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The Tp For Your Bunghole Issue

Es gibt Zeiten, da denke ich ausschließlich an Stümpfe

Bei der Body Integrity Identity Disorder wünschen sich die Betroffenen nichts sehnlicher herbei als den Verlust oder die Verstümmelung von Körperteilen und Gliedmaßen.

BIID-Betroffene nutzen unterschiedliche Methoden, um sich ungewünschter Körperteile zu entledigen. Wenn z. B. eine Erfrierung herbeigeführt wird, kann es sein, dass auch Ärzte im Krankenhaus den Wunschzustand des Patienten nicht mehr rückgängig machen können. Im Sommer stellen laut einem Betroffenen Rasenmäherunfälle den „Standardverlust“ dar. Dass ein gesunder Körper krank machen soll, klingt unlogisch. Mittlerweile weiß ich es besser, denn ich habe Leute gefunden, die zu den schätzungsweise sehr wenigen BIID-Betroffenen in Deutschland gehören. BIID steht für Body Integrity Identity Disorder, also Körper-Integritäts-Identitäts-Störung. Eine Störung, die dem Betroffenen sagt, dass eine seiner völlig intakten Gliedmaßen nicht zum Rest des Körpers gehört. Darüber und über andere Formen von Body Modification habe ich einen Film für die Reportagereihe Wild Germany gemacht. Am ehesten vergleichen lässt sich BIID mit Trans­sexualität—der Körper und das innere Körpergefühl passt in beiden Fällen nicht richtig zusammen. Wichtig ist, so Prof. Dr. Kasten, der einer der wenigen ist, die sich intensiv mit dem Phänomen BIID beschäftigen: „Es gibt keine Korrelationen mit irgendwelchen Psychosen oder Neurosen. Umfangreiche psychologische Tests haben ergeben, dass die Betroffenen geistig und seelisch gesund sind. Nur diese Sehnsucht ist eben da.“ So auch bei dem Rentner, den ich hier Rolf nennen werde: „Es gibt Zeiten, da denke ich ein Vierteljahr lang fast ausschließlich an Stümpfe. Wenn es mir schlecht geht, wird das Gefühl stärker.“ Seine Sehnsucht: die Doppelamputation der eigenen Beine. Rolf ist der erste BIID-Betroffene, den ich über Prof. Dr. Kasten kennenlerne und mir erzählen kann, woher sein Amputationsdrang kommt. Er schaut die Tätowierungen auf meinen Armen an und sagt: „Sie haben selbst Veränderungen an ihrem Körper vorgenommen, die unwiderruflich sind. Das ist genauso bei einer Amputation, die ich will.“ Der Vergleich hinkt, da mein Körper durch Tattoos nicht in seiner Funktion eingeschränkt wird. Aber ich ahne worauf er anspielt: auf das Recht über den eigenen Körper frei zu bestimmen. Ob Frisuren, Tätowierungen, die unterschiedlichsten Schönheitsoperationen oder der Wechsel des eigenen Geschlechts, das alles wird akzeptiert, weil es das Ich-Gefühl stärkt. Ist eine Amputation bei einer seelisch leidenden BIID-Person etwas anderes, weil danach eine Körperbehinderung eintritt? An Rolfs Körper kann ich keine äußerlichen Veränderungen wahrnehmen, doch seit er elf Jahre alt ist, trägt er das Gefühl in sich, mit nur einem oder keinem Bein ein erfüllteres Leben zu führen. Einige BIID-Betroffene sollen angeblich die Selbstamputation mit Werkzeugen oder Trockeneis versuchen. Für Rolf ist das keine Option. Zum einen hat er Angst vor den gesundheitlichen Risiken, und zum anderen garantieren diese Methoden nicht den Stumpf, der dem ästhetischen Ideal von seinem Traumstumpf entspricht. Rolf liebt das Besondere, aber er spricht unemotional darüber: „Das Besondere ist das fehlende Bein. Die Bewegung dieses Beines, dieses Stumpfes ist völlig anderer Art als die eines kompletten Beines. Der Stumpf ist schön.“ Die 7.000 Euro teuren spezial angefertigen Orthesen aus Leder dienen der Ruhigstellung von Peters Beinen und verhindern den Muskelaufbau bzw. begünstigen den Muskelschwund. Über das Geld, sich seine Beine in Asien von einem Chirurg wunschgemäß amputieren zu lassen, wie es laut Rolf andere BIIDler schon getan haben, verfügt er nicht. Er verrät mir, dass er über die Jahre aber eine Methode perfektioniert hat, die es ihm erlaubt, für bis zu 20 Minuten ein Gefühl der absoluten Taubheit der eigenen Beine zu erzeugen. Wird der Nerv unterhalb des Hüftknochens richtig abgeschnürt, soll dieser Zustand eintreten. Das Nichtspüren der Beine führt bei Rolf seit seinen ersten Versuchen zu einem Orgasmus. Der Gedanke an den Stumpf und den beinamputierten Mann ist dabei mehr als ein Fetisch für ihn. Der Amputierte stellt das Spiegelbild von Rolfs Idealbild der eigenen Person dar. Auf der Suche nach weiteren BIID-Erfahrungsberichten im Internet stoße ich auf einen Betroffenen, mit dem ich nur über E-Mails kommuniziere. Der Amputationswunsch ist bei ihm nicht sexueller Natur, aber er hat sich selbst drei Zehen entfernt, in der Hoffnung, dass die Sehnsucht nach einer Unterschenkelamputation nachlässt. Leider ist das Verlangen danach seitdem größer als jemals zuvor. Wochen später treffe ich noch einen weiteren BIIDler, der mich sehr beeindruckt. Keine Ahnung, wann ich das letzte Mal mit jemandem gesprochen habe, der so viel Zufriedenheit ausstrahlt. Vor mir auf der Bettkante sitzt dieser schätzungsweise 50 bis 60 Jahre alte Mann, der Peter heißen soll und mir seine maßangefertigten Lederorthesen zeigt. Sie kosten 7.000 Euro und wurden auf Peters Wunsch von ihm alleine und ohne Unterstützung der Krankenkasse finanziert. Von morgens bis abends umschnüren die Orthesen seine schlaffen Beine. Sie sind notwendig, um seine Beine völlig ruhig zu stellen, damit die Muskulatur unterhalb der Hüfte nicht länger beansprucht wird und so eine künstliche Fehlstellung entsteht. Seit rund zwei Jahren sitzt Peter nur noch im Rollstuhl. Freiwillig. Er erinnert sich an seine Kindheit, in der auch er schon den tiefen Wunsch nach einer Querschnittslähmung verspürte: „Früher habe ich mir die Beine schon mit Notenständern geschient.“ Peter gehört zu den „Pretendern“. Leute, die so tun, als ob sie ihre „Wunschbehinderung“ tatsächlich hätten. Seine Leichtigkeit verwandelt sich in Anspannung, wenn er über früher redet. Bis vor zwei Jahren führte er ein Doppelleben. Die Angst, von Freunden oder Kollegen erkannt und entlarvt zu werden, wenn er sich in den Rollstuhl setzte, war sein ständiger Begleiter. Weil die Glücksmomente weniger wurden und der Wechsel in den Alltag, als normal gehender Mensch, sich für Peter mehr und mehr falsch anfühlte, beschloss er, sich von seinem alten Ich zu verabschieden. Dazu erzählt er einfach: „Ich hatte keine Wahl.“ Heute lebt Peter am anderen Ende Deutschlands, seine Kollegen und Nachbarn kennen ihn nur als Querschnittsgelähmten. Seitdem leidet er nicht mehr unter Depressionen und ist glücklich, sagt er. Ich frage ihn, ob er noch ohne Orthosen und Krücken laufen kann, und mit großer Mühe und in sicherer Nähe zur stützenden Wand legt Peter langsam nur wenige wackelige Schritte zum nächsten Stuhl zurück. Dann kann er sich endlich wieder hinsetzen. Diese Wild Germany-Folge kommt am 10. Dezember um 22.30 Uhr auf ZDFneo und ist danach in der ZDFmediathek zu finden.

Fotos: Manuel Graubner