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Flüchtlinge in Deutschland

Gaddafis ehemalige Feinde und Freunde sitzen jetzt an der Alster

Da heulen wir alle rum, dass wir den armen Leuten in Syrien, Libyen und im Iran doch helfen müssen, am besten einmarschieren und alle befreien. Aber Krieg bedeutet Flüchtlinge, und die kommen dann zu ihren Rettern nach Hause. Aber in Hamburg will die...

Wo sind jetzt eigentlich die ganzen Flüchtlinge, die im Frühling 2011 vor Gaddafi aus Libyen geflohen sind? Ich habe einige in Hamburg getroffen.

Jetzt sitze ich hier im Garten der St.-Pauli-Kirche in Hamburg am Infotisch und unterhalte mich mit Sam. Unsere Stühle sind Pappkartons, in die jemand Muster geschnitten hat, damit sie mehr nach Möbeln aussehen. Neben uns steht „The Embassy of Hope“, ein Zelt, das als Rückzugsort für die Flüchtlinge dient. Es gibt Kaffee, Kuchen, Obst, Wasser. Hinter mir liegt die Kirche, in der etwa 80 der 300 Flüchtlinge seit Anfang Juni schlafen dürfen. Im Sekundentakt schüttle ich Hände. „Hey, how are you?“ Die Flüchtlinge sind offen und zuvorkommend—vielleicht zu mir besonders. Ich bin eine Frau im heiratswilligen Alter.

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Die Kirche von innen. Hier werden abends die Stühle weggeräumt und die Schlafplatz hergerichtet. 

Besonders schwarzafrikanische Flüchtlinge, die als Gastarbeiter in Libyen gelebt haben, wohnen jetzt hier. Sie traf es besonders schwer, weil sie beschuldigt worden waren, Gaddafis Söldner zu sein. Erst flohen sie auf kleinen Booten, besetzt mit teilweise 500 Personen, übers Meer. Ihr Ziel: Lampedusa, eine italienische Insel. Viele kamen gar nicht erst an, Boote sanken und Tausende ertranken—darunter auch Kinder.

Ich lerne Sam kennen, der mich zu seinen alten Schlafplätzen führen will. Wir gehen durch die Häuser Richtung Reeperbahn, vorbei an eingetrockneter Kotze und Wasserflecken, die nach Pisse riechen—der Kiez ist so charmant wie immer. Sam hat heute seine Abschlusszeugnisse bei der Anerkennungsstelle für ausländische Abschlüsse abgegeben. Vielleicht darf er dann studieren.

In Nigeria war er medizinischer Laborassistent. Er ging nach Libyen, weil dort die Technik weiter fortgeschritten war. Doch durfte er nur auf einem privaten Bau arbeiten, bekam kein Geld und hungerte. Als Sam das erste Mal auf einem der Boote landete, ging die Überfahrt schief. Es war überladen und brach kurz nach dem Auslaufen in zwei Hälften. „Meine Freunde sind ertrunken. Viele Menschen sind ertrunken. Ich weiß nicht, wie ich das überlebt habe.“

In Italien lebten sie in Flüchtlingslagern, bekamen humanitäre Versorgung und eine Arbeitserlaubnis. Doch es gab hier nur das Camp, keine Jobs. Und die Flüchtlingshilfe war nur temporär von Mitte April bis März 2013, genau wie bezahlte Lebensmittel und ärztliche Versorgung. Anfang des Jahres stoppte die EU die Hilfezahlungen. Die Camps wurden geschlossen und die Menschen saßen auf der Straße. Weil Italien wohl nichts Besseres eingefallen ist, gaben sie den etwa 5700 Betroffenen Touristenvisa für den Schengen-Raum—fast alle EU-Staaten—und 500 Euro in die Hand: „Und jetzt verpisst euch bitte.“

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In seiner Hand hält Sam seine Dokumente: „Sie haben uns diese Papiere gegeben. Sie haben gesagt, damit könnt ihr arbeiten“, er schlägt mit dem Rücken seiner anderen Hand auf den Ausweis: „Aber das ist nichts, damit kann ich gar nichts machen.“ Sie waren schon überall: Dänemark, Schweiz, Belgien, sie wurden immer zurückgeschickt. „Und hier bin ich illegal. Wie kann ich illegal sein?“, fragt der 32-jährige Nigerianer.

„Wenn die EU eine Bombe wirft, dann sind sie alle da“, sagt der Ghanaer Frank über den gemeinsamen Kriegseinsatz der EU in Libyen. „Uns helfen, will dann aber dann keiner.“ Seit zwei Jahren gibt es für sie nichts außer schlafen, essen, warten, hoffen. „Wann fängt mein Leben endlich an?“ fragt Sam: „Ich hab es satt.“

Sie haben eine Gruppe gegründet, „Lampedusa in Hamburg“, gemeinsam kämpfen sie gegen die Abschiebung und klagen die NATO an, die im Libyen-Krieg mitwirkte. In der Kirche steht ein Computer und sie können das Internet benutzen. Im Grunde sind alle gut ausgebildet, können lesen und schreiben und haben vorher irgendeinen Beruf ausgeübt.

Anfangs waren sie noch in den Winternotprogrammen der Stadt, doch Mitte April wurden auch diese beendet und die Afrikaner saßen erneut auf der Straße—im Schnee, unter Brücken, auf Parkbänken, auf Teppichresten, sie putzten sich die Zähne mit Wasser aus der Alster. Ich würde in diesem Fluss nicht einmal schwimmen gehen

An der St.-Pauli-Kirche sehe ich nur Männer. Die Frauen und Kinder sind bei hilfsbereiten Hamburgern in Wohnungen untergekommen. Immer wieder kommen Besucher, bringen Essen und Kleidung. Manche bleiben und unterhalten sich ein wenig oder sind einfach nur schaulustig. Es gibt auch eine Einladung von ein paar Helfern, die das als Kunstprojekt vermarkten, zu einem Grillfest am nächsten Tag, das direkt vor der Kirche im Park Fiction stattfindet—ein Platz mit Grünflächen, künstlichen Palmen und einem Basketballfeld. Das ganze Viertel kommt und der DJ vom „Golden Pudel Club“ legt auf. Die Jungs laden mich auch ein und ich sage zu.

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Die Afrikaner haben Glück, dass sie im liberalen St. Pauli gelandet sind. Hier hat jeder etwas mitgebracht, sei es nun ein Kartoffelsalat, Couscous, Fladenbrot, Kuchen oder Soßen. Der Tisch ist reichlich gedeckt und der Grill hat ordentlich zu tun. Ich trinke ein paar Bier mit Frank und schüttle wieder eine Unmenge an Händen.

Die Feier ist eine nette Willkommensgeste, doch sind leider nicht wir diejenigen, die über ihre Zukunft entscheiden. Die Stadt Hamburg, besser gesagt der Senat, will sie wieder zurückschicken, am liebsten schon gestern.

Der Senat versteckt sich hinter dem Dublin-II-Abkommen, laut dem das EU-Land für Flüchtlinge verantwortlich ist, in dem sie zuerst gelandet sind. Die einzige Lösung kann deswegen nur die Ausreise sein. Bürgermeister Olaf Scholz sieht keine Zukunft für die Afrikaner in Hamburg, sie müssen zurück nach Italien oder ihre Ursprungsländer.

Samba etwa ist in Libyen geboren. Ich sitze auf einem Pappkarton, wir unterhalten uns und rauchen. „Ich kann nicht zurück gehen“, sagt Samba: „Wir sind Gaddafi-Familie.“ Auf meine Frage, wie er das genau meint, gibt es keine Antwort—ähnlich sehen sie sich nicht. Hat er ihn unterstützt? Aber anstatt mir zu antworten, fangen Isaac und Samba eine Diskussion über Religion an.

Isaac ist Christ und Samba Moslem. Ich verstehe nicht alles, weil beide einen sehr starken Akzent haben und ihr Englisch nicht perfekt ist. Von Isaac höre ich immer wieder das Wort „Love“. Er wirkt leicht prophetisch, als er so richtig in Schwung kommt und von Nächstenliebe spricht. Samba dafür leicht genervt. Er schreibt mir einen Link zu einer Homepage auf, die ich unbedingt anschauen soll, dann werden meine Gedanken klarer, sagt er. Auf dem Zettel steht „illuminati“—der religiös-politische Geheimbund. Meint er das ernst? Kurz unterhalten wir uns darüber, dass die Illuminaten sehr alt sind. Als ich ihn fragen will, ob er an die Existenz der Illuminaten glaubt, wird unser Gespräch von der Natur unterbrochen.

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Ein Regensturm bricht aus und für zehn Minuten herrscht das Chaos. Die „Embassy of Hope“ wird fast weggeweht, Möbel und Klamotten fliegen durch die Gegend, Regen prasst herein.

Samba  erzählt mir bei einer Zigarette, dass seine Eltern tot sind. Als ihm nach Ausbruch des Bürgerkrieges in Libyen eine Waffe in die Hand gedrückt wurde, beschloss er zu gehen. Der 27-Jährige wollte nicht auf Menschen schießen. Auf der Flucht hat er seinen kleinen Bruder verloren: „Ich weiß nicht mal, ob er noch lebt.“

Vor dem Krieg war Samba Baggerfahrer. Dort hat er auch einen Hamburger kennengelernt, der ihm von der schönen Hansestadt vorgeschwärmt hat. Er schläft meist nur am Tag und überbrückt die Nacht mit Kaffee in einer warmen Kneipe. Nachts ist es zu gefährlich und zu kalt draußen. Die Adresse seines Freundes von damals kennt er leider nicht.

Jede Behördenstelle, die ich gesprochen habe, erzählte mir das Gleiche: „Die Lampedusa-Flüchtlinge haben in Hamburg keine echte Lebensperspektive.“

Aber es gibt noch die Grünen und die Linken im Senat. Sie fordern einen sechsmonatigen Aufschub der Abschiebung. In ihrer Petition, dem Hamburger-Moratorium, verlangen sie von der regierenden SPD, humanitäre Hilfe zu leisten und in den sechs Monaten bundesweit nach einer Lösung zu suchen und jeden einzelnen Fall zu prüfen.

Während ich auf den Pastor der St.-Pauli-Kirche, Sieghard Wilm, warte, quatsche ich mit Collins, der 32 ist und eine Tüte von Bagel Brothers in der Hand hält. Das Restaurant hat heute Morgen einige Tüten vorbeigebracht—als Spende.

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Mit 15 Jahren war er in Ghana auf einem Konzert von Nana Acheampong, einem Sänger, der auch in Hamburg lebt. In einem seiner Songs schwärmte der Sänger von Hamburg, wie schön es dort ist. Daran hat er sich erinnert, als ihn die Italiener losschickten. Neulich hat Acheampong sogar ein Konzert in Hamburg gegeben, leider hatte Collins kein Geld, um es sich anzusehen.

Mit 20 Jahren erfuhr er per Telefon, dass er nur adoptiert war. Seine Adoptiveltern haben irgendwann aufgehört, sich um ihn zu kümmern und verlangten, dass er sich nun selber helfen sollte. „Ich hab da niemanden mehr“, sagt Collins.

Als ich später mit dem Pastor rede, will er aber nicht politisch werden. Ob er die Forderungen der Afrikaner, für immer hier bleiben zu können, für realistisch hält oder nicht, spiele keine Rolle. Für ihn ist es seine Pflicht, humanitäre Hilfe zu leisten, Essen zu geben, einen Schlafplatz zu bieten. Das fordert schon alleine die Flüchtlingskonvention und die UN-Charta. Wenn der Senat schon den Rechtsstaat betont, dann muss er auch die Menschenrechte beachten. Da stimme ich ihm zu. „Es reicht nicht, wenn wir Flüchtlingslager an der libyschen Grenze aufbauen. Auch hier muss geholfen werden.“ Deshalb unterstützt er auch das Hamburger Moratorium. Nur eine Sache ist tabu: „Alkohol und Drogen sind auf dem Gelände untersagt.“

Ich verabschiede mich von dem Pastor und gehe zurück zu Frank, der eine wirklich sehr dick ausgestopfte Zigarette raucht. Er begleitet mich noch zur S-Bahn. Mein Blick fällt auf die halbkreisförmige Narbe auf seiner Wange. Die Rebellen stürmten in sein Haus, erzählt er, wollten sein Geld und sein Leben. Er zeigt mir auch seinen Oberarm, auf dem ich eine tiefe, lange Narbe sehen kann. Er weiß nicht mehr alles, nur dass er im Krankenhaus wieder aufgewacht ist. Zwei Wochen später saß auch er auf einem der Boote. Sein Boot ist auch gesunken, dann sagt er etwas, das mich überrascht: „Ich möchte nicht so sehr daran denken. Meine Frau und meine beiden Kinder sind dabei ertrunken.“ Er hat bisher noch nie über sie gesprochen. Warum auch? Hey, ich bin Frank. Ich habe eine tote Frau und zwei tote Kinder. Und wie geht es dir so?

Wir sind an der Bahn und verabschieden uns. Ich gehe runter zum Gleis. Es ist schwer, sich vorzustellen, wie sich die 300 Flüchtlinge fühlen müssen. Von Gewalt und Hunger aus dem Land getrieben, Existenzen, die man aufgeben muss, Angehörige, die man zurücklässt, die sterben oder die verloren gehen. Und dann lebt man zwei Jahre später immer noch provisorisch, immer noch ohne Perspektive und keiner will einem wirklich helfen.