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Popkultur

Kino gegen Vereinsamung—Ein Interview mit Ulrich Seidl

Wir haben uns mit Ulrich Seidl über seinen neuen Film, österreichische Nazi-Keller und unseren inneren Sexisten unterhalten.

Alle Fotos von Piotr Sokul

Ulrich Seidl ist geradlinig und schnörkellos, aber auch poetisch und tiefgründig—er lacht, weil das Leben manchmal lächerlich ist, schaut gerne solange hin, bis es wehtut und hat hinter seiner Fassade (strenger Blick, komplett in Schwarz) vor allem viel aufrichtiges Mitgefühl und echtes Interesse an den Menschen.

In seinem neuesten Film Im Keller, der am 05.12. in die deutschen Kinos kommt, beleuchtet Seidl die unterirdisch(st)en Freizeitparadiese Österreichs und zeigt uns die Menschen so, wie wir sie—wieder mal—nicht erwartet hätten: selbstbewusst, ohne verschwurbelte Minderwertigkeitskomplexe, sprach- oder stimmmächtig und stolz auf ihre Abgründe. Ich habe mich mit dem Großmeister der ungeschönten Körperlichkeit in seinem Büro getroffen und bei mehreren Tassen Espresso über sein neues Projekt gesprochen.

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VICE: Ihnen wird oft unterstellt, dass sie die Menschen ironisch und mit einem gewissen Zynismus sehen. Wie sehen sie die Menschen wirklich?
Ulrich Seidl: Oft zum Glück nicht mehr. Diese Zeit ist ziemlich vorbei. Journalisten und Leute, die sich mit Film beschäftigen und mein Werk verfolgt haben, erheben solche Vorwürfe gar nicht mehr. Wenn das kommt, dann nur von Leuten, die meine Filme lediglich aus der Ferne kennen und selbst keine Entwicklung durchgemacht haben. Als ich angefangen habe, wurde ich sehr lange Zeit angefeindet—ungefähr bis Tierische Liebe. Mit Hundstage hat sich das Blatt dann völlig gewendet. Jetzt taucht diese Behauptung nur noch vereinzelt auf. Wenn diesen Vorwurf jemand erhebt, dann nur, weil er selbst genau diese zynischen Vorurteile gegenüber den Darstellern hat.

Ich habe mir Ihren neuen Film Im Keller im Rahmen einer Pressevorführung gesehen, wo das Publikum oft auch sehr abgeklärt und distanziert ist …
​ Ja, Journalisten wie Ärzte neigen zu einem gewissen Zynismus.

In diesem Fall ist mir allerdings aufgefallen, dass im Publikum viel gelacht wurde, aber das Lachen vielen im Hals stecken blieb, weil Ihre Einstellungen zu lange dauern, um sich wirklich über die Menschen lustig zu machen. Sie starren einfach zu lange zurück.
​ Ja. Ich finde es auch gut, wenn die Leute lachen—das Interessante ist ja, dass bei meinen Filmen oft nicht allgemein gelacht wird, weil hier ja keine Pointen gesetzt werden und kein Reflex nach dem Motto „Und jetzt wird gelacht!" heraufbeschwört wird. Stattdessen lacht der eine, während sich der andere über seinen Sitznachbarn ärgert und überhaupt nicht mitlachen kann. Das sagt mir, dass der Humor immer mit einem selbst zu tun hat. Entweder ist einem das peinlich, was man sieht, oder es ist ein befreiendes Lachen oder man ist entsetzt—es kommt immer zu einem selber zurück. Ich finde, das Leben kann für uns alle in vielen Situationen völlig absurd und lächerlich sein, also warum soll man nicht darüber lachen? Wenn es nur dabei bleibt, die Leute auf der Leinwand auszulachen, dann ist das die Verantwortung des Zuschauers. Aber so ist das sicher nicht gedacht.

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Wie haben Sie im Fall von Im Keller Ihre Darsteller gefunden?
​ Das war ein sehr schwieriges und langwieriges Unterfangen. Ich wusste von Anfang an, dass ich hier eine Herausforderung angenommen hatte, die nicht so leicht war. Wie findet man Leute, die interessant sind, die Abgründe in sich haben und auch noch bereit sind, das in irgendeiner Form zu zeigen, darzustellen und darüber zu sprechen? Zunächst findet man ja zuhauf Banalitäten. Ich habe also Mitarbeiter ausgeschickt, die in Siedlungen klopfen gegangen sind, Recherche betrieben und herum gefragt haben. Wir haben auch Inserate geschaltet und so weiter. Natürlich melden sich viele Leute, die einfach nur einen schönen Keller zeigen wollen oder Bierdeckelsammlungen haben oder uns in ihr Jägerstüberl einladen. Auf diesen Zug bin ich aufgesprungen und eine lange Strecke mitgefahren, um herauszufinden, ob auch Menschen dabei sind, die für das Projekt interessant sein könnten. Oft waren es Monate.

Es muss schon sehr viel Vertrauen herrschen, damit sich ein Pärchen dabei filmen lässt, wie die Frau dem Mann ein 1-Kilo-Gewicht an die Hoden hängt. Wie muss man sich den Prozess nach der Anbahnung weiter vorstellen?
​ Ich habe ein Gefühl dafür. Ich begegne den Menschen so, wie ich selbst bin—und es ist meine Begabung, Leuten das Gefühl zu geben, dass ich mich für sie interessiere, weil das eben auch so ist. Ich arbeite auch nur mit Menschen, die mich wirklich interessieren, sonst kommt nichts dabei raus. Bei dem, was daraus entsteht, weiß man dann auch bereits, dass es für den Film etwas darstellen wird. Wenn dem nicht so ist, ist es nach dem ersten Besuch beendet. Und dann spielt natürlich auch der Zufall eine Rolle. Dass wir so jemanden wie Herrn Ochs mit seinem Nazikeller finden, war ein bisschen Zufall und ist durch Weitererzählen entstanden.

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Gerade bei Herrn Ochs, den Sie grade ansprechen, kam mir dir Dramaturgie fast schon spielfilmartig vor.
​Ja, ja. Wir haben nichts per Zufall oder per Überraschung aufgenommen. Alles ist hergestellt, im Sinne einer Cadrage der Kamera. Selbst, wenn eine Handkamera eingesetzt wird, ist die Szene vorher geprobt. Es wird alles genau geplant—das ist auch mein Zugang zum Film. Ich schöpfe zwar immer aus der Wirklichkeit, ich arbeite mit realen Orten und Personen, und will die ja auch wirklich Menschen kennenlernen, die mich interessieren. Aber am Ende ist es kein dokumentarisches Arbeiten, als wäre ich nicht dabei. Stattdessen erhöhe und überhöhe ich—und auf der anderen Seite reduziere ich auch, je nachdem. Es ist mein Blick auf die Wirklichkeit.

Was sich für mich wie ein Motiv durch den Film gezogen hat, ist, dass die Motive der Menschen im Dunkeln bleiben. Man weiß nicht, warum der Opernsänger als Putzkraft am Schießstand und nicht in der Oper geendet ist; genauso, wie man nichts über die Puppenfrau erfährt oder darüber, warum Herr Ochs ein eingefleischter Nazi ist. Warum lassen Sie die Motive hier in allen Geschichten weg?
​Es wäre mir viel zu einfach zu erklären, warum jemand ein bestimmtes Problem hat. Dieses Psychologisieren liegt mir überhaupt nicht. Menschen sind ja weitaus vielfältiger und ambivalenter. Und für den Zuschauer ist es auch befriedigender, wenn die Geschichten auf ihn selbst zutreffen. Das Spannende am Kino ist ja, wenn man darin seine eigenen Abgründe entdeckt. Keiner von uns ist sonderlich weit davon entfernt, auch mal rassistisch oder sexistisch zu sein—all das steckt in uns, wir alle führen auch unsere Doppelleben im Keller. Darum geht es mir. Es geht nicht darum, jemanden abzuurteilen. Ich will Menschen mit ihren Schwierigkeiten zeigen, mit ihren Sehnsüchten und ihrer Einsamkeit.

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Genau dieser wertfreie Zugang wie gegenüber Herrn Ochs wird von manchen kritisch gesehen, wenn es ums Politische geht. Immerhin zeigen Sie hier einen alten Nazi als ambivalenten Menschen, nicht als Monster.
​Das ist genau das Interessante daran. Ein Film ist ja nicht dazu da, Leute zu überführen oder sie abzuurteilen. Herr Ochs ist außerdem kein Neonazi, der begeht in dem Sinn keine Verbrechen. Was mich daran interessiert, ist die Normalität, mit der das alles passiert und in seinem Umfeld allgemein bekannt ist. Das finde ich viel diffiziler—und das ist genau das, was ich möchte. Auch das ist eine von vielen österreichischen Realitäten. Und es ist geradezu eine österreichische Qualität, dass alle im Ort davon wissen und die Musiker trotzdem einfach so zu ihm kommen und so weiter. Das alles sagt ja etwas über unsere Gesellschaft. Und noch was: Der Herr Ochs ist ein sehr sympathischer Mensch. Das ist eben so. Das macht es auch so schwierig—es ist ja viel einfacher, wenn man jemandem begegnet und sagt „Na, das ist doch ein fieses Schwein!" Da kann man leicht mit dem Finger zeigen. Aber diese Normalität und Sympathie neben der ganzen Vergangenheitsverherrlichung das ist schon was anderes.

Er ist auch der lustigste Nazi, den ich je gesehen hab. Der Moment, in dem er ganz direkt sagt „Ich sauf schon recht viel" ist einer der lustigsten im Film. Am Erstaunlichsten für mich war vor allem, dass die anderen Musiker ​kein Problem damit haben, dass sie bei ihm im Keller gefilmt werden. Oder war das auch gespielt?
Nein, nein, das waren richtige Musiker, also Kollegen von Josef Ochs aus der örtlichen Musikkapelle. Das alles sagt ja auch, dass die Männer der feuchtfröhlichen Runde unter dem Hitlerbild für den Film in einer Situation gezeigt werden, die für sie ganz normal war, weil sie sich dort immer wieder—wie Herr Ochs im Film selber sagt—treffen, um zu trinken, sich zu unterhalten und auch zu proben. Gerade um diese „Normalität" ist es mir gegangen, zumal ja auch viele Menschen in der Ortschaft davon wissen und manche von ihnen auch selber dort, im „Nazi-Keller", ein- und ausgehen.

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Ein wenig knüpft Im Keller auch an Paradies: Hoffnung an, weil es auch um die Suche nach privaten Paradiesen geht—oder um Menschen, die sich selbst verwirklichen wollen. Sie haben gesagt, dass wir alle daran scheitern, unser Paradies finden. Warum?
Das liegt in der menschlichen Existenz, dass wir letztlich scheitern oder immer wieder scheitern, und wir trotzdem immer wieder versuchen, das Glück oder die Liebe zu finden. Auch der Tod ist ja ein Scheitern. Und das Leben ist immer eine Kette von Abschieden. Manche sind größer, manche sind kleiner—so wie auch manche Figuren nur mit einem Tableau beziehungsweise einer Einstellung im Film vertreten sind.

In der Kritik werden Ihre Filme gerne auf ihren reinen Informationsgehalt und ein, zwei Schlagworte reduziert, die dann immer wiederholt werden. Bei Im Keller sind das Nazis, Sado-Maso und Jagdtrophäen. Stört Sie das?
Ja, aber das ist heute nun mal so. Ich kann nichts dagegen machen, aber ich finde es vollkommen falsch, wenn man irgendwo nur schnell hineinschaut und irgendein Urteil fällt. Immer mehr junge Menschen machen es genau so. Sie schauen geschwind daneben und glauben, sie haben etwas gesehen. Aber natürlich haben sie nichts gesehen.

Hängt das auch damit zusammen, wo und auf welche Art man Filme anschaut?
Filme sind dazu da, dass man sie als ein Ganzes und auch möglichst im Kino sieht. Meine Filme sind definitiv für die Leinwand gemacht. Bei der Premiere von Im Keller in Venedig waren viele, die den Film zuvor bereits auf einem Bildschirm gesehen hatten, ganz erstaunt, wie er im Großen wirkt—so als hätten sie einen anderen Film gesehen.

Dann sind Sie vermutlich nicht der größte Freund von Home-Cinema.
Ich finde, die Gesellschaft vereinsamt sowieso schon viel zu sehr, da muss man nicht noch mehr alleine zu Hause vor dem Bildschirm sitzen. Man sollte versuchen, mehr hinauszugehen und gemeinsam etwas anzusehen oder zu tun.

Auch, weil man sich im Kino mehr aneinander reibt.
Ja! So entsteht auch etwas Gemeinsames. Diese soziale Komponente von Kino ist sehr wichtig! Und man erlebt einen Film auch anders, wenn man extra irgendwohin geht, den Gang ins Kino geht, danach den Saal verlässt, heimfahren muss und so weiter—das ist ja ein ganz anderer Erlebnisweg, als wenn man nur sitzt und schnell etwas anschaut. Das Handy, das Internet, das alles verführt zu Ablenkungen, aber das ist auch ein Verlust. Ein sinnlicher Verlust. Und weil Filme eben nicht nur Information sind, sondern Kino ja auch ein Medium ist, das man mit seinen Sinnen aufnimmt und das emotional wirken muss, brauchen wir Konzentration und eine authentische Bildsprache, die uns mitnimmt!