FYI.

This story is over 5 years old.

Stuff

Unsere Fragen zu den Übergriffen in Köln

Haben die Täter im Kollektiv gehandelt? Warum ist niemand eingeschritten? Wie viel Mitschuld hat die Polizei? Und: Wie geht es den Opfern?
Foto: Veit Schagow | Flickr

Egal ob Medien, Politiker oder einfach nur Bürger—derzeit sind alle auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, was in Köln an Silvester wirklich passiert ist. Aber je länger die Suche dauert, umso klarer wird, dass es hier nicht die eine, alles erklärende Auflösung geben wird und die Lage vermutlich, wie so oft, komplizierter ist, als es sowohl linke als auch rechte Akteure wahrhaben wollen. Anstatt der einen einfachen Antwort nachzulaufen, haben wir deshalb Fragen zusammengetragen, die es zu klären gibt. Falls ihr ebenfalls welche für uns habt, postet sie gerne als Kommentar unter den Artikel.

Anzeige

Was ist mit den Opfern?

Es gibt einen guten Grund, warum in der Berichterstattung die betroffenen Frauen eher ausgeklammert werden. Auch wenn wir am liebsten über jedes menschliche Detail Bescheid wissen würden, gehört es zur Aufgabe der Medien, die Opfer so gut es geht zu schützen.

Das erklärt allerdings nur, warum die Medien nicht voll mit schmutzigen Paparazzi-Fotos der Frauen sind. Es erklärt aber nicht automatisch, warum der Fokus deshalb viel mehr auf der Herkunft der Täter und der Frage nach Integration und kulturellen Unterschieden liegt, als darauf, dass Frauen immer wieder sexueller Belästigung und Gewalt von Männern ausgeliefert sind.

„Rape Culture" (die in Wahrheit natürlich alles andere als eine Kultur ist) wird eben nicht mit den Refugees importiert, sondern ist in Mitteleuropa seit langem weit verbreitet. Sexuelle Gewalt gehört für Frauen—sowohl in Deutschland, als auch in Österreich und der Schweiz—zum Alltag. Auch, wenn die Privatsphäre der konkreten Opfer wichtig ist, sollte uns die allgemeine Situation von Opfern sexueller Gewalt zu denken geben.

Was wissen wir wirklich über die Täter?

Ein Polizeisprecher hat heute mitgeteilt, dass anhand von Bild- und Videoaufnahmen 16 Verdächtige ausgemacht werden konnten und schon in der Silvesternacht sollen laut diesem Bericht eines Beamten vor Ort 15 Personen festgenommen worden sein—14 davon aus Syrien, eine Person aus Afghanistan.

Genaueres weiß man über die Verdächtigen bisher nicht. Polizisten, die an jenem Abend im Einsatz gewesen sind, berichten nun jedoch gegenüber der Welt, dass die öffentlichen Angaben nicht der Wahrheit entsprechen und dass sehr wohl Personalien von Verdächtigen aufgenommen wurden und es sich bei den meisten um „frisch eingereiste Asylwerber" gehandelt habe. Laut zahlreichen Medienberichten und zitierten Zeugenaussagen soll es sich bei den Tätern um Männergruppen mit „nordafrikanischem Aussehen" gehandelt haben, die Frauen bedrängt und/oder bestohlen haben. Durch die Frage nach der Herkunft der Täter wird die aktuelle Debatte um die Geschehnisse in Köln in Hinblick auf die Flüchtlingssituation angeheizt. Die Herkunft der Täter wird so zu einem der meist beleuchteten Faktoren in der Diskussion um die Kölner Silvesternacht.

Anzeige

Bisher wissen wir nicht, wie die Gruppe zustande gekommen ist, ob sich die Anwesenden am Bahnhofsplatz untereinander kannten und wie sich aus der Ansammlung die Straftaten entwickelt haben. Dass es sich um ein organisiertes Kollektiv handelt, ist im Augenblick reine Spekulation. Auch die Frage, wie viele Männer an diesem Abend tatsächlich Frauen belästigt haben, ist aktuell nicht einfach zu beantworten. Die Anzeigen werden nahezu stündlich mehr.

Was genau waren die Fehler der Polizei?

Laut diesem Bericht des Kölner Stadt-Anzeiger waren am Silvesterabend 213 Polizisten am Kölner Bahnhof im Einsatz—70 davon Bundespolizisten. In einer ersten Presseaussendung am ersten Jänner sprach die Polizei von „friedlichen Silvesterfeierlichkeiten". Es seien wie für Silvester üblich einige Anzeigen wegen Körperverletzung oder Ruhestörung eingegangen und der Treppenaufgang zum Dom sei zur Verhinderung einer Massenpanik, ausgelöst von Feuerwerkskörpern, die in die Menge geschossen wurden, geräumt worden. Besonders treffend formuliert: „Die Polizei zeigte sich gut aufgestellt und präsent."

Von den zahlreichen sexuellen Übergriffen war in dieser Aussendung noch keine Rede. Gingen die ersten Anzeigen betroffener Frauen erst zu einem späteren Zeitpunkt ein? Hatte man die Aussendung bereits bis auf wenige Einzelheiten vorgefertigt oder war man sich unsicher, wie man die Geschehnisse schildern sollte?

Es ist wahrscheinlich, dass die Polizei schlicht und einfach überfordert war—sowohl vom Mob als auch von den Tumulten. Erst gegen ein 01:00 Uhr habe man die Lage einschätzen können. Ein beteiligter Beamter weiß im Nachhinein, was die Lösung des Problems gewesen wäre: „Lagebereinigung, also niederknüppeln statt festnehmen." Aber das habe man nicht tun können, da Polizisten, die vor dem Dom auf Afrikaner und Araber einprügeln, ein „verheerendes Bild" abgegeben hätten.

Anzeige

Ein im Spiegel erschienener interner Polizeibericht zeichnet da schon ein etwas anderes Bild: „Die Einsatzkräfte konnten nicht allen Ereignissen, Übergriffen, Straftaten usw. Herr werden, dafür waren es einfach zu viele zur gleichen Zeit." Am Versagen der Polizei seien hauptsächlich der Mangel an Personal und die falsche Ausrüstung schuld gewesen. Die Kölner Polizei hat sich in den vergangenen Tagen in zahlreiche Widersprüche verstrickt und sich selbst in Erklärungsnot gebracht. Was uns zum nächsten Punkt bringt.

Ist Köln auch ein Versagen der Medien?

Ebenso wie die Kölner Polizei sind auch zahlreiche Medien aufgrund ihrer Berichterstattung zu den Ereignissen in der Silversternacht in die Kritik geraten. Die Anzahl der Täter variiert stark: Die einen sprechen von 400, die anderen von 40 und wiederum andere sogar von 1.000. Bisher kann einfach niemand die Dynamik und den tatsächlichen Ablauf der Ereignisse und das Zustandekommen der Gruppierungen nachvollziehen.

Für viele Stimmen sind die Vorfälle von Köln ein Beweis dafür, dass die kulturellen Unterschiede zwischen Migranten und Flüchtlingen auf der einen Seite und Europäern auf der anderen Seite unüberwindbar sind. Als Begründung für die Übergriffe wird in zahlreichen Medienberichten das Frauenbild des Islam verwendet. Aber wie passt das zusammen? Ebenso wird in manchen Medienberichten behauptet, dass viele der Personen in den hauptsächlich aus Männern bestehenden Menschengruppen betrunken gewesen seien—was wiederum im Widerspruch zu der These steht, dass der fehlende Respekt der Täter gegenüber Frauen von ihrer strengen islamischen Prägung herrührt, wo doch gerade strenggläubige Muslime keinen Alkohol trinken.

Anzeige

Auch was das Handeln der Polizei angeht, sind sich die Medien uneinig. Beispielsweise schrieben Zeit Onlineund die Süddeutsche Zeitunginnerhalb von drei Stunden folgende Schlagzeilen: „Polizei gibt Fehler in Silvesternacht zu" und „Die Kölner Polizei will nicht versagt haben". Viele Widersprüche sind vielleicht nicht die direkte Schuld der Medien, sondern eine Folge der chaotischen Vorfälle selbst. Trotzdem sieht es aus, als wären die Medien in vielen Fällen ihrer Aufgabe nicht nachgekommen, die Ereignisse ausreichend zu überprüfen und zu ordnen. Daraus zu lernen und die genauen Fehler zu identifizieren ist für zukünftige Medienarbeit aber essentiell.

Wären die Taten auch dann so präsent in der Öffentlichkeit, wenn sie nicht von „nordafrikanisch oder arabisch aussehenden" Männern verübt worden wären?

Die Nachricht hier scheint nicht so sehr die Gewalt gegen Frauen zu sein, sondern die Bedrohung des Westens durch eine anonyme, gleichgeschaltete Masse an marodierenden, sexbesessenen Ausländern, die gegen unsere Werte handeln. Wie würde die Erzählung aussehen, wenn es sich um Übergriffe durch einheimische Täter handeln würde? Man kann hier nur vermuten, jedoch ist allein durch das öffentliche Interesse an der aktuellen Flüchtlingsthematik anzunehmen, dass die Medienpräsenz weit geringer wäre. Sexuelle Gewalt gegen Frauen und sexuelle Belästigung ist auch in unserer Kultur Alltag und in seinen zahlreichen Formen oftmals auch gesellschaftlich akzeptiert. Frauen wird im Club in den Schritt oder auf die Brust gegriffen, ohne dass ein Hahn danach kräht. Ernst genommen werden derartige Vorfälle nur selten, oftmals wird der Alkoholeinfluss des Täters als Vorwand vorgeschoben. Nach den Ereignissen in Köln bleibt also eine weitere Frage unbeantwortet: Gibt es im Westen eine höhere Akzeptanz für Gewalt an Frauen, wenn diese Gewalt von Einheimischen, und nicht von Ausländern und Einwanderern verübt wird?

Die derzeitige Stimmung legt dies nahe. Rechte instrumentalisieren Frauenrechte, um gegen Flüchtlinge und deren fehlendes Verständnis für „unsere Werte" zu lobbyieren. Und auch, wenn mittlerweile bestätigt ist, dass unter den Verdächtigen auch Flüchtlinge sind, rechtfertigt das noch lange keinen Pauschalverdacht gegen „die Flüchtlinge". Denn wenn man aus den Taten am Kölner Hauptbahnhof Rückschlüsse auf alle Flüchtlinge ziehen könnte, müsste es umgekehrt auch legitim sein, aus den Taten von rechten Asylheim-Anzündern auf alle Einwohner der jeweiligen Stadt zu schließen.

Anzeige

Helfen die Vorfälle in Köln Pegida und anderen rechten Gruppierungen?

Ob die Vorfälle in Köln solchen Gruppierungen definitiv helfen, lässt sich momentan schwer sagen. Als im Sommer 2015 die ersten großen Gruppen von Refugees von Ungarn über die Grenze nach Österreich kamen, hat dies auch nicht nur zu Abwehr, sondern auch zu starker Solidarität in Wien geführt.

Trotzdem versuchen rechte Gruppierungen naturgemäß immer, Ausländerthemen für ihre Agenda zu instrumentalisieren und Stimmung gegen Flüchtlinge zu machen. Für sie sind die Geschehnisse von Köln ein Beweis für deren fehlende Kompatibilität mit unserem gesellschaftlichen Wertesystem und ein Beleg dafür, dass Asylwerber eine Gefahr für europäische Frauen darstellen (ohne auf mangelnde Gleichstellung und vorhandenen Sexismus innerhalb unserer Gesellschaft einzugehen).

Diese Frage könnte in den kommenden Tagen entscheidend werden; die Antwort wird sich daran ablesen lassen, wer in nächster Zeit den Diskurs bestimmt.

Gibt es tatsächlich nicht mehr Handyvideos von den Vorfällen?

Bisher ist unklar, ob die Vorfälle wirklich kaum dokumentiert sind oder diese Unterlagen nur noch nicht an die Polizei übermittelt beziehungsweise von ihr an die Medien herausgegeben wurden. Sollte sich herausstellen, dass trotz des öffentlichen Ortes und der hohen Personendichte niemand etwas gefilmt hat, würde das weitere Fragen aufwerfen, wie zum Beispiel:

Ist Zivilcourage in solchen Situationen möglich?

Prinzipiell können wir ausschließen, dass bei Ansammlungen von mehr als 1000 Menschen keine Handykameras in der Nähe waren. Ähnlich unwahrscheinlich ist es, dass es keine unbeteiligten Augenzeugen der Handlungen gibt. Aber was kann man ganz praktisch als Beobachter solcher Übergriffe tun, wenn alle anderen Menschen rund um einen nichts machen? Ist es gegenüber großen Gruppen, die tatenlos danebenstehen, überhaupt möglich, als einziger die Bürgerwehr-Position einzunehmen und die Vorfälle zu dokumentieren? Diese Schwierigkeiten sollte man zumindest bedenken, bevor man erweitertes Victim-Blaming gegenüber möglichen Augenzeugen betreibt.

Hat die Kritik wirklich etwas mit Feminismus zu tun?

In den letzten Tagen haben sich viele Menschen als enthusiastische Frauenrechtler inszeniert. Dass Frauen sicher auf die Straße gehen können und keine Angst haben müssen, Opfer von sexuellen Übergriffen zu werden, liegt plötzlich auch jenen am Herzen, die ihre Zeit bisher mit „Lügenpresse!!!1!"-Kommentaren und Stimmungsmache gegen Flüchtlinge verbracht haben.

Da liegt der Verdacht nahe, dass die Motivation hinter dem Aufzeigen der Gewaltakte in Köln nicht die ist, Gewalt gegen Frauen zu verhindern, sondern Zuwanderer verantwortlich zu machen. Für die neu entflammten Feministen ist Feminismus wohl etwas An- und Abschaltbares, je nachdem, woher die Menschen stammen, die Frauen vergewaltigen oder belästigen.

Wie kommen die Verhaltenstipps für Frauen zustande?

Die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker rät Frauen, immer „eine Armlänge" Abstand zu nicht vertrauenswürdigen Männern zu halten, um sich selbst zu schützen. Nach diesem Rat, der wohl weltfremder nicht sein könnte, drängen sich einige Fragen auf: Sind solche Worte aus dem Mund einer Frau, die Opfer eines Messerangriffes wurde, nicht besonders überraschend? Wo war hier die besagte Armlänge? Denkt sie wirklich, eine Armlänge Abstand schützt Frauen vor sexuellen Übergriffen? Wenn ja, ist Henriette Rekers Arm überdurchschnittlich lang? Menschen, die solche „Tipps" ernst meinen, waren wohl noch nie in ihrem Leben mit sexueller Gewalt konfrontiert.


Titelbild: Veit Schagow | Flickr | CC BY 2.0