferenzräumen laufen Vorträge, Workshops und Seminare zum Thema Informationssicherheit. Internationale Vertreter von Regierungsbehörden und Unternehmen treffen während der renommierten Tagung auf Hacker und IT-Experten.

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In den Räumen I und J soll an diesem Mittwoch ein Vortrag zum Thema "Probleme mit der Nonce-Wiederverwendung" stattfinden—einem Themenbereich der Kryptographie, der unter anderem große Finanzinstitute und Kreditkartenunternehmen betrifft. Als einer der vier Vortragenden ist ein österreichischer IT-Experte angekündigt. Doch er erscheint nicht.

"Ich kann bestätigen, dass Aaron auf der Konferenz nicht gesprochen hat. In Details, die sich auf das Warum beziehen, sind wir nicht eingeweiht", bestätigt eine Sprecherin der Konferenz gegenüber VICE das Fehlen des Verschlüsselungsexperten. Was bei der Konferenz kaum jemand weiß, ist, dass Aaron zu diesem Zeitpunkt schon fast einen Monat in einer Einzelzelle der Justizvollzugsanstalt Moabit-Berlin einsitzt.

Aaron gehört zu jenen 86 Personen, die im Zuge einer Demonstration für den Erhalt des linken Hausprojektes Rigaer94 am Abend des 9. Juli 2016 in Berlin festgenommen wurden. Ihm wird schwerer Landfriedensbruch, gefährliche Körperverletzung, Sachbeschädigung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte mit vorsätzlicher Körperverletzung und Vermummung vorgeworfen. "Es geht um den klassischen Steinwurf auf einer Demonstration", erklärt Aarons Anwalt Nils Spörkel die lange Liste von Vorwürfen im Gespräch mit VICE. Aaron selbst schweigt bis heute zu den Vorwürfen. Vorbestraft ist er nicht.

Während 84 Verhaftete nach wenigen Stunden wieder auf freien Fuß gesetzt wurden, wurde über zwei Männer die U-Haft verhängt. Einer der beiden ist Aaron. "Ich glaube, es geht dabei auch darum, durch hartes Auftreten eine Anreise von vermeintlich Linksextremen zu einer Demonstration zu verhindern. Sämtliche Verhaftete mit einem Wohnsitz in Berlin, denen teilweise dasselbe vorgeworfen wird, wurden laufen gelassen. An den beiden Auswärtigen soll jetzt ein Exempel statuiert werden", meint Aarons Anwalt Nils Spörkel.

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Bereits seit Monaten war die Stimmung in Friedrichshain angespannt. Die Mieten sind in dem Berliner Bezirk bei Neuvermietungen seit 2009 um fast 60 Prozent gestiegen. Widerstand gegen die zunehmende Gentrifizierung in dem Viertel leisteten vor allem die Bewohnerinnen und Bewohner des ehemals besetzten Hauses in der Rigaer Straße 94. Weil die öffentliche Sicherheit nicht mehr gewährleistet wäre, wurde das Gebiet rund um die Rigaer94 kurzer Hand zum "Gefahrengebiet" erklärt. Eine enorme Polizeipräsenz und Schikanen gegen Bewohnerinnen und Bewohner der Rigaer Straße waren die Folge, wie zum Beispiel die Zeit berichtete.

Sicherheitsdienst und Polizei bewachen noch immer den Hauseingang. — Christian Vooren (@CV2OR)13. Juli 2016

Eine (später durch das Berliner Landesgericht für illegal erklärte) Teilräumung der Rigaer94 am 22. Juni ließ die Lage schließlich eskalieren. Die Bewohner der Rigaer94 sind "scheiße wütend". Autos brannten in ganz Berlin, Parteibüros und Fernsehstationen wurden angegriffen, Steine flogen auf Polizisten. Der Berliner Innensenator Frank Henkel formierte die Staatsmacht und versprach, entschlossen gegen "Linksextremisten" vorzugehen.

In der Realität bedeutete das allerdings lediglich, dass Hunderte Polizisten über Wochen dazu abgestellt wurden, Ausweiskontrollen bei unbeteiligten Anwohnerinnen und Anwohnern durchzuführen und einem einzelnen Eigentümer Zutritt zu einem kleinen Teil des Hauses zu verschaffen. Der Wahlkampf für die Wahl zum Abgeordnetenhaus in Berlin war in vollem Gange. Für Henkel ging es um seine politische Zukunft. Dass der Wahlkampf in Aarons Fall eine Rolle spielt, kann sich Anwalt Spörkel zumindest vorstellen: "Das gesamte letzte Jahr über war die Rigaer Straße absolutes Reizthema." Bei der Berliner Senatsverwaltung für Inneres sieht man das naturgemäß anders: "Das ist völliger Quatsch!", so die Pressesprecherin. Ansonsten wolle man ein laufendes Verfahren aber nicht kommentieren.

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Nach der Teilräumung am 22. Juni wird in linken Kreisen in ganz Deutschland zu einer Demonstration am 9. Juli in Berlin mobilisiert. Aaron war gerade nach einer dreimonatigen Reise durch Asien in Deutschland gelandet. "Nachdem ich in Koh Tao in Thailand einen Motorradunfall überlebt habe und beim Tauchen in Indonesien eine Nahtoderfahrung gemacht habe, bin ich zurück nach Europa geflogen—für das Fusion Festival, Arbeit und eine Konferenz in Berlin", schreibt er am 12. Juli in einem ersten Brief aus der JVA Moabit, der VICE vorliegt.

Die Polizei fing an, in Richtung der Demonstranten zu laufen und Leute zu schlagen. Einige Sekunden später fand ich mich am Boden wieder.

Am 9. Juli verabredet sich Aaron mit Freunden für den Abend zum Fortgehen. "Bevor wir etwas trinken gingen, beschlossen wir, noch an einer Demonstration zur Unterstützung eines besetzten Gebäudes in Friedrichshain teilzunehmen", so Aaron in dem Brief. Als sie am Demo-Treffpunkt ankamen, wurde Aaron laut eigenen Angaben von Polizisten in Kampfmontur gestoppt und durchsucht, dann aber weitergehen gelassen.

Das Polizeiaufgebot ist enorm, die Demonstration läuft fast von Anfang an im Polizeispalier. Manche verstehen das als Provokation, vereinzelt fliegen Flaschen und Steine in Richtung Polizei. Als die Demo gegen 22:00 Uhr in die Rigaer Straße einbiegt, geht plötzlich alles ganz schnell. Die Polizei versucht mit Greiftrupps in die Demonstration zu laufen und scheinbar wahllos Demonstranten herauszuziehen und zu verhaften. Das geht aus den wenigen Videoaufnahmen der Demo hervor.

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"Die Polizei fing an, in Richtung der Demonstranten zu laufen und Leute zu schlagen. Einige Sekunden später fand ich mich am Boden wieder—von meinen Freunden getrennt, geschlagen und gefesselt", erinnert sich Aaron an seine Verhaftung. Laut Aarons Angaben lag nur zwei Zentimeter von seinem Auge entfernt eine Glasscherbe, als er zu Boden gedrückt wurde. "Ich schrie, dass sie aufpassen sollen und habe mich nicht gegen meine Verhaftung gewehrt", so der Wiener IT-Experte.

2101 Frontbanner '— Felix Herzog (@flecks)9. Juli 2016

Aaron wird auf die Polizeistation Tempelhof gebracht, wo er mehrere Stunden festgehalten wird—einen Anwalt zu kontaktieren wird ihm während dieser Zeit angeblich verwehrt. Auch eine ärztliche Untersuchung findet dem Festgenommenen zufolge erst in der JVA Moabit statt, 40 Stunden nach der Verhaftung.

Zweieinhalb Monate sind mittlerweile seit Aarons Verhaftung vergangen. Der Fall erinnert immer mehr an den umstrittenen Prozess gegen den deutschen Studenten Josef S., der nach einer Demonstration gegen den rechten Akademikerball monatelang in Wien in U-Haft saß und schließlich wegen Landfriedensbruch, Sachbeschädigung und Körperverletzung zu einer 12-monatigen Haftstrafe verurteilt wurde.

Die U-Haft gegen Aaron wurde bisher aufgrund einer ungeklärten Wohnsituation und einer damit verbundenen Fluchtgefahr aufrecht erhalten, wie Lisa Jani, Pressesprecherin der Berliner Strafgerichte, gegenüber VICE erklärt. "Die Staatsanwaltschaft hat hier aber sehr, sehr unerbittlich gehandelt. Denn die ungeklärte Wohnsituation lag in einer alten Adresse die bei meinem Mandanten gefunden wurde", konkretisiert Aarons Anwalt. "Er hatte keinen Ausweis mit der aktuellen Wohnadresse dabei, den musste er erst über die Botschaft besorgen. Die Botschaft hat sich schließlich vor einem knappen Monat bei meinem Mandanten gemeldet." Thomas Schnöll, Sprecher des österreichischen Außenministeriums, bestätigt gegenüber VICE, dass Aaron von Botschaftsmitarbeitern in der Haft besucht wurde.

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Eine Verhaftung während der Demonstration am 9. Juli. Die Person auf dem Foto ist nicht Aaron. Foto: Florian Boillot

Am Dienstag fand erneut ein Haftprüfungstermin statt. Obwohl die Richterin für Aaron eine Haftverschonung gegen die Hinterlegung einer Kaution aussprach, muss der Wiener weiter in U-Haft bleiben. "Die Staatsanwaltschaft möchte trotz richterlicher Entscheidung unbedingt an dieser Haft festhalten und ist jetzt in ein Beschwerde Verfahren gegangen", so Aarons Anwalt Nils Spörkel. "Das ist durchaus etwas Ungewöhnliches." Die Entscheidung liegt jetzt beim Landgericht Berlin, das "über den Fall schnellstmöglich entscheiden wird", so die Pressesprecherin der Berliner Strafgerichte. Aarons Anwalt rechnet mit einer Entscheidung in ein bis zwei Wochen.

Der eigentliche Prozess gegen Aaron wird wohl nicht vor November beginnen. Bis dahin könnte Aaron bereits seit vier Monaten in U-Haft sitzen. Obwohl sich auch in diesem Fall—wie schon im Prozess gegen Josef S.—die Anklage ausschließlich auf Aussagen von Polizisten stützt und für eine U-Haft eigentlich die rechtlichen Gründe fehlen.

Unterstützung bekommen Aaron und der ebenfalls in U-Haft sitzende Balu seit Monaten von einer eigens gegründeten Solidaritätskampagne. Aktivisten der Kampagne gehen davon aus, dass die Staatsanwaltschaft ein Strafmaß von über zwei Jahren ohne Bewährung fordern will und auf Aaron und Balu im Falle einer Verurteilung erhebliche Kosten zukommen. Eine Einschätzung, die auch Nils Spörkel teilt.

Paul auf Twitter: @gewitterland


Titelfoto: Florian Boillot