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Ein Rollstuhlfahrer beantwortet Fragen, die ihr euch immer schon gestellt habt

Kannst du Sex haben? Darf ich mal mit deinem Rollstuhl fahren? Wenn du MDMA nimmst, kannst du garantiert perfekt laufen, glaubst du mir nicht, hm?

Als ich im Sommer vor 10 Jahren auf einen Baum geklettert bin, habe ich nicht daran gedacht, dass man nicht nur schnell rauf, sondern auch sehr viel schneller runterfallen kann. Ein gewisses Quantum Urvertrauen ging verloren, als der Ast brach, der eigentlich hätte halten sollen. Seit diesem Unfall im Juni 2005 bin ich inkomplett querschnittsgelähmt. Medizinisch wird auch von einer sogenannten „Paraparese" gesprochen, wobei sich das para auf die Füße, das parese auf Lähmungserscheinungen bezieht.

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Interessanterweise scheint fast niemand zu wissen, dass eine Querschnittslähmung nur meistens, aber nicht immer komplett ausfällt: Ein kleiner Teil der RollstuhlfahrerInnen, die ihr so herumbrausen seht, haben keine vollständige Lähmung, falls sie denn überhaupt an einer Querschnittslähmung leiden. Es gibt nämlich eine Menge an Erkrankungen, die im Rollstuhl enden: Multiple Sklerose oder Parkinson zum Beispiel. Eine komplette Querschnittslähmung bedeutet meist wirklich einen völligen Sensibilitäts- und Kontrollverlust abwärts des betroffenen Wirbels. In meinem Fall wurde das Rückenmark auf Höhe des 4. Brustwirbels, der zerschmettert wurde, gequetscht. Was folgte, war ein Monat im Krankenhaus und fünf lange Monate Reha.

Wenn man, so wie ich, Glück im Unglück hat, dann kommt nach zwei bis drei Monaten wieder „etwas" zurück. Langsam. In der Zeit dazwischen suhlt man sich in der geschützten Atmosphäre der Reha und versucht möglichst wenig Selbstmitleid anzubringen, während man lernt, wie man einen Rollstuhl richtig bedient, wie man sich selbst anzieht, wenn man nicht aufstehen kann, wie man ins Bett kommt, aufs Klo, wie man eine Stufe nimmt … Lauter Zeug, an das man davor keinen Gedanken verschwendet hätte. Dass ich irgendwann nach drei oder vier Monaten mit etwas Hilfe wieder aufstehen konnte, hat meine Mama zu Tränen gerührt. Dass meine Sexualfunktion irgendwann in der selben Zeit zurückgekommen ist, hat mich zu Tränen gerührt.

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Mit der Entlassung aus der Reha beginnt dann die eigentliche Reha, das vielzitierte „Zurück ins Leben Finden". Im echten Leben interessiert es abseits von Bekannten und Freunden selten jemanden, was einem passiert ist—und das passt einem auch ganz gut, hat man doch ein und dieselben Dinge schon nach einigen Monaten hundert Male erzählt. Womit ich auch schon beim Erzählen und Fragen bin.

Seltsamerweise fragen mich manche Bekannte gar nicht, oder erst nach vielen Monaten der Bekanntschaft, was mir passiert ist. Klar, keiner will es mir aufdrängen oder so. Aber ich will es natürlich auch niemanden aufdrängen. Deshalb wäre es am einfachsten, wenn ihr einfach mal drauf los fragen würdet. Hier einmal ein paar Infos über Fragen und Dinge, die ich zu oft und zu selten zu hören bekomme:

Fragen, die viel zu oft gestellt werden & Sätze, die ich zu oft zu hören bekomme

- „Ich kenne eine alte Frau, die benutzt auch einen Rollstuhl, die wohnt nur 70 Kilometer von hier entfernt. Die kennst du doch sicher!?"

- „Hast du dir schon mal überlegt, deinen Rollstuhl mit Motoren zu tunen?"

- „Ich hab da mal sowas von einem Schamanen gelesen, der hat gesagt, dass wenn man an sich glaubt, man Selbstheilungskräfte aktivieren kann, die Unmögliches möglich machen … Glaubst du daran?"

- „Du könntest dir zwei Düsen an den Rollstuhl schweißen und dann …"

- „Wenn du MDMA nimmst, kannst du garantiert perfekt laufen, glaubst du mir nicht, hm?"

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Fragen, die viel zu selten gestellt werden & Sätze, die ich zu selten zu hören bekomme

- „Darf ich auch mal mit dem Rollstuhl fahren?"

- „Kannst du Sex haben?"

- „Darf ich dir was von der Bar bringen?"

- „Was genau funktioniert bei dir nicht mehr?"

- „Zu dir oder zu mir?"

Ein Teil der Antworten, die ich euch jetzt hier geben kann

Das Klischee besagt, dass Sex schwierig ist. Mir kommt die Angelegenheit ein wenig tabuisiert vor. Ich bekomme wirklich viele blöde Fragen, aber nach etwas so Wichtigem fragt niemand. Ich beantworte gerne alle Fragen zu meiner Beeinträchtigung, die mir meistens (nicht immer, aber dazu später) einen Rollstuhl als supermeganützliches Utensil aufzwingt. Allerdings sollte der oder die Fragestellende die Umstände entsprechend bewerten können: Es ist zum Beispiel sehr uncool, ein Gespräch zu unterbrechen, weil man jetzt gerade das unstillbare Bedürfnis hat, den Typen da im Rollstuhl zu fragen, was ihm passiert ist. Manche Arschlöcher gratulieren mir in der Disco, dass ich da bin. Das wäre ja OK, wenn ich diese Arschlöcher kennen würde. Gefühlter O-Ton: „Dass du noch fortgehst mit dem Rollstuhl, wow, da muss ich dir geradezu gratulieren, weil wenn ich in deiner Lage wäre, würde ich mich daheim einsperren und mein Dasein künftig alleine fristen."

Generell, das soziale Ding ist ein großer Faktor. Man möchte seinen Mitmenschen so wenig wie möglich zu Last fallen, so viel wie möglich selber machen und so wenig wie möglich anders behandelt werden. Das schneidet sich allerdings oft mit der Realität. Auf Hauspartys stehe ich manchmal ungewollt allen im Weg rum. Ist blöd, weiß ich, geht nicht anders.

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Manche Dinge mache ich mit Krücken. Für lange Strecken, mehr als 500 Meter oder so oder wenn ich besoffen bin, brauche ich den Rollstuhl. Aber wer kann besoffen schon laufen. Mit Krücken kann ich halt nichts tragen oder halten. Also ist ein Alltag im Rollstuhl generell viel leichter für mich. Komme ich aber mit Krücken, weil es die Geographie der Örtlichkeit erlaubt, dass ich zum Beispiel mit meinem Auto direkt davor parken kann, ist vieles anders. Man wird vom anderen Geschlecht als gefühlte zehnmal interessanter wahrgenommen. Mojo back—interessant, wie sehr ein Rollstuhl den Blick auf das Wesentliche verstellt.

Klar, so ein Drahtding um einen herum, treibt das Sexappeal nicht unbedingt nach oben. Ein guter Freund hat einmal einer verwunderten Bekannten, die mich im Stehen Tischkicker spielen gesehen hat, geantwortet: „Tja, würdet ihr alle Rollstuhlfahrer nicht so stigmatisieren …"

Jede/r RollstuhlfahrerIn kennt dieses Lächeln, das einem aus Mitleid zugeworfen wird.

Ach ja, und dann waren da noch diejenigen, die meinen, man ist entweder im Rollstuhl oder nicht. Schwierig. Ein einziges Mal wurde ich als Simulant bezeichnet. Glaube kaum, dass ich mich jemals mehr über einen Kommentar geärgert habe als damals. Was für ein perfider Gedankengang, zu meinen, jemand verwende einen Rollstuhl, ohne darauf angewiesen zu sein. Klar, du Arschloch: Ich mach das nur wegen der extra Aufmerksamkeit und wegen dieser tollen Sprüche, die man sich dann anhören kann.

Das mit Abstand Frustrierendste ist und bleibt aber das Mitleid. Es soll Menschen geben, die das gerne haben, ich zähle jedenfalls nicht dazu. Jede/r RollstuhlfahrerIn kennt dieses Lächeln, das einem aus Mitleid zugeworfen wird. Warum auch immer. Eine Mischung aus geheuchelter Freude und peinlichem Bedauern. Ganz so, als müsste sich irgendjemand dafür schämen, NICHT im Rollstuhl zu sitzen. Ich kann euch beruhigen: Es ist wirklich halb so schlimm, wenn es einem selbst so geht. Also hört auf mit den zwar gut gemeinten, aber im Endeffekt fiesen Grinsern. Überall. Der krebskranke Opa im Krankenhaus hat auch nichts davon und will wahrscheinlich auch auf so etwas verzichten.

Mein Rollstuhl ist wie ein Paar Schuhe für mich. Ein Utensil. Eine Hilfe. Umso nerviger ist es, ständig zum großen Teil auf dieses Utensil reduziert zu werden. Ich weigere mich vehement, durch den Rollstuhl definiert zu werden. Manche sozialen Erfahrungen, die man im Laufe von zehn Jahren macht, geben mir allerdings das Gefühl, dass ich auch unfreiwillig dadurch tatsächlich definiert werde.

Manchmal ist man wirklich im Kopf zuerst Rollstuhl—und dann man selbst. Es ist leicht, dabei die Schuld auf die stigmatisierende Gesellschaft zu schieben. Um darüber ein objektives Bild zu bekommen, fehlt mir die Objektivität. Dass viele einen etwas peinlichen Umgang mit RollstuhlfahrerInnen haben, ist wahrscheinlich bekannt. Wenn ich einen Wunsch an die Gesellschaft äußern dürfte: Schaut unter die Maske. RollstuhlfahrerInnen sind so unterschiedlich wie der Rest der Menschen. Wir sehen uns am Tischkicker. Oder auf Twitter.