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Popkultur

Putins gnadenloser Machtkampf

Der Fall Chodorkowski vom deutschen Filmemacher Cyril Tuschi zeigt das einzige Interview mit Chodorkowski seit dessen Inhaftierung.

In den 90er-Jahren war Michail Chodorkowski der Oligarch der Oligarchen. Er war der Chef von Sibiriens gigantischer Ölfirma Yukos und einer der reichsten Männer der Welt. Er war der Richard Branson Russlands. Und genau wie Branson, der die britische Politik mit seinen Aussagen über Drogen erregt hat, hat auch Chodorkowski dem Regime seines Landes nicht genügend „Respekt“ gezollt. Er fing an, die politische Opposition zu unterstützen, und redete dabei von einem offenen Russland. Außerdem machte er Yukos transparenter, um es so für westliche Investitionen attraktiver zu gestalten, und er pflegte Kontakte zur Bush-Familie. Putin, der Mafia-Boss, hielt nichts von dem Scheiß und Chodorkowski hörte nicht damit aus, sein eigenes Grab zu schaufeln. Im Oktober 2003 wurde Chodorkowski mit ein paar Kollegen wegen Steuerhinterziehung ins Gefängnis gesteckt. Seine Strafe wurde 2010 verlängert und so wird er voraussichtlich bis 2016 im Gefängnis sitzen. Seine Geschichte wird nun in ihrer ganzen Dramatik in der Dokumentation Der Fall Chodorkowski vom deutschen Filmemacher Cyril Tuschi erzählt. Der Film zeigt das einzige Interview mit Chodorkowski seit dessen Verhaftung. Er lief letztes Jahr in den deutschen Kinos und erscheint am 25. Mai auf DVD.

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Ich habe mit Cyril über seinen Film gesprochen.

VICE: Hi Cyril. Wie schafft es Chodorkowski, aus der Haftanstalt zu publizieren?
Cyril Tuschi: Da gibt es mittlerweile sehr gute Möglichkeiten. Sein Hauptanwalt lebt in London. In den ersten zwei Jahren versuchte ich, ihm zu schreiben, ganz normale Briefe, aber die landeten dann irgendwo im Mülleimer. Ich habe nie eine Antwort bekommen. Dann fand ich heraus, dass seine Anwälte sein Sprachrohr waren. Mit ihnen steht Chodorkowski jeden Tag in Kontakt. Das einzige richtige Interview habe ich mit Chodorkowski geführt. Der Rest läuft über die Anwälte.

Hättest du den Film auch ohne das Interview machen können?
Ich glaube, ich hätte den Film sicher zu Ende bringen können, aber ich glaube, ich würde immer noch drehen. Deshalb bin ich sehr glücklich, das Interview zu haben!

Ich fand schon, dass es wahnsinnig war, ihn dazu zu bringen, dir zu schreiben.
Das dauerte zwei Jahre!

Genau. Deshalb ist das Interview auch irgendwie wie eine unerwartete Wendung im Film. War das die ganze Zeit so geplant?
Es war eine Frage der Dramaturgie und des Schnittes. Ich habe mich dazu entschieden, den Fokus auf den Konflikt zwischen Putin und Chodorkowski zu legen, und deshalb musste der Film so enden. Erst wollte ich das Interview am Anfang zeigen, doch dann entschied ich mich, es ans Ende zu setzen, sodass sich der Zuschauer fragt, ob er Chodorkowski noch sehen wird oder nicht. Glaubst du, der Hauptgrund dafür, dass Chodorkowski im Gefängnis sitzt, ist seine Unterstützung der politischen Opposition?
Nein. Das vermutet er, aber ich denke, es gibt verschiedene Gründe. Die Hauptgründe sind—traurig aber wahr—wohl Macht und Geld. Andere Leute wollten an sein Geld und er hatte keine Macht. Er  missachtete das unausgesprochene Gesetz Russlands: der Machtelite den nötigen Respekt zu zollen. Dort gelten noch immer archaische Strukturen und er hat diese wahrscheinlich nicht befolgt.

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Cyril Tuschi

Christian Michel erzählt in deinem Film davon, dass die Haftstrafe eine Form der Erlösung für Chodorkowski ist. Er wusste, dass er ins Gefängnis gehen müsse, und akzeptierte und brauchte das, weil er schlechte Dinge getan und eine Menge Geld gemacht hat.  
Das ist sehr interessant. Ich denke, dass da eine Menge Wahrheit drinsteckt. Seine Zeit im Gefängnis war nicht von ihm vorgesehen, aber er macht das Beste daraus und wird als jemand anderes mit einem anderen Status wieder rauskommen. Er wäscht seine Seele und säubert sein Image. Ein anderer berühmter Exil-Oligarch, Boris Beresowski, der ein großes Zerwürfnis mit Abramowitsch hat, erstellte einen  Facebook-Account, um den Menschen mitzuteilen, dass er schuldig und habgierig war. Erst wollte er sich übers Radio aussprechen und entschuldigen, aber der Sender hat sein Angebot abgelehnt und deshalb hat er Facebook gewählt, um zu sagen, dass nach Worten Taten folgen müssen. Du hast diesen interessanten Studenten gefunden, der Chodorkowski als den „Besten der Schlimmsten“ bezeichnet. Von all den schlimmen Oligarchen war er also der beste. Stimmst du dem zu?
In diesem Zusammenhang, ja … Das hängt auch mit der Frage zusammen, die mir häufig gestellt wurde: „Wieso bist du als Filmemacher an einer Person wie ihm interessiert?“ Diesen Typen hätte ich sicherlich niemals zum Kaffee getroffen. Er ist ein Kapitalist, er hat keine Ahnung von Kunst. Er war wirklich sehr weit weg von meiner Welt. Meine Eltern haben mich so erzogen, dass Geld zwar zum Leben nötig sei, aber ansonsten unwichtig. Und dass es falsch ist, schnelles Geld zu machen. Also geht es in deinem Film um Macht?
Anfangs dachte ich: Wow, das ist ja wie in einem griechischen Drama! Er kam aus einfachen Verhältnissen, stieg steil empor und fiel tief—diese Logik bekommt man sonst in einem griechischen Stück. Ich mag den heroischen Kampf zwischen zwei Titanen, Chodorkowski und Putin. Und dann gefällt mir das unlogische Verhalten Chodorkowskis. Er handelt heroisch und schießt sich dabei selbst ins Bein. Es ist nicht mehr sehr üblich, etwas Heldenhaftes zu tun, das ist aus der Mode gekommen und sehr selten. Vielleicht würde er da nicht zustimmen, aber für mich wirkt es, als hätte er sich selbst ins Bein geschossen. Einige Leute, die du interviewst, die mit Chodorkowski zusammengearbeitet haben, vor allem seine Anwälte, verzeihen ihm nicht, was er getan hat. Chodorkowski hätte seiner Verhaftung entkommen können, das wäre leichter für ihn und seine Kollegen gewesen.
Das hat zwei Seiten. Zum einen die generelle Entscheidung, Verantwortung zu übernehmen. Globow, der Anwalt, spricht in militärischen Begriffen. Für ihn war Chodorkowski ein General, der seine Truppe zurückgelassen hat. Globow ist frustriert, er kann nicht mehr nach Russland einreisen, kann seine Mutter nicht mehr sehen—das ist also seine persönliche Sicht der Dinge. Ich habe das Interview mit ihm in den Film genommen, weil er sehr emotional wird, das passiert nicht immer, wenn man Leute interviewt. Ich habe keinen investigativen Film gemacht, auch wenn ich eine Menge nachgeforscht habe. Ich habe nicht versucht zu erkunden, ob Chodorkowski in den 90er-Jahren schlimme Dinge getan hat, ob er wirklich schuldig war oder nicht. Andere Leute mögen das versuchen, auch wenn ich nicht genau weiß, ob das gut ist oder nicht. Aber warum hätte ich das machen sollen? Ich denke, er verließ seine Familie und auf Grund dessen, was er getan hat, wurden andere Menschen bestraft.

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Chodorkowski vor Gericht.

Stellt er für dich einen Helden dar?
Wenn man bedenkt, dass es eigentlich keine heldenhaften Gestalten mehr in der Welt gibt, hat er etwas Heroisches getan, aber er musste auch irgendwie versagen. Seine Familie so alleine zu lassen, war nicht heldenhaft, aber ich denke, da gab es andere Dinge, die das gerechtfertigt haben. Es hat mich ein bisschen an Die Hexenjagd von Arthur Miller erinnert, dass er dazu steht.
Ja, interessant. Ich denke, dass es bei einem Helden immer wie bei einem Kampf zwischen ihm und einer höheren Macht ist. Niemals ohne Opfer, das ist der Kern des Ganzen. Während des Drehs hast du dich mehrere Male verfolgt gefühlt. Wie sicher warst du, dass du verfolgt wirst und weißt du, wer dir gefolgt ist?
Zu Beginn war die Angst omnipräsent. Alles war erschreckend, das kam vor allem daher, dass ich die Regeln nicht kannte. Als wir gedreht haben, bemerkten wir irgendwann, dass wir überwacht werden, natürlich vom FSB [Russischer Geheimdienst]. Ich denke, wir wurden oft überwacht, ohne dass wir es gemerkt haben. Häufig war es aber auch offensichtlich, dass sie uns verfolgen. Das macht der Geheimdienst dann absichtlich. Die haben viel mehr Geld als in der 90ern, sie hören Telefone ab und lesen deine persönlichen E-Mails, das ist für sie kein Problem. Die russischen Oppositionellen werden alle überwacht. Bist du jemals an den Punkt gelangt, an dem du dir dachtest, dass du nicht mehr kannst?
Ja, aber nicht aus Angst. Daran gewöhnt man sich irgendwann und ich wurde ja nie zusammengeschlagen oder so was. Es lag eher daran, dass ich einfach keinen Erfolg hatte: So viele Leute, die ich interviewen wollte, willigten nicht ein. Ich war irgendwann so weit, dass ich dachte: „Ich bin einfach ein schlechter Filmemacher, das Geld wird knapper, wie lange werde ich das noch machen können?“

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Hing das vielleicht damit zusammen, dass du bisher nur Spielfilme gedreht hast und du jetzt etwas so Anderes gemacht hast?
Absolut! Aber das war auch total aufregend. Es fühlte sich an wie in einem James Bond Filme, die ich als Jugendlicher so geliebt habe. Ich habe den Akku aus meinem Handy genommen, weil das die einzige Möglichkeit ist, nicht abgehört zu werden und ich hatte einen USB-Stick, der meinem Rechner alle zwei Minuten eine andere IP gegeben hat, sodass sie meine E-Mails nicht zurückverfolgen konnten. Es war sehr aufregend und ich fühlte mich ein bisschen wie James Bond. Die Angst ist real und das Drama ist real. Manchmal neigte ich dazu, meine Fantasie mit der Realität zu vermischen und ich musste mich daran erinnern aufzupassen, weil ich es mit echten Leuten zu tun hatte. Man wird ein Teil der Situation.
Ja, definitiv. Ich denke, das ist es auch, was mit Julian Assange passiert ist. Die Grenzen sind nicht klar zu erkennen. Chodorkowskis Zellennachbar, der, wie es scheint, Dinge erfunden hat, um seine Freilassung voranzutreiben und Chodorkowski im Gefängnis zu lassen, sagte: „Das Leben ist billig, aber zu leben ist teuer.“ Stimmst du dem zu und hast du Mitleid mit dem Mann?
Ich habe acht weitere Gefängnisinsassen interviewt, mit Goldzähnen und Tattoos, und die sagten mir, dass er vielleicht ein Doppelagent des FSB ist. Ich glaube das zwar nicht, aber in Russland ist alles möglich.
Manche Leute sagen, dass Chodorkowski eine Menge Geld von Menschen bekommen hat, um zu überleben. Russland ist fiktiv. Alles in Russland ist eine Fiktion.

Chodorkowski und die Familie Bush. Beste Freunde.

Für Außenstehende wirkt Russland wie der Wilde Westen. Dieses riesige Land, in dem alles möglich ist.
Da ist es den USA ziemlich ähnlich. Wir sind riesig! Größenwahn …

Findest du Russland faszinierend, weil es scheint, alles könnte da geschehen?
Es gibt eine lange Tradition der Fantasie- und Märchengeschichten. Wenn jemand in Deutschland einen Fehler macht, wird eine Pressekonferenz abgehalten und derjenige leugnet es. In Russland passiert erstmal gar nichts. Dann werden zehn verschiedene Theorien präsentiert und die Öffentlichkeit weiß nicht, was wahr ist und was falsch und gibt irgendwann auf, das rauszubekommen. Man weiß, dass irgendeine der zehn Theorien richtig sein wird, aber der Betrachter hat eigentlich keine Ahnung, was da vor sich geht. Alles ist verschwiegen, und wenn doch der wahre Grund herauskommt, werden schnell noch neun weitere in die Diskussion geworfen. Chodorkowski sagt, er möchte keine Rache. Glaubst du ihm?
Gute Frage. Meiner Meinung nach ist er momentan nicht in der Position zu sagen, dass es ihm nach Rache gelüstet. Er ist im Gefängnis. So einfach ist das erstmal. Ich wette, seine Freunde haben einige Informationen über Putin, die sie nicht veröffentlichen, weil er immer noch als Geisel im Gefängnis sitzt. Wenn Chodorkowski aus dem Gefängnis kommt, muss er erstmal noch eine Menge Mitstreiter herausholen, bis dahin sind ihm quasi die Hände gebunden. Außerdem glaube ich, dass er sein Verhalten geändert hat, vorher hatte er einen sehr wetteifernden Charakter, jetzt ist sein Denken eher metaphysischer Art. Wenn Chodorkowski entlassen wird, bzw. falls er entlassen wird: Glaubst du, er wird sich als Oppositionskandidat aufstellen lassen?
Ich denke, er wird keine Wahl haben. Die Leute werden ihn aufstellen und sagen: Los! Wir haben gelacht, ich habe Cyril gedankt und wir haben die Akkus aus unseren Telefonen genommen.