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The Humongous Fungus Among Us Issue

Feudalsystem

2012 waren in Albanien rund 1.600 Familien von Blutfehden betroffen. Diese Art Fehden hatten, laut Angaben des Nationalen Komitees für Versöhnung, in dem Zeitraum seit dem Ende des kommunistischen Regimes bis zum Jahr 2000 bereits 10.000 Menschenleben...

Gjon Mhilli verlässt sein Haus nicht mehr, weil er Angst hat, ermordet zu werden. Foto des Autors

Gjon Mhilli lugte durch die Vorhänge seines Hauses in einem Dorf in der Nähe von Shkodër, im Nordwesten Albaniens. Draußen war es sonnig und warm. Die Wolken wälzten sich über die Berge und über die grünen Hügel. An dem Tag, an dem sie ihn das erste Mal fast erwischt hatten, war das Wetter ganz ähnlich gewesen.

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Der Schwarze Samstag, so nennt Mhilli diesen Tag. Vor 22 Jahren arbeitete der da­mals 16-jährige Albaner auf dem Weizenfeld seiner Familie, als sich, schreiend und ihn beschimpfend, der Vater und die vier Söhne einer benachbarten Bauernfamilie näherten. Sie wollten das Land von Mhillis Familie. Als die vier auf den Teenager einschlugen, traten und stachen, bis er zu Boden ging, war Mhilli sicher, dass er sterben würde—bis sein Bruder herbeieilte und einen der Söhne zu Tode knüppelte.

Mhillis Bruder wurde von einem Gericht wegen Todschlags verurteilt, aber der Vater des Toten war auf eine etwas ältere Form der Gerechtigkeit aus: Er erklärte öffentlich, dass Mhillis Familie mit Blut zahlen müsse.

Seither, sagt Mhilli, musste er mehr als ein Dutzend Anschläge auf sein Leben durchstehen. 2003 versuchte man, ihn zu verbrennen. 2006 folgten ihm zwei Männer zu seinem Haus und schlugen ihm mit einer Pistole ins Gesicht, worauf er ins Koma fiel. Als er wieder zu Bewußtsein kam, forderte die Polizei ihn auf, seinen Angreifern zu verzeihen.

Heute verlassen weder Mhilli noch seine Frau Valentina oder die drei Kinder ihr kleines, gemietetes Betonsteinhaus. Nebenan ist eine ottomanische Moschee, vor der alte Männer in der Sonne sitzen und Tee trinken.

Mhilli wagt es nicht, sich zu ihnen zu gesellen, aus Angst zu sterben. Er bleibt also im Haus, schaut fern, trinkt Kaffee und raucht selbst gedrehte Zigaretten. Die Kinder leben teilweise bei einem Onkel, da es bei ihrem Vater zu gefährlich für sie ist.

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GJAKMARRJA ist die soziale Verpflichtung, einen Tod durch den Mord an einem männlichen Mitglied der Familie des Mörders zu rächen.

Gjakmarrja, die Tradition der Blutfehde, ist ein Bestandteil der albanischen Kultur, seit im 15. Jahrhundert in einer Liste von Gesetzen, die man als Kanun des Lekë Dukagjini bezeichnet, festgeschrieben wurde, dass die Familie eines Mordopfers sich für dessen Tod mit der Ermordung eines männlichen Mitglieds der Familie des Mörders rächen darf.

Enver Hoxhas kommunistische Partei der Arbeit Albaniens übernahm 1944 die Herrschaft. In den darauffolgenden Jahren verbannte sie Religion, verbot Bärte und viele andere Aspekte des traditionellen Lebens, darunter die Gjakmarrja, schaffte es aber gleich­zeitig, das Land in eines der ärmsten und isoliertesten Länder Europas zu verwandeln. Bis die Kommunisten 1992 die Macht verloren, war Albanien zum kaputten Hinterhof Europas avanciert. Als 1997 gleich mehrere Pyramidensysteme kollabierten, brachte das fast die gesamte nationale Wirtschaft zu Fall, und in dem daraus resultierenden Chaos gerie­ten riesige Mengen an schweren Waffen aus dem Besitz der Regierung in die Hände der Bevölkerung. Angesichts dieser Geschichte überrascht es kaum, dass das Rechtssystem Albaniens ein geringes Vertrauen genießt und der Kanun—und damit die Blutrache—erneut zu einem verbreiteten Mittel der Schlichtung von Konflikten geworden ist.

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2012 waren rund 1.600 Familien von Blutfehden betroffen. Diese Art Fehden hatten, laut Angaben des Nationalen Komitees für Versöhnung (KPGj), einer sich gegen Gewalt einsetzenden NGO in Albanien, in dem Zeitraum seit dem Ende des kommunistischen Regimes bis zum Jahr 2000 bereits 10.000 Menschenleben gefordert.

Es obliegt solchen nichtstaatlichen Gruppen, die Welle des Bluts zu stoppen, wie mir der Vorsitzende des KPGj, Gjin Marku, erzählte, da die Regierung nur wenig Unterstützung anbietet. Mhilli kann das bestätigen, er holte einen Stapel mit Briefen hervor, die er über die Jahre an verschiedene staatliche Stellen gesendet hat. Die wenigen Antworten, die er bekam, waren oft nicht gerade verständnisvoll, in ein paar Briefen heißt es sogar, er solle seine Nation nicht in ein schlechtes Licht rücken oder gar in ihrem Bemühen, in die EU einzutreten, behindern.

Tatsächlich sagte mir der albanische Premierminister Edi Rama in einem Gespräch über die Fehden, dass der Gewalt nur durch einen Ausbau der sozialen Dienste, vor allem aber durch eine EU-Mitgliedschaft beizukommen sei. „Das ist etwas, dass nur durch Integration und Europäisierung zu lösen ist.“

Währenddessen reist Marku durch das Land, um Blutfehden durch Dialog und Mediation zu beenden. „Ich habe großes Vertrauen in Edi Rama“, sagte Marku. „Wenn das Staatsoberhaupt sich der Strategie des KPGj und der Kultur der Aussöhnung zuwendet, wird es eine gute Wendung nehmen.“ Ich fragte Marku, ob er einen Rat für Mhilli habe, und er sagte, seine einzige Chance sei die Flucht: „Er sollte keine weitere Minute in Albanien bleiben.“

Mhilli war vor zwei Jahren tatsächlich mit seiner Familie nach Schweden geflohen, war aber nach eineinhalb Jahren wieder ausgewiesen worden. Jetzt hat Mhilli das Gefühl, an einem Ort gefangen zu sein, in dem er sich nicht vorstellen kann, dass es seiner Familie jemals gut gehen wird.

„Es ist eine katastrophale Situation“, sagte er. „[Die Kinder] sind nie in der Schule ge­wesen. Der Ältere kann schreiben, aber der jüngere Sohn kann es nicht. Ich habe keinerlei Hoffnung für ihre Zukunft. Wenn ich sie sehe, verzweifle ich.“