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Flüchtlinge in Deutschland

Ich bin auf der Flucht Richtung Deutschland

Ilias sitzt in Athen fest und versucht, von da aus nach Deutschland zu fliehen, um hier Asyl zu beantragen—wie viele andere Flüchtlinge, die aus Asien und Afrika dort gelandet sind, auch. Er erzählt von zwielichtigen Passfälschern, Menschenschleusern...

Illustration von Nicola Napoli

Während du eigentlich immer dachtest, nach deinem Jura-Studium in die Schifffahrt zu gehen, um dort eine erfolgreiche Karriere zu beginnen—so wie deine Freunde und Familienmitglieder auch—, kam es plötzlich ganz anders. Der Krieg bricht aus, du sollst zum Militär, deine politische Meinung und rebellierende Freunde werden dir zum Verhängnis und ehe du dich versiehst, befindest du dich auf der Flucht. Ohne Geld, deine Familie, gültigen Reisepass oder Respekt—all die Dinge, die du dein Leben lang gewohnt warst.

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Und genau das ist dem 27-jährigen Ilias* passiert, der jetzt mit fünf anderen wildfremden Syrern in einer Wohnung in Athen sitzt. Die Bedingungen in Griechenland für Flüchtlinge sind hart und erbärmlich. An einen Asylantrag in Griechenland ist gar nicht zu denken. Ilias will—wie all die anderen Flüchtlinge, die hier aus Afrika oder Asien ankommen—weiter nach Deutschland, Belgien oder Schweden. Während unseres Skype-Gesprächs durchstöbert er unseriöse Facebook-Seiten nach gefälschten Reisepässen, die ihm die Weiterreise ermöglichen sollen.

„Ich hoffe einzig und allein, dass ich Griechenland verlassen kann“, erzählt er. Er wurde schon mehrmals erwischt und in Handschellen abgeführt. „Vor den Augen aller verhaftet zu werden, war erniedrigend. Zu sehen, dass Eltern ihre Kinder näher an sich heranrückten, als ich von Polizisten abgeführt wurde, war eine sehr unangenehme Erfahrung.“

Aber selbst wenn er es schafft, nach Deutschland zu kommen, wird sein Empfang hier alles andere als herzlich, und die [Zustände in manchen Asylheimen ist eine Katastrophe](http:// http://www.vice.com/de/read/endstation-mit-todesfolge-im-asylbewerberheim). „Dabei frage ich mich: Was habe ich verbrochen? Dass ich vor einem Krieg davonlaufe?“ Er ist erst über Land und dann in einem kleinen überfüllten Boot über das Meer geflohen. Bei zahlreichen Zusammenstößen mit der Polizei und Behörden hat er Spott und Verachtung erlebt. Dazu ist er in ständiger Furcht um seine Familie, die er zurücklassen musste.

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„Die Typen vom Militär könnten jederzeit vor der Tür [zu Hause in Syrien] stehen, um mich zum Militärdienst abzuholen.“ Wenn das passiert, werden sie herausfinden, dass er geflohen ist. Und was dann passiert, ist etwas, das Ilias sich gar nicht erst vorstellen will. „Sie sind wie Wilde … Das ist mein größter Albtraum.“

VICE: Warum hast du Syrien verlassen?
Es gab eine Reihe von Gründen, aber ausschlaggebend war, dass ich den Militärdienst umgehen wollte. Ich bin kein Kämpfer; ich würde keine Waffe in die Hand nehmen, um für Bashars Überleben zu kämpfen. Einem Diktator, der durchgedreht ist und dann anfing, sein eigenes Volk umzubringen, während der Rest der Welt stillschweigend zusieht. Ich habe Syrien auch deshalb verlassen, weil es dort keine Arbeit gab. Ich muss jetzt genug Geld verdienen, um den Rest meiner Familie aus Syrien rauszuholen.

Was hast du vor deiner Abreise gemacht?
Ich hab das letzte Jahr Jura fertig studiert und eine Lehre in einem Schifffahrtsunternehmen in Latakia gemacht.

Hast du noch Familienangehörige in Syrien? Habt ihr noch Kontakt?
Ja, meine ganze Familie ist noch dort. Wir sprechen uns mindestens einmal pro Woche.

Wie würdest du ihre Situation beschreiben?
Na ja, im Juni dokumentierte die UN mehr als 100.000 Tote. Dazu zählte man nicht die Vermissten oder diejenigen, die verhaftet oder entführt wurden. Es sind Zustände wie im Dschungel. Es gibt keine Arbeit, alles ist absurd teuer und tagsüber haben wir kaum Strom.

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Syrien—Bild von Martin Armstrong

Hast du Verwandte oder enge Freunde, die Syrien ebenfalls verlassen haben? Mein Onkel, ein berühmter Fußballspieler im Ruhestand, wurde angeklagt, Teil der Opposition zu sein. Er ist in die Türkei geflüchtet, weil er Angst hatte, vom Regime aus dem Weg geräumt zu werden. Einige Tage später kam ein Muchabarat-Offizier [arabische Bezeichnung für den Nachrichtendienst] zu ihm nach Hause und nahm seine zwei Söhne mit; wir haben seitdem nichts mehr von ihnen gehört.

Mein bester Freund wurde bei einem friedlichen Protest vor zwei Jahren verhaftet, ich weiß nicht, ob er noch am Leben ist. Millionen Syrer sind aus ihren Häusern vertrieben worden, aber in Syrien geblieben. Viele sind aufgrund von Assad- und Oppositions-Checkpoints nicht in der Lage, die jordanische oder libanesische Grenze zu erreichen; dass die Türkei ihre Grenzen geschlossen hat, macht die Sache noch schwieriger. Ich schätze mich sehr glücklich, dass ich es rausgeschafft habe.

Wo bist du momentan?
In Athen.

Wie bist du dort hingekommen?
Mit einer älteren Dame bin ich über Land von Syrien in die Türkei geflüchtet und dann mit dem Bus zu einem Schleuser nach Didim gefahren. Er transportiert syrische Flüchtlinge in Gummibooten, in die eigentlich 14 Leute passen, doch wir waren 44 Menschen in einem Boot, vier davon waren Babys.

Das Ganze kostet 4500 bis 5000 Dollar pro Person. Der Himmel war bewölkt, als wir nachts aufbrachen, es gab kein Mondlicht, aber Gott sei Dank war das Meer ruhig. Ich musste an all die Flüchtlinge denken, die unterwegs ertranken und an den Strand gespült wurden.

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Wir sollten zur griechischen Insel Samos gebracht werden, einer Touristeninsel. Nach drei Stunden erreichten wir einen Strand, dort wurden wir im Boot von einem grellen Licht angeleuchtet. Die ältere Dame in meiner Begleitung sprang vor Panik ins Wasser. Sie konnte nicht schwimmen, so dass ich hinterher sprang und sie an den Strand zog.

Als wir aus dem Wasser kamen, versteckten wir uns hinter Büschen und sahen zu, wie die Polizei alle anderen verhaftete. Ich wollte nicht verhaftet werden, deshalb warteten wir, bis sie verschwunden waren, und machten uns bei Sonnenaufgang auf den Weg. Bald bemerkte ich, dass wir nicht auf Samos waren, denn die Insel war menschenleer. Um elf Uhr erreichten wir einen Polizei-Checkpoint, ich war erschöpft und die ältere Dame auch. Die Polizisten fragten uns, woher wir gekommen seien, und wir antworteten: aus Syrien. Sie hießen uns willkommen, versicherten uns, dass man uns nichts antun werde und steckten uns ins Gefängnis.

Als wir in die Gefängniszelle kamen, trafen wir sofort die anderen Leute aus dem Boot wieder. Sie lachten bei unserem Anblick und sagten: „Da ist der Typ, der weggerannt ist und dachte, er könne Athen zu Fuß erreichen.“

Syrien—Bild von

Was ist dann passiert?
Für zwei Nächte teilten wir uns alle eine winzige Zelle, das Essen war furchtbar und die Behandlung schlecht. Dann verlegten sie uns für zwei weitere Nächte in eine andere Zelle in Laros, wo wir ähnlich behandelt wurden. Nachdem wir unsere Fingerabdrücke abgegeben hatten, interviewte uns eine Dame von der UN, und da ich der einzige von uns war, der Englisch sprach, musste ich für alle übersetzen. Schließlich ließ man uns frei und wir gingen nach Athen, um einen weiteren Schieber zu treffen, der uns gefälschte Pässe zur Ausreise aus Griechenland gab.

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Wohin willst du als nächstes gehen?
Entweder nach Belgien, Deutschland oder Holland. Dort behandelt man syrische Flüchtlinge gut, im Gegensatz zu Griechenland.

Wie planst du, da hinzukommen?
Na ja, ich habe viermal versucht, mit gefälschten Pässen in ein Flugzeug zu kommen, aber ich wurde erwischt. Die ältere Dame hat es allerdings beim ersten Mal geschafft und ist nun mit ihrem Sohn in Belgien. Ich habe versucht, Griechenland über Mykonos, Kalamata, Silon und Zakynthos zu verlassen. Das nächste Mal versuche ich es über Athen, vielleicht ist es auf einem belebten Flughafen einfacher.

Syrien—Bild von

Was erhoffst du dir für deine nahe und ferne Zukunft?
In naher Zukunft hoffe ich einzig und allein, dass ich Griechenland verlassen und nach Deutschland, Schweden oder Belgien kommen kann. Viele Syrer sind nach Griechenland geflüchtet; viele von ihnen stellten Asylanträge, aber nur wenige davon wurden genehmigt. Langfristig hoffe ich, dass das Regime stürzt und dieser Albtraum ein Ende nimmt, damit ich zurück zu meiner Familie kann.

Denkst du, dass du jemals nach Syrien zurückkehren wirst?
Ich würde gerne sagen, dass ich es tun werde, aber das wird noch eine ganze Weile dauern, glaube ich. Als Syrer sind wir dazu verpflichtet zurückzukehren und unser Land neu aufzubauen. Der Albtraum wird eines Tages vorüber sein und wir müssen in jeder nur erdenklichen Weise dazu beitragen, konfessionelle Spaltungen im Land zu beenden. Syrien war immer eine Einheit. Man wird versuchen, es wie den Irak aufzuteilen, aber das dürfen wir nicht zulassen.

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Syrien—Bild von

Wie fühlst du dich heute?
Ich fühle mich hilflos und erschöpft. Außerdem fühle ich mich schuldig. Wenn meiner Familie zu Hause irgendwas passiert, werde ich mir das nie verzeihen können.

Was war deine beste Erfahrung, seitdem du Syrien verlassen hast?
Die beste Erfahrung war, meine Familie anzurufen und ihr zu sagen, dass ich in Sicherheit bin. Es hat vier Tage gedauert, bis ich den Anruf machen konnte, und sie dachten schon, ich sei auf dem Weg ertrunken.

Und was war das Schlimmste?
Die schlimmste Erfahrung war, bei einem meiner gescheiterten Versuche, Griechenland mit einem gefälschten Pass zu verlassen, Handschellen angelegt zu bekommen. In Kalamata vor den Augen aller verhaftet zu werden, war erniedrigend. Zu sehen, dass Eltern ihre Kinder näher an sich heranrückten, als ich an der Sicherheitskontrolle von Polizisten abgeführt wurde, war eine sehr unangenehme Erfahrung. Sie dachten wahrscheinlich, ich wäre ein flüchtiger Krimineller oder ein Drogendealer. Ich fragte mich: Was habe ich verbrochen? Dass ich vor einem Krieg davonlaufe? Der Polizist, der mich verhaftete, war vielleicht 25 Jahre alt. Er führte mich von einem Büro des Flughafens ins nächste und zeigte seinen Freunden meinen gefälschten Ausweis. Sie lachten mir ins Gesicht. Ich war drauf und dran zu explodieren. Dann gingen wir vor Gericht und der Richter sprach mich ohne Anklage frei. Dennoch steckte er mich für zwei Tage ins Gefängnis, damit ich, wie er es ausdrückte, „meine Lektion lernen würde“.

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Syrien—Bild von

Wer von den Menschen um dich herum hilft dir momentan am meisten?
Ich habe mich mit fünf Syrern angefreundet, mit denen ich zur Zeit zusammenwohne. Wir teilen uns eine Ein-Zimmer-Wohnung, die der Schieber für uns besorgt hat, bis wir es schaffen, Griechenland zu verlassen.

Wie sähe momentan dein Best-Case-Szenario aus?
Bashar wird von seinem Bodyguard ermordet, der Krieg geht zu Ende, ich komme zurück nach Hause—Ende der Geschichte. Aber das wird nicht passieren, deshalb wäre mein Best-Case-Szenario realistischerweise, dass ich es nach Deutschland schaffe, mich für ein politisches Asyl bewerbe und es innerhalb weniger Monate bekomme. Wenn ich das Asyl einmal habe, würde ich um die 700 Euro von der Regierung bekommen und die Sprache lernen. Dann würde ich anfangen zu arbeiten und solange sparen, bis ich meine Familie herholen kann.

Was wäre das Worst-Case-Szenario?
Während des Krieges kann alles Mögliche passieren. Ich versuche, nicht daran zu denken, was meiner Familie zustoßen könnte. Die Typen vom Militär könnten jederzeit vor der Tür stehen, um mich zum Militärdienst abzuholen. Meine Eltern würden ihnen erzählen müssen, ich sei gestorben oder vermisst. Wenn sie ihnen nicht glauben, werden sie meine Brüder mitnehmen, oder meinen Vater, wahrscheinlich sogar meine Mutter … Sie sind wie Wilde … Das ist mein größter Albtraum.

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