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Mode

Meine Odyssee mit Male-Make-up im Gesicht

Die Mission war herauszufinden, ob Berlin überhaupt für diesen neuen Trend bereit ist, den wir Andreev-style nennen.

Male-Make-up? Ich würde mich schon als offen bezeichnen, nicht weil ich jeden Scheiß ausprobiere, sondern weil ich tolerant gegenüber denjenigen bin, die eine andere Ausdrucks- und Denkweise haben, und nicht den Drang spüre, eine persönliche Weltanschauung in den Kopf Anderer schlagen zu müssen. Trotzdem erwachte mein lateinamerikanischer konservativer Instinkt, als mir aufgetragen wurde, einen vermeintlich neuen Trend auszuprobieren. Male-Make-up. Nicht im Sinne von Metrosexualität, sondern Star Light Express-Style. Plötzlich stand meine ganze Sexualität in Frage. War das nur der Anfang, mein wahres Ich kennenzulernen, welches ich jahrelang verdrängt hatte? Meine Familie und Freunde in Kolumbien würden für diesen Artikel sehr stolz auf mich sein. Aber zu welchem Preis? Male-Make-up

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Es war Samstagmorgen und ich saß fast zwei Stunden in meinem Wohnzimmer und hielt mein Gesicht der Make-up-Dame entgegen, die mich konzentriert „bemalte“, aber mir ab und zu amüsiert sagte: „Du tust mir echt leid!“ Doch als meine Verwandlung fertig war, konnte ich vorm Spiegel nur noch an David Bowie denken. Erst als ich den Treppen der Eingangstür näher kam, wusste ich, dass diese den Abstieg meiner Illusion in die Realität bedeuteten. Ich wurde nervös. Alexa

Meine Mission war herauszufinden, wie ich in der Gesellschaft mit meinem neuen Stil ankomme und ob Berlin überhaupt für diesen neuen Trend bereit ist, den ich Andreev-style nannte. Nach den ersten Schritten in der Öffentlichkeit wusste ich, dass ich nicht mehr nur Alex war. Auch war für mich die Tatsache ungewohnt, dass die meisten Leute mich nicht nur ein einziges Mal kurz anblickten, sondern zwei, drei und vier immer schnellere und starrere Blicke folgten. Ein B-Boy, dem ich begegnete, sah mich an und meinte nur: „Wow!“ Ironie? Sarkasmus? Doch als ich am Alexanderplatz ausstieg, kuckte mich ein Macho-Alpha-Typ bereits so böse an, als ob ich seine Mutter beleidigt hätte. Ich bin mir fast sicher, dass er meine Schminke verschoben hätte, wenn ich ihm zugenickt hätte.

Im Alexa, dem hässlichsten Einkaufszentrum Berlins, gewann ich ein bisschen an Selbstvertrauen zurück, da mich überraschend viele Frauen plötzlich interessiert anstarrten. Den meisten schien es zu gefallen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sie sich mit mir identifizierten. Nur wenige, vor allem die Mode-Püppchen, drehten sich mit einem WTF?!-Gesichtsausdruck um. Als ich an einem Mützenstand vorbeikam, sprach mich die Verkäuferin sofort auf meinen Look an: „Schöner Style. Trägst du immer Make-up?“ Ich riss mich zusammen, blieb in meiner Rolle und antwortete: „Ja, es ist so ein Trend, den ich gerade ausprobiere.“ Sie wollte unbedingt, dass ich mir eine fancy Mütze aufsetze und ein Foto mit ihr machen lasse. Ich hatte auch das Vergnügen, ab sofort Teil der Hall of Fame des Stands zu sein. Derzeit frage ich mich, ob sie noch immer ein Date akzeptieren würde. Charlottenburg

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Eins muss ich gestehen. Es war halb vier und mein nächster Plan an diesem Wochenende war es, in eine Fussballkneipe zu gehen. Auf der Suche nach dem perfekten Ort traf ich eine Truppe von Fussballfans auf der Straße, die vor sich hin soffen und irgendwo hinmarschierten. Ich fragte einen, was das Ziel sein sollte. Er drehte sich langsam um, und während er mich von oben bis unten blöd anglotzte, sagte er: „Was ist denn … mit dir?“ Der Punkt war klar: Fussball und Make-up passen nicht zusammen. Auch wenn sich Fussballfans zu großen Turnieren selbst das Gesicht beschmieren.

Deswegen entschloss ich eine spießigere Seite der Stadt auszuproben. Am Kurfürstendamm ging es in das Restaurant Reinhard’s. Vor dem Eingang starrten mich zwei ältere Frauen verzweifelt und ohne Scham an. Ich bekam sofort einen Tisch, die Bedienung war sehr höflich und den anderen Gästen fiel ich nicht besonders auf. Vielleicht ist es in diesem „Kulturniveau“ nicht so ungewöhnlich, einen geschminkten Mann zu treffen. Ich meine, ich hätte ja ein respektabler Schauspieler oder Musiker sein können. Nach einem Kaffee wurde ich von der Geschäftsführerin sogar mit einer Broschüre zu einem Weihnachtskonzert und einen netten „Ich liebe dein Make-up“ verabschiedet. Tierra Colombiana

Ich brauchte ein wenig mehr Kontroverse und entschloss, in ein kolumbianisches Restaurant zu gehen, deren Geschäftsführerin meine Tante, die in Hamburg lebt, gut kennt. Ich hatte auch schon mit ihr telefoniert. Im Ausland ist es normal und fast offensichtlich, dass man sich gegenseitig unterstützt. Da ich aber in streng katholischen Augen kein „normaler“ Kolumbianer mehr war, könnte mein Aussehen nicht nur als Überraschung, sondern als wahrer Affront wahrgenommen werden. Bevor ich in das Restaurant ging, fühlte ich mich schon unwohl. Ich war nervös und aufgeregt, wie noch nie zuvor. An einem Tisch saßen drei junge Kolumbianer zusammen. Es herrschte eine unbequeme Stille. Dann kam die Freundin meiner Tante und stellte mir viele Fragen über mein neues Leben in Deutschland. Sie ignorierte mein ungewöhnliches Aussehen. Kein Kommentar. Kein Blinzeln. Ich bestellte zwei Aguardientes, den traditionellen kolumbianische Anis-Schnaps, um meine Beklemmung zu lindern. Dann sprach ich die drei Kolumbianer an, die neben uns saßen. Sie waren aus meiner Heimatstadt. Eins, zwei, drei kleine Small-Talk-Sätze und das Gespräch wurde mit dem klassischen Trick, „wichtige Mails“ schreiben zu müssen, beendet. Nicht üblich bei Landsmännern, weniger noch, wenn sie aus der gleichen Stadt stammen. Egal. Der andere Tisch neben uns war jetzt von einer Lateinamerikanerin und ihren deutschen Gästen besetzt worden. Der Älteste von ihnen konnte nicht aufhören, mich direkt anzustarren. Welcome back to Germany. Nachtleben

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Langsam war ich müde und verkrampft. Ich hatte Lust, mich ein wenig zu berauschen. Ich nahm den Bus in Richtung Mitte, in die Odessa Bar. Ich wollte sehen, wie mein Make-up im Nachtleben ankommt. Am Eingang wurde bereits selektiert, eine Frau, die mehrere Partygänger, die rein wollten, abservierte. Ich atmete tief ein und ging voller Selbstvertrauen in Richtung Bar. Plötzlich platzierte sich die „Türsteherin“ vor mir: „Ist heute Kostümnacht oder läufst du immer so rum?“ Ich antwortete automatisch und selbstsicher: „Ich laufe immer so rum.“ Sie: „Herzlich willkommen!“ Ich ging hinein und dachte nur „Wow!“ Zum ersten Mal an diesem Tag fühlte ich mich stolz. War das also wirklich mein neues Ich?

Meine Absicht war, herauszufinden, ob mich mein Make-up Frauen gegenüber besser in Szene setzt, oder ob es ein kompletter Abturner für die Damenwelt ist. Ich holte mir ein Bier und fing mit dem Casting an. Ich suchte nach einer für mich passenden Kandidatin, ein nettes und hübsches Mädchen, das mich keinesfalls ablehnen durfte, weil ich mein neues Selbstvertrauen sofort verlieren würde. Zu groß, nicht mein Typ, eingebildet, nicht meine Kategorie. Da drüben. Nein, da kommt der Freund. Ich holte mir noch ein Bier. Und wieder das Gleiche. Letztendlich entschloss ich, in eine andere Bar zu gehen, in der ich nicht nur geschlossene Gruppen oder untrennbare Paare finden würde, sondern weibliche Opfer, die für einen Flirt bereit wären.

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Auf den Weg in eine Bar ohne „Tür“ dachte ich, dass die Nacht mich mit der Zeit immer mehr schonen würde. Erstens fiel mein Make-Up nicht mehr so auf wie am hellen Tag; zweitens war es nicht mehr so frisch. Im Raucherraum der nächsten Kneipe kam ich mit einem Holländer ins Gespräch, der auf eine freundliche Art meinte: „You are fuckin‘ insane.“ Er war auch insane, aber auf eine andere Weise. Ich durfte mein Ziel aber nicht aus den Auge verlieren. Plötzlich bot sich die perfekte Gelegenheit: Zwei süße Frauen. Sie saßen alleine. Sofort ging ich rüber und schnappte mir sie. Es funktionierte. Es war so einfach. Ich brauchte keinen Anmachspruch, denn den trug ich bereits im Gesicht.

Ich feierte diese Nacht bis in die Frühe, bekam ab und zu immer noch ironische Sprüche hinterhergeworfen, aber noch nie fiel es mir so leicht, meine Handy-Speicherkapazität mit Telefonnummern zu füllen.

Fotos: Inga Liningaan Langkay

Styling: Sophia Giesecke