Unentschlossenheit ist kein Generationsproblem
So viele Möglichkeiten. Foto von Stefanie Katzinger

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Unentschlossenheit ist kein Generationsproblem

Ich kann mich nicht mal zwischen zwei Käsesorten entscheiden. Ich habe mit einem Experten gesprochen, warum das so ist.

Sonntag ist wahrscheinlich der Tag in der Woche, an dem ich die meiste Zeit verschwende. Also, noch mehr als sonst. Einerseits liegt das daran, dass jede Bewegung katerbedingt doppelt so viel Anstrengung und damit auch doppelt so viel Zeit in Anspruch nimmt. Andererseits liegt es aber auch an Entscheidungen, die ich einfach nicht treffen will oder kann: Welches Essen? Pizza? Welche Pizza? Vielleicht lieber Sushi? Welcher Film? Was Lustiges? Jennifer Aniston? Oder doch eine Serie? Duschen?

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Es fällt mir schwer, Entscheidungen zu treffen. Grundsätzlich. Und ich weigere mich, dafür eine 08/15-Erklärung zu akzeptieren, die schlichtweg auf Auswahlvielfalt gründet und am Ende wieder jemanden dazu bringt, ein neues Generationsproblem auszurufen. Mein Bruder ist zwei Jahre älter als ich und hat nie Probleme, sich für etwas zu entscheiden—der weiß innerhalb einer Sekunde haargenau, worauf er gerade Lust hat und bestellt sich entschlossen eine Diavolo, während ich noch nicht mal weiß, ob ich überhaupt hungrig bin. Bevor ich mich an besagten Sonntagen für eine Pizza, geschweige denn einen Film entschieden habe, ist der Sonntag auch schon wieder vorbei.

Das Ganze geht so weit, dass ein einfacher Lebensmitteleinkauf ziemlich anstrengend werden kann, weil ich dann meistens unentschlossen durch die Gänge irre, hin und her, auf und ab, ohne mich auf irgendetwas festlegen zu können. Brauche ich das? Will ich das? Zumindest im Fall von Käse scheint die Antwort zunächst eindeutig—aber will ich Gouda oder Emmentaler? Prinzipiell mag ich ja lieber Emmentaler, aber ist der Emmentaler hier gut? Was, wenn der Emmentaler vom Geschäft gegenüber besser ist?

In Restaurants bin ich derjenige, der immer ein bisschen zu lange die Karte studiert und den Kellner auch beim dritten Mal mit einem freundlich-beschämten "Ich muss noch kurz überlegen" wegschickt. Glücklicherweise erkenne ich das genervte Schnaufen meiner Mitmenschen meistens als solches und zwinge mich dann höflichkeitshalber zu einer Entscheidung, mit der ich letztendlich aber wieder unzufrieden bin, weil der Spinatstrudel ja vielleicht doch mehr meinen Geschmack getroffen hätte. Sicher bin ich dabei zwar nicht, aber genau das ist es ja wahrscheinlich, was es mir so schwer macht.

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Deshalb liebe ich auch das Prinzip von Deadlines. Sie zwingen einen dazu, Vorgänge abzuschließen. Ich bin nie wirklich fertig, ändere bis zur letzten Minute Kleinigkeiten, nur um dann wieder alles in seiner Gesamtheit in Frage zu stellen, vollkommen umzuschmeißen, weil ich nie hundertprozentig sicher bin, ob ein anderer Weg vielleicht der bessere gewesen wäre. Man hätte das ja auch alles ganz anders machen können. Ich wünschte, Restaurants hätten Bestell-Deadlines.

Reue ist das Stichwort. Der Hättiwari und sein Kollege "Coulda-Shoulda-Prada" sind mittlerweile so tief in unseren Köpfen verankert, dass wir uns auch bei den banalsten Entscheidungen (Käsekauf) vor möglichen negativen Konsequenzen fürchten. Wir versuchen zwar, nach diesem "No Regrets"-Leitspruch zu leben, aber in Wahrheit haben wir einfach wirklich keine Lust darauf, später dann doch wieder irgendetwas zu bereuen, das wir selbst entschieden und damit auch selbst zu verantworten haben.

Als Kind werden einem Entscheidungen ja noch abgenommen. Entscheidungen, mit deren Konsequenzen wir erst mal längerfristig umgehen müssen: Name, Religionsbekenntnis, Taufpate. Zwar besteht da nachträglich immer noch die Möglichkeit auf Änderung, aber in der Regel akzeptieren wir diese Dinge auch bei Nichtgefallen—weil wir eben nichts dafür können. Das macht es einfacher.

Kurz gesagt: Ich bin der Typ aus der Spotify-Werbung, der jeden Song nach fünf Sekunden skippt. Womöglich ist der nächste Song ja besser. Und genau da liegt wohl auch der Hund begraben: Nicht zu wissen, ob eine Entscheidung wirklich die optimale, die richtige ist. Ob es nicht womöglich noch eine bessere Alternative gibt. Jetzt kann man das natürlich genauso auf Tinder ummünzen, aber das hier ist kein Beziehungsunfähigkeits-Manifest, und noch weniger ist es ein Generationentext.

In Internet-Foren tauschen sich Betroffene aus, die extrem unter der Unfähigkeit leiden, einen Entschluss zu fassen. Sie beschreiben Situationen, in denen sie im Alltag behindert werden, und den Stress, den sie dadurch fühlen. "Es ist einfach die Hölle", schreibt ein User. Er habe schon alles versucht, nichts hätte geholfen. Am schlimmsten sei es für ihn, wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass er eine falsche Entscheidung getroffen habe—er hasse sich dann regelrecht selbst und könne wochenlang an nichts anderes mehr denken.

Auch der Wiener Organisationspsychologe Alfred Lackner lehnt die Idee von Entscheidungsschwierigkeiten als allgemeines Problem einer ganzen Generation ab: "Die ersten paar Jahre unseres Lebens werden wir in einem Kontext sozialisiert, den wir uns nicht ausgesucht haben." Die erste Persönlichkeitsleistung als Erwachsener sei es daher, sich seine "eigene Welt zu erobern" und eigenständig Entscheidungen zu treffen—dieser Prozess gehe zunächst logischerweise mit großer Ratlosigkeit einher. Hat man nie wirklich Probleme damit, Entscheidungen zu treffen, ist man einfach stärker sozialisiert, vertraut auf das, was einem als Kind beigebracht wurde.

Wenn ich mich also nicht entscheiden kann, bin ich einfach noch dabei, mich selbst zu finden. Und da kommt Angst ganz von selbst mit. Angst vor Verantwortung, vor Fehlern, vor Ablehnung, vor Versagen. Sehr drastische Begriffe, wenn man darüber nachdenkt, dass ich gerade noch von Käse gesprochen habe. Letztendlich müssen wir aber wohl einfach lernen, Risiken einzugehen und falsche Entscheidungen in Kauf zu nehmen. Mit den Konsequenzen leben, sie akzeptieren und aus ihnen lernen. Ein Sonntag mit schlechten Filmen und labbriger Pizza ist immer noch besser als ein Sonntag, der mit Entscheidungen verschwendet wird.

Franz auf Twitter: @FranzLicht