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Hitler ist in Südasien ein Superstar

Bei indischen Geschäftsmännern ist ‚Mein Kampf' schon lange ein Bestseller und in Nepal bezeichnet man ihn als Genie. Was ist da schiefgelaufen?

‚Mein Kampf' in einem Buchladen in Kathmandu, Nepal | Alle Fotos vom Autor

In fast jedem Buchladen und bei fast jedem Buchverkauf am Straßenrand in Kathmandu oder Neu-Delhi gibt es Exemplare von Hitlers Manifest Mein Kampf. Die Bücher stehen neben Werken von Menschen, die weithin als große Denker und Denkerinnen gelten: Albert Einstein, Gandhi, Aung San Su Kyi, Abraham Lincoln, Nelson Mandela, Steve Jobs und manchmal auch J. K. Rowling.

Mein Kampf wurde seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr neu aufgelegt und wird ab diesem Jahr nur wieder in deutschen Buchläden stehen, weil nun nach 70 Jahren die Urheberrechtsansprüche verjährt sind. Und auch diese Neuauflage wird nicht publiziert, ohne dem Buch 3.500 Fußnoten nachzustellen, „um ein seriöses Gegenangebot zur ungefilterten Verbreitung von Hitlers Propaganda, seinen Lügen, Halbwahrheiten und Hasstiraden zu machen", wie es auf der Website des Instituts für Zeitgeschichte heißt, das die Edition am 8. Januar 2016 herausbringt.

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In Asien wird Mein Kampf jedoch wie ein alter Klassiker behandelt. Unter indischen Geschäftsmännern ist das Buch schon lange eine beliebte Lektüre und wird neben Büchern wie Rich Dad Poor Dad: Was die Reichen ihren Kindern über Geld beibringen, Die Mäuse-Strategie für Manager und diversen Ratgebern aus der Feder Donald Trumps verkauft. Es ist nicht das einzige Buch mit schändlichem Inhalt, das in der Region erhältlich ist: Werke von Stalin und bekannten Mafiosi stehen ebenfalls in der Nähe der Business-Bücher, doch Mein Kampf ist schon lange unter den größten Verkaufsschlagern. Das Manifest ist schon lange ein Bestseller auf der indischen Amazon-Seite. Ein indischer Verlag, Jaico, hat alleine zwischen 2000 und 2010 mehr als 100.000 Exemplare verkauft.

Woran liegt das? Etwa daran, dass Menschen in dieser Weltregion einfach neugierig auf einen Mann sind, der anderswo so verachtet wird? Vielleicht. Doch es gibt auch ein ziemlich großes Maß an Bewunderung für den völkermordenden Diktator, dessen Ruf sich in Südasien deutlich von dem im Westen unterscheidet.

„Ich persönlich bewundere ihn sehr", sagt Keshav Bhattarai, Studierender an der Tribhuvan-Universität in Kathmandu, wo er sich auf Konflikt-, Friedens- und Entwicklungspolitik spezialisiert. „Er hatte eine große Anziehungskraft. Zwar war er grausam, doch wenn wir uns die Geschichte ansehen, dann stellen wir fest, dass er einer der größten Anführer war."

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Eine formlose Umfrage auf den Straßen von Kathmandu liefert ein ähnliches Ergebnis: Menschen aller Altersgruppen und Bildungsniveaus bezeichneten Hitler als „Genie", eine „rätselhafte Persönlichkeit" und als „großen Anführer". Ein Mann im Viertel Basantapur sagte mir sogar: „Wir [in Nepal] brauchen einen Anführer wie Hitler."

Da ist er, der Hitler, direkt neben Nicholas Sparks

Einer der Gründe, warum Hitlers Ruf in dieser Ecke der Welt vielleicht nicht ganz so deutlich angekommen ist, ist ganz einfach die geografische und emotionale Distanz, die zwischen Südasien und den Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs liegen. Das waren Schrecken, die sich in weit entfernten Ländern abgespielt haben. Die meisten Leute in Südasien hatten keine wirkliche Verbindung zum Holocaust und den anderen Verbrechen, sodass sie dort kulturell weniger Auswirkungen hatten.

Die Region hatte damals ihre eigenen Probleme. Der Zweite Weltkrieg fiel mit der Teilung von Indien und Pakistan zusammen, bei der Schätzungen zufolge zwischen 500.000 und einer Million Menschen ums Leben gekommen sein sollen. Außerdem gibt es in diesem Teil der Welt Länder, die seit Jahrzehnten im Entwicklungssumpf feststecken. Wenn Nepal nicht gerade von bewaffneten Aufständen überzogen ist, haben korrupte Politiker das Land fest in der Hand. Die Menschen in Nepal scheinen sich nach einem Anführer zu sehnen, der sie aus dieser Entwicklungsstarre holen kann—koste es, was es wolle.

In anderen Worten, es gibt dort eine Haltung, die sagt, man solle den Hitler nicht mit dem Badewasser ausschütten. War er böse? Natürlich, aber er hat Deutschland in nur einem Jahrzehnt zu einer der mächtigsten Nationen der Welt gemacht. Und es ist leichter, sich auf Hitlers Führungsqualitäten zu konzentrieren, wenn selbst die Lehrpläne der Schulen seine Rolle im Zweiten Weltkrieg nicht erklären.

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„In der Schule lernen wir über Hitler, aber sie bringen uns nichts über den Holocaust bei", sagte Pramod Jaiswal, ein nepalesischer Studierender an der Jawaharlal-Nehru-Universität in Neu-Delhi. „Die Lehrer erzählen nur, dass er ein Anführer war, der Gutes für die deutsche Entwicklung getan hat. Ich hatte eine Freundin aus Belgien, und als ich hier gesagt habe, Hitler sei gut für Deutschland gewesen, fing sie an zu weinen. Ich war wirklich schockiert."

Die Art von Hitler, die in Südasien existiert, ist fast schon eine Karikatur: der strenge, finster dreinblickende Mann mit dem komischen Schnauzer.

„In Indien benutzen wir das Wort [Hitler] für Leute, die streng sind", sagte Jaiswal. „Es ist kein schlimmes Wort. Unser Direktor ist ein Hitler, mein Vater ist ein Hitler, [Premierminister Narendra] Modi ist ein Hitler."

Hitler-Filme, ein Hitler-Restaurant, ein Hitler-Fashionstore und selbst Hitler-Eistüten sind aus diesem folkloristischen Bild des Diktators, das in Indien vorherrscht, entsprungen. Dabei fällt anscheinend keinerlei Hinweis darauf, dass Hitler einen systematischen Genozid gegen Juden und andere Menschen geführt hat. Filme wie Hero Hitler in Love präsentieren eine freundliche, lustige Version des „Führers". Das hier ist nicht dasselbe wie seine Glorifizierung durch Neonazis im Westen—stattdessen wird ihm ein komplettes Rebranding verpasst.

Wir mögen Hitler, weil er ein Hindu war", sagte ein Buchladeninhaber in Neu-Delhi. „Er war Vegetarier und nutzte die Swastika als Glückssymbol. Er war einer von uns."

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Hitler hat sich natürlich nicht selbst als Hindu identifiziert (tatsächlich sah er sogar die britische Kontrolle über Indien als ein perfektes Beispiel dafür, wie eine angeblich überlegene „Rasse" eine angeblich minderwertige unterjochen solle, und nannte indische Freiheitskämpfer „irgendwelche asiatische Gaukler"). Trotzdem stimmt es natürlich, dass die Swastika ihre Wurzeln auf dem indischen Subkontinent hat. Westliche Asienreisende sind oft überrascht, wenn sie das Symbol an Tempeln, Taxis, Hotels und in Geschäftskalendern sehen, wo es für Glück und die kosmische Ordnung steht.

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Hitlers Beliebtheit mag bei einigen nur das Ergebnis schlechter Bildung sein, doch andere glauben, es werde aus einer politischen Motivation heraus absichtlich versucht, ihm ein neues Image zu geben.

„Während des Aufstiegs der Nazis im Zweiten Weltkrieg befand sich Indien noch unter der Herrschaft des britischen Empires", erklärte Shiv Visvanathan, Politikwissenschaftler und Professor an der Jindal Global University im indischen Sonepat. „Für viele Freiheitskämpfer vor 70 oder 80 Jahren war der Faschismus ein Gegenmittel zum britischen Imperialismus. In den nationalistischen Bewegungen gab es Leute wie Subash Bose, die in den faschistischen Bewegungen Chancen sahen." (Subash Chandra Bose war ein indischer Nationalist, der während des Zweiten Weltkriegs Allianzen mit Nazis einging, um die indische Freiheitsbewegung zu stärken.)

Visvanathan ist außerdem der Meinung, der Ultranationalismus der Nazis halle nach in den aktuellen Formen des Ultranationalismus, die in Indien unter der Bharatiya Janata Party (BJP) des Premierministers Narendra Modi erstarken.

„In vielerlei Hinsicht gab es schon immer diesen Traum, Indien in eine Supermacht zu verwandeln", sagte Visvanathan über den Zusammenhang zwischen der Beliebtheit von Mein Kampf und der Zunahme des indischen Nationalismus. Premierminister Modis Regierung wurde schon vorgeworfen, sie würde eine nationale Identität schaffen, die nur für Hindus sei, und sie würde die Geschichte umschreiben, um Muslime und andere Religionsgemeinschaften an den Rand der Gesellschaft zu drängen. (Die offizielle Ideologie der Partei nennt sich „Hindutva" und richtet sich gegen das säkulare Staatsmodell.)

Mein Kampf ist für diese Bewegungen recht nützlich", erklärte Visvanathan. „Heute gibt es anstelle des Juden eben den Muslim."

Natürlich unterscheiden sich die Meinungen zu Hitler in Südasien von Person zu Person, und nicht alle sind so große Fans. Doch die Beliebtheit der „Marke" Hitler in der Region—ob nun politisch oder anderweitig—lässt vermuten, dass der Mann mit dem komischen Schnauzer so schnell nicht von der Bildfläche verschwinden wird.