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Ego-Shooter machen uns nicht zu IS-Terroristen, liebe FAZ

Der Dschihad ist kein Respawn—warum es Zeit ist, die unselige Diskussion um Kriegsspiele und reale Gewalt endgültig zu beenden.

Der Islamische Staat ist das perfekte Beispiel dafür, wie man Terror mit billigen Mitteln in hollywoodreife Bilder packt. Und seine Anhänger sind kreativ: Sie veröffentlichen spektakuläre Propaganda-Videos, deren Explosionen selbst Michael Bay vor Neid erblassen lassen würden. Und weil junge Menschen auf YouTube gerne nach Videos aus GTA V suchen, schneiden sie mit Szenen aus Schießereien in GTA Online dann noch ein optimal auf die leicht zu beeindruckende Zielgruppe ausgerichtetes Rekrutierungsvideo. So weit, so billig, könnte man sich denken. In seinem Artikel „Nächste Runde: Paradies" stellt FAZ-Autor Guillaume Paoli dementsprechend auch absolut richtig fest: „Der Dschihadismus hat es geschafft, Codes und Gesten der Jugendkultur zu pervertieren" und meint damit vor allem zwei Dinge—Gangsta-Rap und Videospiele. Nur nach dieser weder neuen, noch bahnbrechenden Erkenntnis, da wird es ein bisschen wirr.

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Während man jetzt also sagen könnte, dass der IS dementsprechend ähnlich billig (und ungleich folgenschwerer) auf Anhängerfang geht wie beispielsweise die NPD, die Tiermaskottchen auf Schulhöfen CDs verteilen lässt, kommt Paoli zu einem komplett anderen Schluss. Er stellt die Frage, ob „die reale Tötung das bessere Gameplay wäre", schließlich bräuchten Süchtige „ständig stärkere Dosen" und bekanntermaßen war jeder Amokschütze eines Schulmassakers „ein besessener Spieler".

„Wenn es um Sex geht, wird die anstiftende Funktion von Bildern bemüht. Allein dem virtuellen Mord wird keine Auswirkung unterstellt. Nun geht IS die Gegenwette ein", heißt es da auf Seite 3 seines Textes.

Dieser Argumentation zufolge ist der Islamische Staat also lediglich Wasser auf die Mühlen der Leute, die es sowieso schon immer besser wussten und vor der instrumentalisierenden Wirkung von Games, vor allem aber First-Person-Shootern gewarnt haben. Wer nach Gameplay-Videos auf YouTube sucht, ist wie ein verlorenes Schaf, das nur darauf wartet, von einem falschen Hirten eingesammelt zu werden. Wer in einem Videospiel schon einmal ein Achievement für besonders viele Headshots bekommen hat, ist ein potentieller Terrorist. Und gäbe es den visuellen (und virtuellen) Anreiz nicht, die Anhänger des Kalifats säßen wahrscheinlich immer noch zu dritt in irgendeinem Wohnzimmer und würden wütend Tee trinken, anstatt Geiseln zu köpfen.

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Wer sich auch immer gut für alles verantwortlich machen lässt: Marilyn Manson.

„Delinquente Jugendliche, die in der Realität Gewalt anwenden, spielen mit hundertprozentiger Trefferquote auch Gewaltspiele", sagte uns der Medienpsychologe Dr. Michael Jäger Ende vergangenen Jahres in einem Interview. Nur die Schlussfolgerung, die er und seine Kollegen aus diesem Sachverhalt ziehen, ist eine vollkommen andere als die von Paoli. Nur weil es in einer Richtung einen Zusammenhang gibt, dürfe man daraus „nicht schließen, dass Gewaltspiele die Ursache dafür sind." Oder anders gesagt: Nur weil jeder Mann ein Mensch ist, ist nicht jeder Mensch ein Mann.

Der Spieltrieb des Menschen trägt nicht erst seit den zunehmend unbegrenzteren Möglichkeiten der digitalen Computer- und Konsolenwelten auch immer irgendwie kämpferische Züge. Im Mittelalter versuchten Ritter, sich gegenseitig mit Lanzen aus dem Sattel zu stoßen, im 20. Jahrhundert haben ganze Generationen von Kindern erst durch Mensch ärger dich nicht gelernt, was wahrer Hass ist, und irgendwann konnte man dann in diversen First-Person-Shootern aus der Egoperspektive Actionheld spielen. Auffällig scheint dabei—zumindest in der aktuellen Situation: Je mehr sich die spielerisch umgesetzte, „aggressive" Handlung in die Virtualität zurückzieht, umso mehr Einfluss scheint ihr auf die Taten des Spielenden in der Realität zugesprochen zu werden.

Guillaume Paoli ist sicherlich nicht die einzige Person, die ähnlich simple Kausalketten zwischen unerklärlichem Extremismus und einer Form der Erwachsenenunterhaltung sieht, die er ebenfalls nicht versteht—oder verstehen will. Besonders deutlich wird das in den Passagen, in denen er verzweifelt Parallelen zwischen Spiel und Wirklichkeit ziehen muss, um sein vorhergehendes Argument nicht völlig unbegründet stehen zu lassen:

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„Aber was heißt denn ‚respawn'? Wird ein Spieler von einer gegnerischen Figur getötet, hat er die Möglichkeit, wieder einzusteigen. Er respawnt—wie auch der Selbstmordattentäter, der den eigenen Tod als bloße Etappe im Dschihad-Parcours betrachtet. Das Märtyrertum braucht keinen transzendentalen Glauben, es ist spielimmanent. Dem Süchtigen ist die Vorstellung ein Greuel, dass sein Spiel irgendwann aufhören wird. Die islamistische Respawn-Funktion erlöst ihn von dieser Angst. Es gibt immer eine nächste Runde."

Das klingt sprachlich wie inhaltlich natürlich wahnsinnig geschliffen und dramatisch, aber: Was bedeutet das für, sagen wir mal, Hinduisten oder Buddhisten? Ist der Glaube an die Wiedergeburt auch nur die Respawn-Funktion eines Lebenssüchtigen?

Szene aus Call of Duty 4: Modern Warfare. Bild: Sam DeLong | Flickr | CC BY-SA 2.0

Warum „respawne" ich? Weil niemand Geld für ein Spiel ausgibt, dass nach zehn Minuten Spielzeit vorbei ist, weil man den Deckungs- mit dem Granatenwurf-Button verwechselt hat. Weil ein Tod im Spiel nicht mit einem Tod im richtigen Leben gleichzusetzen ist (weder von seiner Auswirkung auf sich selbst, noch auf getötete Gegner oder andere Spielfiguren) und jede auch nur ansatzweise sozial funktionable Person diesen Unterschied versteht. Vielleicht gehen wir gedanklich aber auch einfach noch eine Stufe weiter und fragen uns: Richten wir unser Leben und unsere Überzeugungen nach Prinzipien und Algorithmen eines Computerspiels aus, oder ist das Belohnungssystem eines Spiels nicht eher dem des Lebens entliehen?

„Möge die nächste Rebellion die Todesbegeisterung vergessen, um empathische und lebensbejahende Spiele zu entwickeln", schreibt Paoli, ganz so, als wäre der Tod/das Scheitern oder die Vermeidung von ebenjenem nicht schon immer die ultimative Motivationsmechanik gewesen. Gewinnen wir also den Kampf gegen den Terror, in dem wir einfach eine Wii-U und die aktuelle Version von Animal Crossing in die Krisengebiete schicken?

Es ist eine Anmaßung, nein, eine Frechheit und gleichzeitig ein Eingeständnis der absoluten Unwissenheit, dieses Statement in einen Artikel über Terrorismus, der reale Menschenleben fordert, zu integrieren. Es ist die unwissende Verurteilung einer ganzen Branche, die Vorurteile schürt. Und es sind genau diese Vorurteile, die Leute, die sich psychisch mehr und mehr in Videospielen vergraben, weil ihre Außenwelt sie ablehnt, zu extremen Taten treiben kann. Vielleicht schaffen wir es endlich, uns einzugestehen, dass wir zu großen Teilen einfach nicht wissen, was Menschen dazu bringt, andere zu töten. Woher ihr Hass kommt und wie man ihm begegnen kann. Wo es keine einfache Ursache gibt, gibt es auch keine einfache Lösung und das macht Angst. Vielleicht sollten wir endlich anfangen, offen über diese Angst zu sprechen.

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