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Der Typ, der junge, drogensüchtige Obdachlose entführt und sie in seiner DIY-Therapie behandelt

Als ehemaliger Sowjet-Soldat und selbsternannter Retter ist „Crocodile Gennadiy" der Mittelpunkt einer neuen Dokumentation. Wir haben uns mit deren Regisseur Steve Hoover unterhalten.
Daisy Jones
London, GB
Crocodile Gennadiy

Als im Jahr 1991 die Sowjetunion zusammenbrach, mussten auch die dazugehörigen sozialen Einrichtungen schließen. Die Folgen für Russland und Osteuropa waren verheerend: In den späten 90er Jahren gab es in den Straßen der Ukraine schätzungsweise 160.000 obdachlose Kinder, die unter diesen Umständen natürlich sehr wahrscheinlich von Sexarbeit, Drogensucht oder dem HIV-Virus betroffen waren.

Zu dieser Zeit hat auch der ehemalige Sowjet-Soldat Gennadiy Mokhenko (sein Spitzname lautet „Crocodile Gennadiy") mit der Arbeit begonnen, die ihn auch heute noch beschäftigt. Als ich zum ersten Mal von seinen Methoden hörte, kam mir das Ganze doch ein wenig unorthodox vor: Mokhenko entführt auf den Straßen der Ukraine obdachlose Jugendliche, steckt sie in seinen Transporter und schließt sie dann in seiner „Pilger"-Entzugsklinik ein, wo sie dazu gezwungen werden, der Droge abzuschwören, nach der sie süchtig sind.

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Zwar kann man die guten Absichten von Crocodile Gennadiy nicht bestreiten, aber eine Frage stellt sich trotzdem: Ist es wirklich legitim, dafür junge Menschen gegen ihren Willen mitzunehmen? Der Filmemacher Steve Hoover hat sich die letzten drei Jahre in der Ukraine aufgehalten und Crocodile Gennadiy für eine Dokumentation begleitet, die den gleichen Namen wie ihr Protagonist trägt. Ich habe mich mit Steve über den Dreh und die dabei gemachten Erfahrungen unterhalten.

Unsere Doku über die Droge Krokodil, die in Russland grassiert:

VICE: Hey Steve. Erzähl mir doch mal ein bisschen von der Arbeit, die Gennadiy macht.
Steve Hoover: Mir ist mit der Zeit klar geworden, dass sich diese Arbeit immer ändert. Das Ganze ist nicht wirklich festgelegt. Als ich mit der Dokumentation angefangen habe, dachte ich, dass er nur mit den Kindern arbeitet, die auf den Straßen der Ukraine leben. Da gehört allerdings noch viel mehr dazu. Ich glaube, dass er bei der Arbeit einfach nur seinem moralischen Kompass folgt. Im Film ist zum Beispiel auch zu sehen, wie ihn die Polizei anruft und ihm Kinder vorbeibringt. Er ist hier wie so eine Art Sozialarbeiter, ein Pastor.

Warum nehmen so viele ukrainische Kinder Drogen?
Als Gennadiy 1999 mit seiner Arbeit anfing, hatte es diese Probleme auch schon lange vorher gegeben, nämlich seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Ich glaube allerdings nicht, dass es dafür einen bestimmten Grund gibt. Es herrscht einfach eine gewisse gesellschaftliche Gleichgültigkeit. Die Jugendlichen auf der Straße nehmen Drogen, um mit ihren Problemen fertig zu werden oder um sich warm zu halten. Sie kommen oft aus zerrütteten Familien und ihre Eltern sitzen im Gefängnis oder sind tot—dann beginnt da automatisch ein Teufelskreis. Gennadiy ist schon immer der Meinung gewesen, dass die Sozialdienste unfähig sind. Sie haben einfach nicht schnell genug reagiert—hilfsbedürftige Kinder waren dann in Verhältnissen festgesteckt, in denen sie eigentlich nicht feststecken sollten. Er sah sich mit Situationen konfrontiert, in denen er einfach handeln musste.

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Aber findest du es nicht gefährlich, das Gesetz in die eigene Hand zu nehmen? Bei einer solchen Tätigkeit muss man doch gewisse Vorkenntnisse besitzen, um mit bestimmten Situationen richtig umgehen zu können.
Ich halte Gennadiys Arbeit und seine Verhältnisse für sehr kompliziert. Ich will jetzt aber auch nicht, dass meine Meinung die Leute beeinflusst, die den Film noch nicht gesehen haben. In einigen Situationen habe ich gedacht, dass ich weiß, was passieren wird, und dass da vielleicht schon alles richtig läuft. In anderen Situation war ich mir da jedoch nicht so sicher. Es lässt sich nur schwer ein allgemeines Fazit ziehen, weil wir ihn ja nur mit ein paar einzelnen Fällen gefilmt haben.

Ich musste auch daran denken, wie gefährlich und gesundheitlich bedenklich es ist, jemanden so schnell und so plötzlich auf Entzug zu schicken.
Wir haben leider niemanden gefilmt, der sich über einen längeren Zeitraum hinweg im Entzug befand. Gennadiy hat nur einmal erwähnt, dass sie auf abgeschiedenen Bauernhöfen arbeiten und kein Methadon einsetzen. Ansonsten hat er mir nichts weiter verraten.

Wie waren die Kinder Gennadiy gegenüber eingestellt?
Sie fühlten sich zu Gennadiy hingezogen. Das hat mich überrascht, denn er ist ein groß gewachsener, imposanter Typ mit einer kräftigen, tiefen Stimme. Die Kinder hatten aber irgendwie das Gefühl, dass sie auf ihn zugehen können, und zeigten keine Angst. Es war echt interessant zu sehen, wie viel Respekt Gennadiy von seinem Umfeld entgegengebracht wurde.

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Im Laufe der Jahre haben ja schon viele Jugendliche das Pilgrim-Programm durchgemacht. Waren dabei viele Erfolgsgeschichten zu verzeichnen? Funktioniert die Methode?
Als ich mir mein Archivmaterial angeschaut habe, fielen mir ein paar Kinder auf, die dort zehn Jahre verbracht haben und jetzt im Erwachsenenalter völlig gesund sind. Laut Gennadiy haben ungefähr 3000 Kinder sein Programm durchlaufen, das Ergebnis ist allerdings von Fall zu Fall unterschiedlich. Einige von ihnen sind zu ihren Familien zurückgekehrt, andere sind aber auch gestorben oder rückfällig geworden. Die meisten sind jetzt erwachsen und haben sich sehr gut in die ukrainische Gesellschaft eingegliedert. Ein Mädchen, das von den Drogen richtig kaputt gemacht wurde, ist inzwischen verheiratet und hat ein Baby bekommen.

Zu jedem Kind, das aufgenommen wird, stellt Gennadiy Recherchen an. Er will herausfinden, ob sie mal eine Identität besaßen.

Warum macht Gennadiy zuallererst ein Foto von den Nadeleinstich-Spuren der Kinder?
Für ihn ist das eine Dokumentation, die er dann den Leuten zeigen kann. Wenn ein Kind Fortschritte macht, dann zeigt er ihnen die Vorher-Nachher-Bilder und sie sind stolz. Ich besitze ein Buch, in dem ein paar dieser Fotos enthalten sind, und es ist wirklich schockierend.

Ihr seid beim Filmen der Dokumentation auch angegriffen worden. Was genau ist da vorgefallen?
Wir sind zu einer Pro-Russland-Demo gegangen, um dort ein paar Aufnahmen zu machen. Uns wurde zwar gesagt, dass wir vorsichtig sein sollten, aber es war nachmittags und dementsprechend wenig los. Die Leute, die dort waren, haben aber gehört, wie wir Englisch redeten, und fanden das nicht so toll. Wir sahen ein, dass wir besser gehen sollten, aber da wurden wir auch schon mit Steinen beworfen und die ganze Situation eskalierte recht schnell. Es gab ein Handgemenge und es wurde mit Tränengas herumgesprüht. Damals war der Krieg noch nicht ausgebrochen. Es wurde allerdings viel darüber spekuliert, ob bei diesen Demonstrationen Leute anwesend waren, die politische Unruhe stiften sollten. Ich bin mir bis heute nicht so ganz im Klaren darüber, warum sie gerade mit uns ein Problem hatten. Wir haben ja schließlich versucht zu erklären, dass wir keinen politischen Film über den Konflikt drehen würden.

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Im Laufe des Films nimmt das Ganze immer mehr politische Untertöne an, weil sich auch die Situation in der Ukraine immer weiter zuspitzt. War das eine natürliche Entwicklung?
Ja, das hat sich zwischen 2012 und Ende 2014 so ergeben. Der sozioökonomische Zustand der Ukraine hat jedoch auch so einen immensen Einfluss auf die Beweggründe für Gennadiys Handeln. In der Ukraine herrscht die ganze Zeit ein unterschwelliges Gefühl der Vertreibung und wir zeigen, wie sich das auf Gennadiy auswirkt. Als sich der Euromaidan zu einem richtigen Konflikt entwickelt hat, veränderte sich das Leben von allen Ukrainern—auch das von Gennadiy.

Gennadiy wird dafür kritisiert, dass er berühmt werden oder als Held angesehen werden will. Ist er deiner Meinung nach wirklich nur auf Aufmerksamkeit aus und hat das für dich überhaupt irgendeine Bedeutung?
Auch darüber soll sich der Zuschauer selbst ein Bild machen. Ich kann nur hoffen, dass der Film zu einem Dialog über dieses Thema anregt.

Was kann man gegen das Drogenproblem unternehmen, von dem ukrainische Kinder betroffen sind?
Sinnvollere Gesetze. Man muss vor allem zuerst einmal etwas gegen die Korruption machen—aber das ist eine ganz schöne Herausforderung. Apotheken war es möglich, Drogen und Medikamente ohne Rezept zu verkaufen, und niemand schaute ihnen auf die Finger. Es gibt zwar gewisse Vorschriften, aber die werden aus unbekannten Gründen nicht durchgesetzt. In einigen Fällen haben uns die Angestellten gesagt, dass sie von ihren Chefs zum Verkauf gezwungen wurden. Ich glaube jedoch nicht, dass das alles mit den Apotheken angefangen hat. Es gibt natürlich auch einen Schwarzmarkt, um den sich absolut niemand kümmert. Die Apotheken haben jedoch dafür gesorgt, dass alles so weitergehen konnte.

Hast du noch Kontakt zu Crocodile Gennadiy?
Die Verständigung ist schwierig, wir brauchen immer einen Übersetzer. Seine Englischkenntnisse halten sich in Grenzen und deshalb sind unsere Gespräche oft abgehackt. Ich habe ihm die Dokumentation gezeigt und seine instinktive Reaktion war positiv. Er hat danach sein Gesicht gewaschen. Im Film wird gezeigt, wie er sich nach angespannten Situationen oft sein Gesicht oder seine Hände wäscht—damit reinigt er seine Seele.

Vielen Dank, Steve.