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Ein Coming-out sollte gar nicht mehr wichtig sein

Ich habe über Coming-outs nachgedacht, und darüber, ob sie noch notwendig sind. Außerdem über YouTuber, meine Freunde und mich selbst.

Niemand kennt mich so gut wie YouTube. Das ist auch der Grund, warum ich YouTube in Sachen „Empfohlene Videos" einfach blind vertraue. Schließlich arbeitet da—glaube ich zumindest—irgendsoein eigens entwickelter Algorithmus, der sich akribisch genau merkt, welche Videos ich mir ansehe, und mir darauf basierende, ähnliche Videos vorschlägt, die mir ebenfalls gefallen könnten.

Diese Empfehlungen ergeben sich eigentlich fast immer aus Saturday Night Live oder Musikvideos und haben mich unter anderem vergangenen Samstag zum achten Mal erfolgreich dazu verführt, mir die gesamte Britney: For The Record-Doku in ihrer ganzen, einstündigen Pracht anzusehen. Vielleicht habe ich dabei auch ein bisschen geweint, aber wer weiß das schon.

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Als mir dann letzte Woche immer wieder ein ganz bestimmtes Video vorgeschlagen wurde, von dem ich noch nie etwas gehört hatte, war ich jedoch erst zögerlich. Da war nirgends eine Spur von Kate McKinnon oder Kristen Wiig und von Britney schon gar nicht, was grundsätzlich das wichtigste Kriterium für meinen YouTube-Konsum ist.

Der Titel des Videos lautete „ Something I Want You To Know", was eigentlich eh ganz spannend klingt. Die Überraschung hat das Mädel, das das Video hochgeladen hat, jedoch ziemlich verschissen, indem sie an den Titel den größten Spoiler aller Zeiten, „(Coming Out)", drangehängt hat. Sollte es bis dahin noch immer jemand nicht ganz verstanden haben, steht auf dem Thumbnail direkt neben ihrem Gesicht zur Sicherheit nochmal in großen schwarzen Buchstaben „I'M GAY".

Screenshot: YouTube

Besagte YouTuberin heißt Ingrid Nilsen und ist bei weitem nicht die erste, die sich dazu entschieden hat, ihr öffentliches Coming-out mit einem YouTube-Video zu erledigen. Da gab es diese weinenden Zwillinge, die sich Anfang des Jahres dabei gefilmt haben, als sie ihrem Vater sagten, dass sie schwul sind und dafür von Ellen DeGeneres 10.000 Dollar bekommen haben. Dann gab es Joey Graceffa—ebenfalls YouTuber—dessen Coming-out-Video gleich mal mit einer Buch- und Musikvideo-Veröffentlichung einherging. Ellen hat ihn komischerweise noch nicht bezahlt.

Screenshot: YouTube

Mal abgesehen von dieser kommerziellen Ausschlachtung bringt mich die ganze Sache natürlich dazu, über Coming-outs nachzudenken. Über mein eigenes, darüber, wie sehr ich mich angeschissen habe, darüber, ob sie heute überhaupt noch notwendig sind—und auch darüber, dass ich eigentlich gar nichts über die Coming-outs der Schwulen und Lesben aus meinem Freundeskreis weiß.

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Das war Grund genug für mich, ein paar ziemlich peinlich-seltsame Facebook-Nachrichten („Yo! Wie war eigentlich dein Coming-out?") rauszuhauen. Verständlicherweise haben mir dann auch nur vier Leute geantwortet. Ihre Nachrichten waren dafür umso süßer.

Antwort #1:

Ich bin mit Freunden unterwegs gewesen, und wir sind wie immer in die üblichen, „normalen" Bars gegangen. Und irgendwann hab ich in meinem Suff gemeint, dass ich jetzt in eine Gay Bar will. Ich hatte aber keine Ahnung, wo die war. Dann habe ich meine Mutter angerufen, und ins Telefon gelallt, wo denn hier die Gay Bar sei. Das war so Punkt Eins meines Coming-outs. Das nächste Mal, dass ich das Thema vor meiner Mutter zur Sprache brachte, war ein paar Monate später, als ich einfach zu ihr sagte: „Mein Freund kommt heute." Sie war dann kurz verwirrt, und hat gefragt, wen ich mein. Dann hab ich gesagt: „Julian, meinen Freund." Sie hat dann verunsichert gefragt, ob ich damit meine, dass mein Cousin heute kommt (er heißt auch Julian). Und ich so: „Nein, mein Freund. Den hab ich dir noch nicht vorgestellt." Dann hat man ihr angesehen, dass sie versteht. Und dann hat sie mich gefragt, ob er was Bestimmtes zum Mittagessen will.

Die Frage nach der Gay Bar ist wohl die subtilste Form von Coming-out, von der ich je gehört habe. Die anfängliche Ignoranz der Mutter ist wiederum die subtilste Form von Toleranz, von der ich je gehört habe. Ausgesprochen unausgesprochen. Aber schön.

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Noisey weiß, wo die Gay Bars in Wien sind.

Antwort #2:

Lesben haben ja so ihre Vor- und Nachteile. Einerseits findet es jeder prinzipiell viel besser, wenn sich zwei Frauen küssen. Andererseits hat man größere Probleme, auch wirklich als homosexuell anerkannt zu werden. Da bin ich froh, dass mein Vater nie einer dieser Menschen war, der von „Phasen" und „Experimenten" geschwafelt hat. Er hatte damals eine Freundin, die relativ schnell verstanden hat, dass meine damalige Ex-Freundin nicht nur bei mir geschlafen hat, weil sie regelmäßig den Nachtbus verpasst hat. Also hat sie ihm auf nette Art und Weise einen Schubs gegeben. Es war Sommer, wir haben gegrillt und plötzlich fragt mein Vater, ob ich es denn schön finden würde, Frauen zu küssen. Ich meinte mit einem Schmunzeln: „Ja, sehr". Er meinte dann: „Ich auch". Seitdem gab es nie wieder einen Zweifel daran. Ich bin ihn bis heute dafür dankbar, dass er nie ein Thema daraus gemacht hat. Weil darum geht es doch, oder?

Ja, genau darum geht es.

Antwort #3:

Ich habe versehentlich ein SMS, das eigentlich für meinen damaligen Freund gedacht war, an meine Mama gesendet. Es war eh ein liebes SMS. Ich hab ihm halt geschrieben, wie gern ich ihn hab und wie toll nicht alles ist. Aber man konnte wohl auch irgendwie rauslesen, dass die Nachricht nicht an ein Mädchen gehen sollte. Danach hab ich mir gedacht, jetzt ist wohl der richtige Zeitpunkt, um darüber zu reden. Ich hab meiner Mama dann im Auto gesagt, dass ich sie zwar auch gern hab, aber nicht so. Und dass ich einen Freund hab—was sie sich natürlich schon gedacht hat.

Ich möchte glauben, dass dieses SMS wirklich versehentlich geschickt wurde—einfach weil es die Geschichte so viel lustiger machen würde—aber irgendetwas sagt mir, dass da vielleicht ein bisschen das Unterbewusstsein am Start war. Sich selbst die Entscheidung abnehmen und so. An diesem Punkt blieb ihm wohl gar nichts anderes mehr übrig, als ein klärendes Gespräch mit seiner Mama zu führen. „Versehentlich".

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Antwort #4:

Naja. Ich hatte mal was mit einem Typen, der noch zuhause wohnte. Offenbar war er bei seiner Mutter schon geoutet, die hatte aber was dagegen und wollte das auf keinen Fall tolerieren. Also hat sie, während wir in seinem Zimmer waren, eine Stunde lang durchgehend gegen die Zimmertür gehämmert. Aber das zählt wohl nicht als Coming-out. Machst du schon wieder einen Schwulen-Artikel?

Nein, das zählt nicht als Coming-out und ja, ich mache schon wieder einen Schwulen-Artikel. Danke für nichts.

Was lerne ich daraus? Niemand meiner schwullesbischen Freunde hat wirklich negative Coming-out-Erfahrungen gemacht oder schreibt mir ganz einfach nicht zurück. Ich kann trotzdem nicht aufhören, über diese ganze „Mama, ich bin schwul"-Sache nachzudenken und dass es eigentlich nicht mehr die Sensationsmeldung zu sein scheint, die es früher mal war. Wirklich interessant ist ein Coming-out doch nur noch, wenn es einen Promi betrifft und/oder es sich nicht um Homosexualität handelt, wie bei Caitlyn Jenner.

Ich binde auch nicht jedem auf die Nase, dass ich schwul bin—zum einen, weil ich irgendwie davon ausgehe, dass es eh jeder weiß und dass im Zweifelsfall ja nachgefragt werden kann. Und zum anderen, weil meine Sexualität nichts ist, wodurch ich mich irgendwie definere. Mama, ich bin schwul, aber ich bin noch viel mehr. Ich mag Katzen. So die Richtung.

Wenn gleichgeschlechtliche Ehe sogar in allen Staaten der USA rechtens erklärt wird, ist ein Coming-out dann überhaupt noch wichtig? Während ich rauchend diese Frage tippe, fühle ich mich wie Michael Buchinger, der sich wie Carrie Bradshaw fühlt.

Wächst man in einer Gesellschaft auf, die einem vermittelt, man wäre nicht richtig, so wie man ist, ist ein Coming-out durchaus wichtig. Sehr sogar. Deshalb verstehe ich auch, dass Ingrid Nilsen einen Heulkrampf bekommt, als sie es endlich laut ausspricht. Bei mir war es nämlich auch so. Schön wäre, wenn ein Coming-out irgendwann so selbstverständlich ist, dass es kein YouTube-Video mehr braucht und Ellen DeGeneres ihr Geld behalten kann. Es liegt an uns.

Franz twittert hier: @FranzLicht