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Ein Ausflug in die bizarre Schattenwelt des LinkedIn-Universums

Immer mehr User des sozialen Netzwerks für Arbeitstätige hoffen, mithilfe von viral gehenden Posts einen Anstellung zu finden. Dabei ist ihnen quasi jedes Mittel recht.

Ein Beispiel für die Art von inspirierenden Zitaten, die die Leute inzwischen bei LinkedIn posten

Größenwahn, emotionale Erpressung, Prostitution, Drogenhandel und unheimliche Typen namens Bob. Das sind entweder die Grundelemente der ersten beiden Staffeln von Twin Peaks oder die Dinge, die seit Neuestem deinen LinkedIn-Feed bestimmen.

Wenn man heutzutage im größten sozialen Netzwerk für Berufstätige unterwegs ist, dann fällt einem direkt auf, dass sich einiges verändert hat. Die Seite wird inzwischen nicht mehr von ernsthaften Lebenslauf-Updates und Angaben von witzig gemeinten Skills wie etwa "Gewichtszunahme" oder "Wühlmauszüchtung" geprägt. Nein, dort findet sich jetzt, zumindest in der englischsprachigen Ecke, noch viel mehr: private Einladungen zu "von Fat Joe befürworteten"-Schneeballsystemen, Fotos von "guten Taten", Busen-Diskussionen zwischen Bank-Managern mittleren Alters und Unmengen an inspirierenden Zitaten, die von Salvador Dali, Steve Jobs oder Muhammad Ali stammen und absolut nichts mit der Jobsuche zu tun haben.

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Verschiedene User versuchen, ihr Profil viral gehen zu lassen und so die Aufmerksamkeit eines potenziellen Arbeitgebers auf sich zu ziehen. Diese Arbeitgeber sehen dann, wie gut die jeweiligen User darin sind, Memes zu reposten, und bieten ihnen deswegen natürlich direkt eine Stelle in ihren Versicherungsunternehmen oder Bestattungsinstituten an. Und auch Crystal Braswell, die leitenden Kommunikationsmanagerin von LinkedIn, gibt zu, dass die Entwicklung des Netzwerk-Feeds zu einer Facebook- oder Twitter-ähnlichen Plattform dazu geführt hat, dass viele Mitglieder inzwischen angestrengt versuchen, virale Posts zu generieren.

Und obwohl sie keine belegenden Statistiken vorweisen kann, meint Braswell, dass zwischen dem Posten von viralen Inhalten und einem Karrieresprung ein direkter Zusammenhang besteht. "Wir haben schon von Mitgliedern gehört, für die sich neue Jobmöglichkeiten auftaten, nachdem sie virale Posts veröffentlicht hatten", erzählt sie. "Es geht hier vor allem darum, den Kollegen die eigene Denkweise näherzubringen."

Es ist jedoch auch so, dass viele Kollegen es gar nicht mal so gut finden, von anderen Denkweisen so viel mitzubekommen. Einige LinkedIn-User haben ihrem Unmut über den Wandel der Seite mithilfe des #RIPLinkedIn-Hashtags bei Twitter Luft gemacht. Sie beschweren sich dabei über "unangebrachte Bilder", Unmengen an Spam-Nachrichten sowie "politische Propaganda", die sie nun in ihren Feeds vorfinden.

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Und dennoch behauptet Braswell, dass die 430 Millionen LinkedIn-User jetzt "aktiver und eingebundener" sind als jemals zuvor. Aber wie genau sieht diese neue Aktivität und Einbindung überhaupt aus?

Inspirierende Philosophie

Stell dir mal kurz folgendes Szenario vor: Du befindest dich auf einem Musikfestival und hast dir gerade eine Pille eingeworfen. Deine Freunde hast du irgendwann irgendwo verloren und deine Augen flackern schon komisch. Deshalb entscheidest du dich dazu, erstmal ein wenig auf einem Grashügel auszuharren und für dich selbst zu tanzen. Da du deinen Körper nicht mehr wirklich spürst, merkst du gar nicht, wie du mit beiden Armen über deinem Kopf herumfuchtelst und deinen Unterkiefer ungewöhnlich weit nach vorne geschoben hast.

Jetzt überspringen wir schnell ein paar Jahre.

Dir ist zu Ohren gekommen, dass ein LinkedIn-Profil ein Garant für ein sechsstelliges Gehalt ist. Deswegen meldest du dich auch direkt auf der Plattform an und anfangs sieht alles tatsächlich noch ganz gut aus. Ein ehemaliger Klassenkamerad hat deine Zeitmanagement-Skills bestätigt und eine deiner damaligen Kommilitoninnen hat sich bei dir gemeldet, weil in ihrem komplett nichtssagenden Logistikunternehmen eine temporäre Stelle freigeworden ist. Vielleicht bist du ja interessiert?

Dann aktualisierst du deinen Feed. Und plötzlich wirst du von Angst erfüllt—und zwar von der Art Angst, die sich in deinem Bauch breitmacht, wenn du nach der Weihnachtsfeier aufwachst, auf der du deinen Chef zum Spaß ungefähr 15 Mal als "konservatives Arschloch" bezeichnet hast. Der Grund für diese Angst? Ein PR-Guru namens Hans hat ein Video von deinem oben erwähnten Tanz geteilt und dazu noch eine inspirierende Botschaft geschrieben: "It only takes one person to create a crowd."

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"Vielleicht befinde ich mich gerade mitten in einem stressigen Tag und sehe dann einen solchen Post, der eine willkommene Abwechslung darstellt", meint Braswell. "Für einige Geschäftsmänner und -frauen kann das schon inspirierend wirken."

Da ich Videos von tanzenden Menschen nicht wirklich inspirierend finde, scrolle ich mich durch meinen eigenen LinkedIn-Feed, um zu schauen, ob ich dort auf etwas tatsächlich Anregendes stoße, das mir in meinem enttäuschenden Leben eine willkommene Abwechslung bietet.

Irgendjemand hat die Geschichte bzw. das Stockfoto eines Kleinkinds gelikt, das seiner Mutter den schöneren von zwei Äpfeln gibt. Mit dem Post soll anscheinend die Entscheidungsfähigkeit als berufstätiger Mensch geschärft werden. Alles klar. Ein anderer Post über zwei riesige Hunde, die kurz davor sind, sich in Stücke zu reißen, stellt ein warnendes Beispiel zum Thema moralisches Gewissen dar—und zwar im Büro! Schließlich springt mir noch ein Foto von einem schelmisch grinsenden A. P. J. Abdul Kalam, dem elften indischen Präsidenten, ins Auge. Daneben heißt es, dass man erst dann erfolgreich ist, wenn die eigene Unterschrift als Autogramm gilt.

Nichts davon inspiriert mich. Nein, stattdessen fühle ich mich durch diese ganzen Posts eher noch beschissener. Ich bin jetzt nämlich schon 27 und meine Unterschrift wird von niemandem als Autogramm angesehen.

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Bizarre emotionale Erpressung

Die Geschäftswelt und ihr unerbittlicher Konkurrenzkampf. Nur die Stärksten überleben. Das kann schon ziemlich anstrengend sein, richtig? Manchmal sogar so anstrengend, dass man durch das ständige Jonglieren von Tabellen und Kostenabrechnungen schon mal vergessen kann, was unsere Mitmenschen durchmachen müssen.

Kann man dieses Dilemma überhaupt besser lösen (und dabei gleichzeitig auch noch sein LinkedIn-Profil aufpeppen) als mit einem herzerwärmenden Post, den wir mit unseren Kontakten teilen? So hat eine Personalmanagerin vor Kurzem auch ein Selfie mit einem älteren Herrn hochgeladen. Mit diesem älteren Mann verbrachte sie anscheinend spontan zwei Stunden beim Kaffeetrinken und Plaudern. Unter dem Foto hieß es dann außerdem noch, dass die Unterhaltung mit dem Rentner die perfekte Erinnerung daran gewesen sei, dass Zeit bei dem ganzen Arbeits- und Alltagsstress wirklich das größte Geschenk darstellen würde. Der Post wurde fast 200.000 Mal gelikt und in den Kommentaren auch mit überschwänglichem Lob überschüttet.

Aber auch Crystal Braswell von LinkedIn befürwortet den Post und meint: "Ich finde das Ganze überhaupt nicht willkürlich. Vielleicht finden manche Leute daran keinen Gefallen, aber für andere Menschen hat das unter Umständen schon Relevanz und inspiriert sie dazu, sich in stressigen Tagen mal eine Auszeit zu gönnen."

Analysieren wir doch mal eben die Fakten: Im schlimmsten Fall wird man gefeuert, wenn man einfach so zwei Stunden Pause macht, um mit einem alten Mann Kaffee zu trinken. Im besten Fall zitiert einen der Chef in einem solchen Szenario nur zu einem langweiligen Vier-Augen-Gespräch. Aber steht es mir denn überhaupt zu, einen Post zu kritisieren, der viermal so viele Leute begeistert hat, wie auf den Färöer-Inseln leben? Inzwischen tauchen immer mehr von diesen Wohlfühl-Posts auf und das liegt wohl daran, dass die LinkedIn-User folgenden Schluss gezogen haben: Wenn man nett rüberkommt, erhöht das die Chancen auf einen guten Job.

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Pick-Up-Artists

Die britische Anwältin Charlotte Proudman, die von der Daily Mail auch schon als "Feminazi" bezeichnet wurde, hat vor Kurzem wieder für Aufsehen gesorgt, nachdem sie vom Chef einer Anwaltskanzlei eine Nachricht bekommen hatte, in der er ihr LinkedIn-Profilbild als "umwerfend" bezeichnete. Daraufhin outete sie ihn als Sexisten und behauptete, dass reiche, weiße Geschäftsmänner die Plattform inzwischen dazu nutzen würden, um Frauen anzubaggern.

Ich frage eine Freundin, ob da was dran ist. Als Antwort präsentiert sie mir Bob, einen der vielen Männer, die ihr regelmäßig Kommentare hinterlassen. Bob—den sie im echten Leben übrigens noch nie gesehen hat—schreibt ihr, dass er für ein Treffen alle Hebel in Bewegung setzen würde. Und ein anderer Typ fragt meine Freundin mit einem Zwinker-Smiley, ob sie sich schon mal mit Peer-to-Peer-Krediten auseinandergesetzt hätte.

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob solche bizarren Anmachsprüche überhaupt irgendwann schon mal gezogen haben. Bei meiner Freundin war das auf jeden Fall nicht so.

Abgesehen davon finde ich dann auch noch ein Foto einer Designerin, auf dem sie grinsend mit einem Hund im Arm posiert und dabei ein Kleid mit doch ziemlich tiefem Ausschnitt trägt. Ich weiß nicht genau, warum sie gerade ein solches Bild bei LinkedIn hochgeladen hat, aber die kommentierenden User scheinen da überhaupt nichts dagegen zu haben.

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Identitätsdiebstahl

Das Verfahren des Scrapings, bei dem ein Unternehmen die Angaben von Tausenden LinkedIn-Mitgliedern verwendet, um Fake-Profile zu erstellen und damit dann zwielichtige Finanzdeals einzufädeln, kommt auf der Plattform doch recht häufig vor. So haben die Betreiber auch schon zugegeben, dass dieses Verfahren die Integrität und Effektivität des LinkedIn-Netzwerks mindert, indem es die Website mit Tausenden Fake-Accounts zumüllt.

Im Klartext heißt das, dass man vielleicht die Anfragen von Klonen seiner Bekannten und Geschäftspartner akzeptiert oder sogar selbst zum Opfer dieses Identitätsdiebstahls wird.

Sex und Drogen

Wenn man das Wort "Escort" in die LinkedIn-Suchleiste eintippt, bekommt man über 10.000 Ergebnisse. Zwar werden das nicht alles Sexarbeiter oder Sexarbeiterinnen sein, aber nach nur wenigen Klicks findet man sich zum Beispiel auch schnell auf dem Profil der in England ansässigen Escort-Agentur Midlands Maidens wieder, die als eine Fähigkeit ganz stolz "Microsoft Office" angibt. Da sich LinkedIn im Internet befindet, ist es auch keine große Überraschung, bei der riesigen Anzahl an Accounts auch auf einige Vertreter zu stoßen, die etwas mit Sex zu tun haben. Im Anbetracht einer offiziellen Richtlinie, die Profile oder Inhalte verbietet, die nur zur Promotion von Escort-Angeboten oder Prostitution gedacht sind, mutet das Ganze jedoch schon etwas komisch an.

Eine weitere Suche bringt mich zu einem Profil, auf dem Werbung für regelmäßige Kokainlieferungen gemacht wird. Dabei wird es sich sehr wahrscheinlich um einen Scherz handeln, aber es ist dennoch kein Geheimnis, dass auf LinkedIn auch Drogendeals über die Bühne gehen. Dort, wo Marihuana legal ist, preisen die Weed-Händler nämlich ganz offen ihre Waren an. Wird es mir also schon bald möglich sein, dass ich Leute aus meiner Kontaktliste aufgrund ihrer Grasanbau-Fähigkeiten weiterempfehlen kann?

Braswells Antwort: "Meiner Meinung nach schaffen wir es ganz gut, gegen Inhalte vorzugehen, die nicht mit unseren Richtlinien konform gehen. Unser Team macht da große Fortschritte. Letztendlich stellen wir ja auch Werkzeuge zur Verfügung, mit denen man ungewünschte Inhalte aus seinem Feed herausfiltern kann. Zudem kann man kann User ebenfalls komplett blockieren. In Zukunft wollen wir auch verstärkt darauf aufmerksam machen, dass diese Werkzeuge existieren. Der eigene LinkedIn-Feed wird dann mehr auf den persönlichen Geschmack zugeschnitten sein."

Damit spricht sie einen guten Punkt an: Letztendlich bin ich ja nicht dazu gezwungen, mit das alles anzuschauen. Ich habe immer eine Wahl. Und ich entscheide mich dazu, bei den Idioten, die meinen Feed mit dem ganzen oben genannten Quatsch verstopfen, auf "Dieses Update ausblenden" und "Nicht mehr folgen" zu klicken. Erst dann aktualisiere ich die Seite wieder. Ich meine, ich habe zwar immer noch keinen Job, aber immerhin muss ich jetzt auch keine Salvador-Dali-Zitate mehr lesen.