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Sex

​Ich bin 23 und hatte noch nie einen Orgasmus

„Deshalb fake ich ihn, und ich denke ich mache meinen Job ganz gut, denn bisher hat sich jeder für einen tollen Hecht gehalten."
Frau liegt auf Grasfläche

Ich liege da mit gespreizten Beinen, vor mir küssen sich gerade zwei Frauen, eine wird langsam von hinten penetriert; mein Zimmer ist verhangen mit schwerem Ikea-Vanilleduft. Ich habe beschlossen, es mir selbst zu machen. Dem Ganzen noch eine Chance zu geben. Aber irgendwie fühle ich mich vollkommen deplatziert, so wie die zerknüllten Taschentuchreste in deiner Jeanstasche. Die, die du herauszupfen musst, weil du es vor dem Waschen vergessen hast. Nach sechszehn Minuten und achtundreißig Sekunden gebe ich auf, und mache mir stattdessen einen Tee. Während ich den Zucker in die Tasse rühre, stelle ich mich euch vor: Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt, und hatte noch nie einen Orgasmus. Außerdem bin ich von Masturbation schnell gelangweilt; das gibt mir einfach nichts, alleine in meinem Bett. Lange Zeit habe ich mich deshalb unnormal gefühlt, aber auch das ist vorbei. Ich schaue Pornos gerne wegen der Ästhetik. Nicht, weil es mich scharf macht. Viele Videos fallen da natürlich weg, aber glücklicherweise orientiert sich die Industrie langsam um. Allgemein finde ich Frauen schöner als Männer—Titten haben schon was. Muschis irgendwie auch. Schwänze irritieren mich manchmal. Das ist eben auch ein bisschen Roulette: Man weiß nie, was da aus der Hose springt.

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Ich trinke einen süßen kleinen Schluck von meinem Tee, und stach mir mit dem Löffel ins Auge. Das passiert mir manchmal. Aus dem Wohnzimmer höre ich Stöhnen, mein Mitbewohner Bert sieht sich gerade Shortbus an, den Film von 2006, in dem es (unter anderem) um Sofia geht, die noch nie einen Orgasmus hatte. Wobei wir beim eigentlichen Thema wären: Der Unmöglichkeit des Kommens. Das Phantom Orgasmus. Ich lasse euch an meiner Geschichte teilhaben, ich bin eine Suchende wie Sofia; nur, dass ich meinen Orgasmus noch nicht gefunden habe. Für mich ist ein Orgasmus ein Mysterium, das Higgs-Boson, dessen Existenz noch immer nicht hundertprozentig erwiesen ist. Aber was man nicht kennt, kann man nicht vermissen, und viele Männer verstehen das nicht. Allgemein erschließt sich ihnen die Komplexität dieser Thematik nicht. Deshalb fake ich meinen Orgasmus, und ich denke, ich mache meinen Job ganz gut, denn bisher hat sich jeder für einen geilen Stecher gehalten. Ich muss gestehen, dass manche ganz gut waren, so wie fettige Pommes, aber das betrifft die Gesamtheit des sexuellen Akts. Das Küssen, das Grapschen, das Herzklopfen, die schmutzigen Worte. Die feine Rauheit und das Wollen und das Knie eingeklemmt zwischen zwei Autositzen. Ich liebe es, Sex zu haben—nicht aber zu kommen. Wie auch?

Ich stöhne und zittere, weil es den Männern Befriedigung verschafft. Die Situation auflockert und ich so nicht das Gefühl habe, es dieses Mal schaffen zu müssen. Ich habe mal einen Typen gedatet, dem ich von meinem Problem erzählt habe; zwei Gläser Wein haben mein Hirn beschwipst und die Kommunikation zwischen meinen Synapsen langsamer werden lassen. Er war schön, älter als ich und brachte schweres Gepäck mit sich, was mich allerdings nicht störte. Außerdem, es war ein interessantes Experiment: Ich wollte erleben, was passiert, und wie er sich verhält. Er schien überfordert zu sein, fühlte sich vielleicht ein bisschen unwohl in seiner Haut. Er schlug Küssen vor, machte seltsame Bewegungen mit seinem Kopf, rubbelte hilflos an meiner Erbse. Ich lag da und starrte an die pfirsichfarbene Decke. Wir waren nicht einmal kusskompatibel. Das war das Schlimmste an diesem Abend, neben den Pistazien, die mir Bauchschmerzen bereiteten. Manche Menschen sind physisch einfach nicht für einander gemacht, und das merkt man sofort am Küssen—da kann man noch so viel üben, aus ganz OK wird niemals perfekt. Irgendwann wurde es mir zu viel, er tat mir ein bisschen leid, dieser arme Kerl, und ich erlöste ihn. Als ich mich zu ihm drehte, lag ein gefälliger Ausdruck auf seinem Gesicht. Ich mochte es nicht. Ich realisierte, dass ich mich in einem Dilemma befand. Nein, verzeiht, hier ist das Präsens angebracht: Ich befinde mich noch immer in einem Dilemma.

Ich finde es gut, dass sich jener besagte Typ, mit dem ich mich an das Experiment gewagt habe, mit der Materie Orgasmus aufrichtig auseinandersetzen wollte. Das ist wie mit der Kochkunst, anstatt Zitronensaft aus der Flasche, hat er es zur Abwechslung mit Zitronenabrieb im Risotto versucht. Er hat sich an Individualität getraut und sich hinten angestellt, eben weil er wusste, dass es mit mir nicht so einfach geht. Das ist keine Selbstverständlichkeit, diese Selbstlosigkeit. Vielleicht habe ich sein Weltbild etwas ins Wanken gebracht; das von Frauen, die multiple Orgasmen bei der Missionarsstellung oder Doggy-Style erleben, ohne jegliches Zutun. Es hätte Spaß machen können, aber am Ende hat er sich doch zu sehr verkopft. Ein bisschen wie ein hechelnder Hund, der einem Leckerli hinterherjagt. Irgendwann konnte er nur noch das Leckerli sehen. Er hätte sich weniger auf das Ziel und mehr auf die Strecke konzentrieren sollen, rein gedanklich. Nicht so eine große Sache daraus machen. Darauf plädiere ich. Dann kann ich vielleicht auch endlich mal loslassen, ohne zu fürchten, dass das Nichtkommen wie eine schwere Wolke über uns hängt. Ich habe nämlich oft das Gefühl, dass Männer denken, sie hätten es im Bett nicht gebracht, wenn die Frau keinen Orgasmus hat. Einer hat mir das mal gesagt, durch die Blume. Deshalb spiele ich meine Orgasmen vor, damit ihr eben mit diesem beschissenen Gefühl nicht leben müsst.

Aber ich bewerfe euch gern mit meinem Zucker, liebe Männer: Das stimmt so nicht. Sex ist auch ohne Orgasmus wunderbar, der ist sozusagen nur die knallrote Kirsche on top, gerade für Frauen wie mich, von denen es mehr gibt, als ihr denkt. Intimität mit dem richtigen Menschen ist schrecklich aufregend und erfüllend für mich, dieses Knistern in der Luft und die kurze Atemlosigkeit vor dem Küssen ist wie das Kaktuseis aus meiner Kindheit, das wir nach der Schule immer beim Supermarkt um die Ecke gekauft haben. Es macht mich glücklich, glücklich zu machen, vor allem wenn ich merke, dass sich mein Gegenüber auch mit mir beschäftigt – ganz ohne Erwartungshaltung oder Selbstverständlichkeiten. Das Kommen ist dann zweitrangig; es wäre wirklich schön, wenn es denn einmal klappt, aber davor müssen wir uns alle ein bisschen entkrampfen.

Foto: Weronika Izdebska