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Ich bin Deutscher und stehe zum Selbstbestimmungstrip der Schweiz

Frankenkurs, Masseneinwanderungsinitiative—auch wenn man manchmal übertreibt, find ich als Deutscher in der Schweiz das Unabhängigkeitsstreben hier toll.

Nicht lange ist es her, dass die Schweizerische Nationalbank (SNB) ihrer „Koppel-Beziehung" zum Euro entsagte. Manche Stimmen beschreiben diese selbstbestimmte Entscheidung mit Argwohn—ich hingegen finde die SNB toll. Was ist mit der „Bünzli-Schweiz" passiert, seit jenem historischen Donnerstag?

Das Bergvolk ist im Shoppingfieber. Leider im Ausland—zum Frust vieler Schweizer Detailhändler—, obgleich sich die meisten Inländer schon lange vor ihrem „Black Thursday" über überzogene Preise beschwerten und gerne mit vollgekauften Taschen aus Berlin zurückkehrten. Dass dies primär durch unterschiedliche Lohnniveaus und die damit verbundenen Preisstrukturen erklärt wird, sollte jetzt bitte niemandem entfallen. Dass speziell Deutschland, mit einem der grössten Niedriglohnsektoren in Europa, hier nochmals eine Sonderrolle im Shopping-Tourismus einnimmt, ebenfalls nicht.

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Foto von Schweizerische Nationalbank; Wikimedia Commons; Public Domain

Besorgte Politiker und Institutionen warnen uns derweil vor einer Rezession. Leider habe ich spätestens nach 2007 aufgehört, solche Warnungen zu zählen, kann aber mit Fug und Recht behaupten, dass es mir gut geht und ich trotz allem niemals mit Essensmarken in Berührung kam. Daneben singen bekannte Grossunternehmen monoton das alte Klagelied von explodierenden Kosten und drohenden Kürzungen.

Dass ausgerechnet ein Bankhaus wie Julius Bär als Kronzeuge für die Folgen der Frankenstärke herangezogen wird, ist absurd. Julius Bär fiel in der Vergangenheit dadurch auf, dass sie vermögenden Ausländern die Steuerflucht erleichterte und sich seitdem regelmässig mit „Whistleblowern" konfrontiert sieht, die ihre Daten wahlweise deutschen Steuerbehörden oder Wikileaks anbieten.

Eine Bank, die im Zuge zahlreicher Ankäufe und Übernahmen schon 2012—trotz „Rekordzahlen"—einen massiven Personalabbau und Umstrukturierungen bekannt gab, die bis heute andauern. So betrifft es nun die bereits damals angekündigten Stellen und die SNB darf als Sündenbock für eine langfristige Konsolidierung herhalten. Aber unverhofft kommt eben oft.

Was von einem Unternehmen wie der Migros zu halten ist, welches vollmundig und öffentlichkeitswirksam über einen Einstellungsstopp „nachdenkt", um damit Lobbyarbeit zu betreiben und Druck auf politische Entscheidungsträger auszuüben und 53 Jahre nach dem Tod von einem gewissen Herrn G. Duttweiler immer noch das Prinzip der „Volksgesundheit" vor sich herträgt, über Tochtergesellschaften aber längst Alkohol- und Tabakwaren vertreibt, sei mal dahingestellt. (Aber ich bin ohnehin ein „Coop-Kind".)

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Foto von MPD01605; Wikimedia Commons; CC BY-SA 2.0

Und um Gottes Willen, ja, das Erasmus-Programm wurde nach dem „Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative" tatsächlich ausgesetzt—die Schweiz gar formal von einem Mitglieds- zu einem Partnerland degradiert. Zu einem „Drittland"! Wer vorhatte, sein ausländisches Sauf-Semester so zu finanzieren und an seiner Heimuniversität anschreiben zu lassen, der sah tatsächlich für einen kurzen Moment die kosmopolitische Forschungslokomotive vor seinen Augen davonfahren.

Doch kaum hatte der selbstzufriedene Student seine Neon beiseitegelegt, schon war auch hier eine Übergangslösung gefunden. Nun finanziert die Schweiz das Programm mit knapp fünfzig Millionen Franken vorerst eben selbst—sowohl für Inländer, die es ins Ausland zieht als auch umgekehrt. Der Andrang soll Berichten zufolge noch stärker gewesen sein als im Jahr zuvor. Der internationale Anschluss wurde auch hier nicht verpasst. Und die Summe entspricht ungefähr 0,07 Prozent dessen, womit der ehemals kriselnden UBS ausgeholfen wurde.

Foto von Matthias Zepper; Wikimedia Commons; CC BY-SA 3.0

Berufliche Grenzgänger hingegen, die lange Zeit „the best of both worlds" genossen, sehen sich nun hart mit der Realität konfrontiert. Da sie aber in vergleichender Position immer noch ungleich mehr verdienen als im benachbarten Umland, dürfte dieser Fall kein allzu harter sein. Und Grenzgänger sowie Tagestouristen, die meinen, mit ihren Euros in Restaurants und Après-Ski-Bars wedeln zu müssen, sind mit einem Wechselkurs von 1:1 ohnehin bestens vertraut.

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Der Vollständigkeit halber möchte ich erwähnen, dass ich der europäischen Filmförderung, aus der die Schweiz nach Annahme der Masseneinwanderungsinitiative rausflog, ohnehin keine Träne hinterherweine. Weder brauche ich weitere elitär-intellektuelle Nischenfilme, die mir das Leben und die Freiheit erklären wollen, noch habe ich Interesse, mit der „Quartz-Gala" weiterhin einen Schweizer Pseudo-Oscar zu unterstützen. Also was ist seit jenem geschichtsträchtigen Donnerstag passiert?

Foto/Titelbild von Cristo Vlahos; Wikimedia Commons; CC BY-SA 3.0

„Die" Wirtschaft hat wieder einmal bewiesen, dass sie in der Lage ist, die Diva zu spielen, und hat uns—auch allen Nachwuchsschauspielern—vor Augen geführt, wie Weinen auf Knopfdruck funktioniert. Die Presse greift wohlwollend auf, was sie findet und der kleine Mann läuft verängstigt durch die Strassen und wünscht sich zum Ende des ersten Akts in den Schoss der guten Mutter Europa.

Von den Gipfeln der Schweizer Alpen aus betrachtet, ist dies ein weiterer Prozess der Skandalisierung in einer langen Kette von Skandalisierungen, die sich schlussendlich alle in Luft auflösen. Ein wenig mehr Gelassenheit im Innern und Besonnenheit nach Aussen würde hier vielen guttun.

Wer nämlich jetzt schon wieder das Bild einer drohenden Wirtschaftskrise in sein Skizzenbuch malt, der sollte unbedingt auch folgende Risiken ernstnehmen: Onanieren macht blind, der IS steht unmittelbar vor der Tür und Chemtrails werden uns alle töten.

Foto von Diana Pfammatter

Ob die Schweizer an ihrer neuen Sehnsucht nach „Mama Europa" festhalten, bleibt abzuwarten. Ich hoffe jedoch, die Schweiz bleibt ihrem Selbstbestimmungstrip—der auch mal übers Ziel hinausschießen darf—treu. Denn kleine Ausrutscher sind zu verzeihen und können nochmals diskutiert werden. Aber zu den eigenen Entscheidungen sollte man stehen und sich darüber klar sein, dass es ein Privileg ist, diese treffen zu können. Soll sie also ruhig kommen, die „Fasnacht der Souveränität". Ich muss ja nicht hingehen.

Vice Switzerland auf Twitter: @ViceSwitzerland