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Vice Blog

Es ist wirklich passiert - Mein erster Tag als Zivi bei den Sanitätern

Mein Freund Anton Seidl* ist ohne Brille blind wie ein Maulwurf. Das ist normalerweise ausreichend, um schon beim Betreten des örtlichen Kreiswehrersatzamtes für wehruntauglich erklärt zu werden.

Mein Freund Anton Seidl* ist ohne Brille blind wie ein Maulwurf. Das ist normalerweise ausreichend, um schon beim Betreten des örtlichen Kreiswehrersatzamtes für wehruntauglich erklärt zu werden. Leider ist Anton im Besitz eines Führerscheins über sämtliche Klassen. Deswegen weigert sich der Bund strikt, ihn auszumustern. Die sind da eben scharf auf Leute, die große Maschinen fahren können. Da er mitten in der Ausbildung steckt, hat sich mein Freund entschlossen, Ersatzdienst beim Roten Kreuz auf Bereitschaft zu leisten. Er macht eine Ausbildung zum Hilfssanitäter und muss für die nächsten sechs Jahre so ungefähr alle zwei Wochen auf Einsatz. Dafür ist er dann befreit von Wehr- bzw. Zivildienst. Vor kurzem hatte er seinen ersten Einsatz. Hier ist sein Bericht.

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Weißt du, ich habe mich für dieses Sanitäter-Ding entschieden, weil ich gedacht habe, das wär 'ne coole Geschichte. Leben retten, besoffenen 14-jährigen Mädchen die Mägen auspumpen, lauter so lustige Sachen eben. Ich wollte mit einem Krankenwagen bei eingeschaltetem Blaulicht und Sirene über rote Ampeln brettern und in meiner orangefarbenen Jacke auf Held machen. So ungefähr sah das in meiner Vorstellung aus… Mein erster Bereitschaftsdienst war an einem Sonntagvormittag. Man kommt in die Dienststelle, zieht sich seine Sanitäterkluft an, setzt sich in die Wache, schaut Fernsehen, stopft sich mit Subway Sandwiches voll und wartet auf Notrufe. Hört sich wunderbar an, oder? Im Gegensatz zu den Berufssanitätern war ich außerdem nur eingeteilt für Krankentransportfahrten. Schließlich sollte ich heute ja auch nur angelernt werden. Ich stellte mich also darauf ein, gemütlich herumzufläzen und alle ein bis zwei Stunden mal eine nette alte Dame mit verstauchtem Knöchel ins Krankenhaus zu bringen. Keine 10 Minuten nach Dienstbeginn kam der erste Anruf. Es hieß wir sollten zum betreuten Wohnheim, einen Herrn Maier* ins Krankenhaus bringen, der Notarzt sei auch schon auf dem Weg. Mein Chef und ich fuhren los. Als wir nach ewiger Sucherei endlich bei dieser Wohnanlage ankamen, stand der Notarzt schon unten vor seinem Auto und rauchte eine Zigarette. „Mit dem da oben geht's zu Ende. Ich hab schon 'ne dicke Dosis Tramal gespritzt, ihr könnt drauf warten, dass der den Löffel abgibt. Überlebenschance gleich Null." Das war seine Begrüßung. Tramal ist ein starkes, opioides Schmerzmittel. Mir wurde etwas mulmig. „Der stirbt?" fragte ich. „Ja, Herr Seidl, da haben Sie vielleicht keinen so guten ersten Tag erwischt," meinte mein Chef.

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Wir schoben unsere Bahre in das Wohnheim, einen ekligen sterilen Neubau. Mit dem Aufzug in den vierten Stock, den Gang runter und dann links. Die Tür war schon offen. Der Gestank im Zimmer ließ mich würgen. Der ganze Raum roch nach dem alten abgestandenen Urin eines kranken Körpers. Außerdem war die komplette Familie schon versammelt. Die Tochter mit ihrem Mann, ein Enkelsohn, die Schwester. Ich hatte eigentlich wenig Lust, mit dem Leid von Angehörigen konfrontiert zu werden, aber na gut. Außerdem wirkten sie eh sehr gefasst. Schon beinahe guter Dinge. Warum sollte sich gleich zeigen. Der Kranke lag nicht in seinem Bett, sondern zugedeckt auf der braunen Couch in der Ecke des Zimmers. Wir sahen in das brüchige, eingefallene Gesicht, das tief in einem großen weißen Kissen versank. Es atmete flach und stierte ausdruckslos an die Decke. Die Augen waren gelb. Nicht gelblich angelaufen, gelb. Alles, was normalerweise weiß ist, strahlte in tiefstem, sattem Eitergelb. Ein Gelb, das sagte: „Junge, du hast dir wirklich vollkommen falsche Vorstellungen von diesem Job gemacht." Der Bereitschaftsleiter wandte sich ab und bat das junge Ehepaar mit ihm und mir auf den Balkon zu gehen. Dort stellte sich dann raus, dass die Familie noch gar keine Ahnung hatte, was hier los war. Der verdammte Notarzt hatte ihnen die schlechten Neuigkeiten einfach nicht mitgeteilt. Er hatte den Schwarzen Peter elegant weitergereicht, dieser Hundesohn. Jetzt lag es an uns, der Familie zu erklären, dass ihr geliebter Vater, Großvater und Bruder bereits Richtung Jenseits reiste. Und zwar nur Hin und nicht Zurück. Ziemlich bald waren fast alle am Flennen. Die ganze Familie schien aus allen Wolken zu fallen. Ich meine, hatten die sich diesen Menschen da auf der Couch nicht ein einziges Mal genauer angesehen? Was hatten die gedacht? Dass wir ihm eine Spritze geben, und danach tanzt Herr Maier wieder fröhlich Tango und macht den Frauen schöne gelbe Augen? „Wir haben jetzt zwei Möglichkeiten," sagte mein Bereitschaftsleiter. „Entweder warten wir hier. Dann kann Herr Maier in Ruhe sterben. Wir können ihn auch ins Krankenhaus fahren und ihn notbehandeln lassen. Allerdings sage ich Ihnen ganz ehrlich: Das Unvermeidliche wird dadurch nur kurz hinausgezögert. Und ihr Schwiegervater wird durch den Transport  schrecklichen Schmerzen ausgesetzt." Das war der Punkt, ab dem ich nur noch verschwinden wollte. „Wir müssen alles versuchen," schluchzte die junge Frau. „Bitte nicht!" schrie ich verzweifelt in Gedanken. Ich flehte diese Frau innerlich an, mir und dem alten stinkenden Mann das nicht anzutun. „Ihr Vater stirbt," sagte mein Chef „Allein das Umbetten auf die Bahre bedeutet für ihn unvorstellbare Qualen. Und wir werden ihn nicht retten können." „Aber wir müssen alles versuchen," schluchzte die junge Frau trotzig. Ihr Ehemann hatte nicht die Eier sie vom Gegenteil zu überzeugen. Er stimmte ihr zu. „Bring Sie gefälligst davon ab, du verdammter Versager!" schrie ich panisch in Gedanken. Mein Chef seufzte und sah mich an. „Dann müssen wir wohl, Herr Seidl." Mir brach der kalte Schweiß aus. Mein Bereitschaftsleiter schickte die alte Dame mit dem kleinen Kind aus dem Zimmer. Wir schlugen die Decke zurück. Der alte dürre Mann lag da völlig verkrampft in seinem Nachthemd. Seine Haut war gelb, und es sah aus als würde er stark schwitzen. Allerdings war das der Urin, der aufgrund vollständigen Nierenversagens über die Haut austrat. Daher der Gestank. Herr Maier war so fertig, er pisste durch die Poren seiner Haut. Wo zur Hölle war ich hier gelandet? Ich fuhr die Bahre an die Couch heran.

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„So Herr Maier," sagte mein Chef zu dem Alten, obwohl es nicht so wirkte, als würde der das noch mitbekommen, „ganz ruhig jetzt, wir heben Sie schnell auf die Bahre. Keine Angst." Er fasste ihn unter den Achseln, ich griff seine dürren nassen Füße an den Knöcheln. Der Alte begann nervös zu wimmern. Auf drei hoben wir ihn an. Er machte die schrecklichsten Klagelaute, die ich je gehört habe. Ein erbärmliches, flehendes, tierisches Jaulen. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. „Das wird schon wieder," wiederholte ich ununterbrochen. In Anbetracht der Situation war das natürlich eine ziemlich dämliche Aussage, aber was sollte ich denn machen? Es war auch irgendwie weniger an den Kranken gerichtet, als an mich selbst. Schließlich fühlt es sich nicht gut an, einem alten sterbenden Mann die Schmerzen seines Lebens zu bereiten. Wir gurteten ihn fest und fuhren zum Aufzug. Der Horror war noch nicht vorbei… Irgendein Spaßvogel hatte die Idee gehabt, den Aufzug in diesem Altenheim zu kurz für herkömmliche Sanitäterbahren zu bauen. „Wer ist der verdammte Architekt von diesem Laden? Wer ist dieser verfluchte Scheißidiot?" brüllte mein Chef. In der Bahre jammerte Herr Maier. Oh Gott, dachte ich. Ich kann nicht mehr. Der Chef wandte sich wieder an den wimmernden Greis. „Es tut mir leid Herr Maier, aber wir müssen die Bahre aufrecht in den Aufzug stellen." Flehend sah ich meinen Chef an. „Nein…" sagte ich. „Ja, Herr Seidl, da haben Sie wirklich einen schlechten ersten Tag erwischt…" Wir hievten also diese Bahre aufrecht in den Aufzug wie zwei Möbelpacker. Bei jeder Bewegung  jammerte der alte Mann auf. Es war grauenhaft. Irgendwann hatten wir ihn endlich da drin stehen. Es sah ein bisschen aus wie Hannibal Lecter in „Das Schweigen der Lämmer", wenn er vor die Senatorin geschoben wird. Nur dass Herr Maier nicht mit der dämonischen Präsenz eines Anthony Hopkins in seinen Fesseln stand, sondern kraftlos wie eine Marionette in den Haltegurten hing. Die Fahrstuhltüren schlossen sich und wir fuhren hinab. Du kennst die peinlich Stille, wenn man mit fremden Menschen im Fahrstuhl steht? Wenn man die ganze Zeit starr nach vorne schaut, weil man keinen direkt ansehen will? Jetzt stell dir vor, dass einer dieser Fremden ein wimmernder alter Mann ist, der grotesk aufgebahrt neben dir an der Wand lehnt, Urin ausschwitzt und langsam stirbt. Das war die beschissenste Fahrstuhlfahrt meines Lebens.

In der Notaufnahme warf der behandelnde Arzt einen kurzen Blick auf unseren Patienten. „Warum bitteschön bringt ihr mir denn den hier noch vorbei?" „Tut mir leid," sagte mein Chef „die Familie wollte es so…" „Na herzlichen Glückwunsch. Hat er was gegen die Schmerzen bekommen? Ja? Gut, dann schiebt ihn in irgendeine Ecke wo noch Platz ist." Wir schoben Herrn Maier also in eine abgelegene Nische, um ihn da sterben zu lassen. Ich wollte Leben retten, Mann! Zurück im Krankenwagen ging sofort wieder der Funk. Nächster Einsatz. „Wie bitte?" schrie ich „Ich kann nicht mehr, wirklich! Ich bin vollkommen fertig!" „Ja," sagte mein Einsatzleiter „da haben sie wirklich einen schlechten ersten Tag erwischt, Herr Seidl. Das muss man schon sagen" Ich sagte nichts mehr. Mit zittrigen Fingern drehte ich den Zündschlüssel und fuhr los.


* Alle Namen wurden geändert