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Geht doch: Münchner helfen spontan 3.000 Flüchtlingen

Während andere wegen ein paar Geflüchteten vor lauter Sorge Unterkünfte anzünden, wurden gestern in München fast 3.000 Neuankömmlinge mit offenen Armen und endlosen Spenden empfangen.
Text und Fotos: Quentin Lichtblau

Schon um kurz vor 5 am Abend sind die Lager voll. „Wir können zur Zeit leider so gut wie kein Essen mehr annehmen", ruft die Helferin den Münchnern zu, allesamt bepackt mit Ikea-Taschen und Einkaufswagen voller Lebensmittel. „Hygieneartikel sind aber weiterhin dringend nötig. Windeln zum Beispiel." Beratung unter zwei Schülerinnen, offensichtlich geknickt, dass ihre Essensspende aufgrund der überwältigenden Hilfsbereitschaft wohl nicht mehr vonnöten ist: „Was machen wir jetzt?", fragt die eine. „Macht ja auch nichts. Dann müssen wir eben nochmal einkaufen gehen", meint ihre Freundin. Und sie ziehen los, Windeln kaufen.

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Noch am Dienstagmorgen hatten die Meldungen zur Situation am Hauptbahnhof ein anstehendes Chaos vermuten lassen. Über Züge, vor allem aus Budapest, waren Tausende Geflüchtete am Hauptbahnhof gestrandet. Nach der denkbar harten Flucht aus Syrien, Irak oder Afghanistan und endlosen Scherereien mit den Polizeikräften in Ungarn standen den Menschen nun Stunden in der Mittagshitze am Vorplatz des Hauptbahnhofs bevor. Warten auf die Registrierung und einen Bus zur nächsten Aufnahmestelle, ohne Essen oder Schutz vor der Sonne.

Währenddessen verstand der bayerische Innenminister nicht so recht, was an der Verwendung des N-Wortes denn nun so falsch gewesen sein könnte und in Ingolstadt eröffnete das erste Balkan-Only-Aufnahmezentrum, um Abschiebeverfahren im Turbomodus zu ermöglichen. Es war nicht alles schön an diesem 1. September in Bayern, doch in München schien die Sonne.

Nachdem nämlich am Vormittag Privatpersonen, Lokalmedien und die Münchner Polizei (letztere tatsächlich auf Twitter!) den Ruf nach Spenden verbreitet hatten, entstand am Hauptbahnhof binnen weniger Stunden ein spontanes Hilfsnetzwerk für die frisch eingetroffenen Flüchtlinge. Dem potentiellen Chaos stelle man sich dabei mit der Macht der Improvisation entgegen, was zu ungewöhnlichen, aber mehr als wohltuenden Szenen am Nordeingang des Bahnhofs führte. Da sah man Punks, die gemeinsam mit Polizisten Wasserkanister entgegennahmen, alte Damen, die frischen Guglhupf über die Absperrungen reichten, und einen Jungen, der sich leicht wehmütig von seinem alten Spielzeug verabschiedete, um danach grinsend zu verkünden: „Ich glaub', ich habe gerade was echt Gutes gemacht." Hat er, sehr sicher sogar.

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Zwar waren natürlich auch viele engagierte Vertreter von Flüchtlingshilfen vor Ort, viele der Helfer waren aber völlig spontan den Aufrufen gefolgt. „Eigentlich wollte ich heute übers Karwendelgebirge nach Tirol wandern", erzählt Martin, Urbayer Mitte 40, der am frühen Abend in der Vorhalle des Hauptbahnhof-Nordflügels gespendetes Essen zu Willkommenspaketen verschnürte. Am Bahnhof hatte er sich es dann anders überlegt und seine Hilfe angeboten. „Ich habe dann einfach losgelegt. Wer und ob das hier jemand koordiniert, weiß ich auch nicht", meint er. Christian (19), ein weiterer Helfer, fällt ihm ins Wort: „Ich habe von so einem Typen mit gelber Mütze gehört, der das mit dem Essen regelt. Hab ihn aber noch nicht zu Gesicht bekommen. Die Punks bei der Annahme vorne machen aber einen super Job. Totale Selbstorganisation."

Die Helferin neben ihm ist gerade dabei, einer Frau mit Gehstock und zwei großen Tüten zu erklären, dass keine weiteren Lebensmittelspenden notwendig sind. Sie deutet auf einen großgewachsenen Typen hinter ihr, der ein Schild mit der Aufschrift „Gebraucht werden Schuhe!" in die Luft streckt. Als die Seniorin sich nicht abwimmeln lässt („Sind nur ein paar Gummibärchen für die Kinder."), versucht die Helferin es anders: „In den Gummibärchen ist Gelatine drin, Schweinefleisch, verstehen Sie? Das ist nichts für muslimische Kinder." Die alte Frau zieht triumphierend eine Packung aus der Tüte: Vegetarische Gummibärchen. Spende akzeptiert.

Am späteren Abend trifft eine weitere Gruppe Syrer ein, die Augen auf Halbmast, die Schritte wie in Betonklötzen. Die Willkommenstüten werden größtenteils mehr als dankbar entgegengenommen. Man hört eine Vielzahl von entkräfteten „Thank you so much"-Ausrufen, manche verbeugen sich sogar vor den Helfern. Andere wiederum blicken beim Entgegennehmen der Tüten stumm auf den Boden. „Das macht mich natürlich ein bisschen traurig. Man hat das Gefühl, sie schämen sich für das Annehmen unserer Hilfe", sagt Maximilian (17), der nach der Arbeit zum Hauptbahnhof gekommen ist und seit vier Stunden Spenden verteilt. „Wahrscheinlich wollen sie aber auch endlich mal schlafen." Er selbst will heute noch bis 1 Uhr bleiben und möglichst bald wiederkommen. Schließlich sollen in den nächsten Stunden, Tagen und Wochen noch weitere Züge eintreffen. Hoffentlich mit einem ähnlichen Empfangskomitee, wie an diesem schönen 1. September.

Folgt Quentin auf Twitter: @LichtblauQ