Glamour, Travestie und Dekadenz in Okinawa

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Glamour, Travestie und Dekadenz in Okinawa

Wenn ihr die Menschen im Japan der 2010er für seltsam haltet, dann habt ihr Recht.

Äußerlich unterscheiden sich die Jugendlichen von Okinawa nicht sonderlich von denen im restlichen Japan. Sie eifern den großen japanischen Metropolen nach. Sie bewundern sie ein wenig, doch unbewusst spüren sie auch Hass und eine Art Groll. Sie lieben Alkohol und Dating. Über das Internet gründen sie viele Communitys und Gruppen—junge Leute ziehen aus verschiedenen Dingen Inspiration und heutzutage ist es leicht, Andere zu finden, die diese Interessen teilen.

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Alle wollen nach Tokyo oder in die anderen Großstädte ziehen, doch nach ein paar Jahren kommen sie wieder zurück—trotz der Tatsache, dass die Menschen in Okinawa keine Entscheidungsmacht haben. Alles wird in Tokyo bestimmt. Wenn zum Beispiel die Einwohner von Okinawa gegen einen US-Militärstützpunkt sind, dann wird unsere Meinung nicht in den Entscheidungsprozess mit einbezogen. Wenn ich sehe, wie die Roma in Europa behandelt werden, dann erinnert mich das wirklich daran, wie es Okinawa seit zwei Generationen ergeht. Nach dem Krieg mussten sie ihre Häuser mit Trümmern wieder aufbauen. Alles war zerstört und es gab extrem viele Tote. Japan hatte sich dazu entschieden, Okinawa zu opfern, um im Rest des Landes die Schäden gering zu halten. Noch heute ist der Boden voller Bomben.

Die Geschichte der Insel ist sehr komplex. Vor 150 Jahren gehörte sie zum Königreich Ryūkyū. Dann wurde sie von Japan erobert. Nach dem Zweiten Weltkrieg okkupierten die USA Okinawa bis 1972. Danach wurde die Insel wieder japanisch.

VIDEO: Die japanische Regierung gibt jährlich über eine halbe Million Euro aus, um die Knochen von gefallenen Weltkriegssoldaten zu finden. Wir sind auf die philippinische Insel Malico gereist und haben den Knochenjägern bei der Arbeit zugesehen.

Heute gibt es in der Stadt Okinawa die höchste Selbstmord- sowie Arbeitslosenrate des Landes. Es gibt keine Möglichkeit zum sozialen Aufstieg, die Wirtschaft regt sich nicht, alles ist erstarrt und niemand denkt an die Zukunft. Wer das nicht erträgt, wird Künstler. Es gibt sehr gute Künstler in Okinawa.

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Ich fotografiere Menschen, die ich zufällig auf meinen Spaziergängen treffe. Meine Arbeit in Okinawa besteht aus zwei Serien: Schnappschüsse und Porträts. Die Schnappschüsse sind Momentaufnahmen von Leuten, denen ich begegne. Für Porträts gehe ich oft eine Beziehung mit meinen Modellen ein. Ich sehe bestimmte Leute und besuche sie. Doch die meiste Zeit fotografiere ich sie einfach in dem Kontext, in dem ich sie vorfinde. Ich sage ihnen, sie sollen sich nicht bewegen und bleiben, wo sie sind.

Mein Ziel ist es nicht, soziologische Arbeit zu leisten oder die Lebensbedingungen der Menschen in Okinawa zu dokumentieren. Meine Fotos entstehen auf instinktive Art. Daher beschäftigen mich auch mehr ästhetische als gesellschaftliche Fragen. Ich denke über Formen und Farben nach… Aber wenn du etwas auf ehrliche Art und Weise fotografierst, wenn deine Herangehensweise aufrichtig ist, dann sieht man natürlich den soziologischen oder politischen Charakter deines Motivs.

In meiner Arbeit dreht sich vieles um Sex. Das ist ein unausweichliches Thema, wenn man sich für das Leben der Menschen interessiert. Ihre Intimsphäre interessiert mich mehr als ich Aussehen oder ihr Verhalten in der Öffentlichkeit.

In Japan ist Sex kein Tabuthema. Es wird ziemlich offen behandelt. Allerdings leiden wir unter dem amerikanischen Einfluss und hier und da hält auch bei uns Puritanismus Einzug. Früher gab es hier Praktiken, die heute unvorstellbar wären—zum Beispiel Yobai. Homosexualität war auch früher viel präsenter und akzeptierter—gleichgeschlechtliche Ehe ist hier zwar verboten, doch es gibt immer noch viele Pro-LGBT-Bewegungen.

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Ich musste mich oft der Zensur unterwerfen. Hierzulande ist es verboten, die Genitalien einer Frau oder Penetration zu zeigen. Die Darstellung von Sex in Japan ist ein bisschen wie Marihuana in Europa: Es ist verboten aber alle tun es. Es ist sehr heuchlerisch.