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GAMES

Ich bin durchschnittlich attraktiv, habe Freunde und bin Gamerin! Was jetzt, Gesellschaft?

Picklige Nerds ohne Sozialkontakte—Aktionen wie #sosehengameraus beweisen, dass sich Videospiele-Fans immer noch für ihr Hobby rechtfertigen müssen.

Es scheint ein grundlegendes Missverständnis zwischen dem Teil der Gesellschaft zu geben, der ein zumindest oberflächliches Interesse an Videospielen hegt, und dem, der das nicht tut. Das zeigt sich zum einen in Artikeln wie denen der FAZ, in dem Shooter als eine Art Rekrutierungsgrundlager für IS-Terroristen bezeichnet werden. Oder wenn RTL der größten Videospielemesse der Welt in Köln, der Gamescom, einen Besuch abstattet und die dort Anwesenden als stinkende, ungepflegte Nerds mit zweifelhaftem Sozialleben brandmarkt. Das zeigt sich vor allem aber auch in den ganz kleinen Dingen. Zum Beispiel dann, wenn Gaming-Begeisterte sich dazu genötigt sehen, auf Twitter unter dem Hashtag #sosehengameraus zu beweisen, dass sie keine degenerierten Sozialphobiker sind.

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2013 hat die deutsche Gamesbranche 1,82 Milliarden Euro umgesetzt (zum Vergleich: Das sind 800.000 Euro mehr als die Kinobranche im selben Jahr), laut dem Bundesverband Interaktive Unterhaltungssoftware gab es 2014 ein Marktwachstum von 6 Prozent. Das wären ziemlich viele sozial isolierte Kellerkinder.

Ich habe einen Vollzeitjob, mehr als genug Freunde und Bekannte, in meinem Leben schon des Öfteren Genitalien gesehen und verwende sehr viel Zeit darauf, meine Haare zu pflegen. Ich habe nichts gemein mit dem Bild des vereinsamten, jungfräulichen Pickelnerds, der sich aus Angst vor der Welt da draußen in fiktive Universen flüchten muss. Tatsächlich glaube ich, dass der verschwindend geringe Teil der Gamer, auf die das wirklich zutrifft, ebenso unter Tarantino-Fans, SPD-Wählern oder Houellebecq-Lesern anzufinden ist.

Es gibt also keinen Grund, mit hochgezogenen Augenbrauen oder süffisantem Grinsen konfrontiert zu werden, wenn man auch nur in einem Nebensatz verlautbaren lässt, dass man gerne mal einen Controller in die Hand nimmt. Klar, „Ich schieße gerne auf Sachen" ist vielleicht kein idealer Smalltalk-Einstieg, aber warum nicht ehrlich sein? Ich liebe Shooter, ich liebe Detektivspiele (ohne Puzzle-Rätsel) oder Adventures, ich liebe Rollenspiele, auch wenn ich es schon oft genug geschafft habe, mich innerhalb weniger Minuten komplett zu verskillen. Videospiele können einem zum Weinen bringen, zerstörerische Wutanfälle auslösen, einen komplett frustrieren und in der nächsten Sekunde durch eine perfekt inszenierte Umgebung, einen unfassbaren Soundtrack oder die traurigste Giraffenszene aller Zeiten alles wieder gut machen. Videospiele sind so eine wunderbare Sache—warum sollte überhaupt jemand von uns dazu gezwungen sein, sich für seine Leidenschaft zu ihnen rechtfertigen zu müssen?

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Sich für Videospiele zu begeistern respektive sich als „Gamer" zu bezeichnen, setzt entgegen landläufiger Meinungen nicht zwingend voraus, sein halbes Leben vor einem flimmernden Bildschirm zu verbringen. Die Gaming-Community hat Platz für jeden, der Liebe am Spiel hat. Ich kenne Sammler, die eine Konsolensammlung im Wert von mehreren Monatsmieten ihr eigen nennen. Leute, die sich ab und an ihren alten Nintendo anwerfen oder Gameboy-Spiele auf ihrem Handy emulieren. Spielbegeisterte, die immer die neueste Hardware haben und alles zocken, was auf den Markt kommt—ob aus beruflichen oder privaten Gründen.

Manche informieren sich ganz gezielt darüber, welche Titel für sie in Frage kommen und wieder andere spielen aus Zeit- oder Geldgründen eher selten selbst, sondern gucken lieber anderen auf YouTube dabei zu. Und das alles ist OK. Wenn man nicht gerade online gegen pubertierende ADHS-Kandidaten Call of Duty spielt oder mit psychotischen Frauenhassern über #GamerGate diskutiert, gibt es wahrscheinlich nur wenige Communitys, die so offen, begeisterungsfähig und breit gefächert sind.

Von Pong zu The Last of Us war es ein langer Weg und wenn sich über die Jahre hinweg elementar etwas an Games getan hat, dann dass sich mit den technischen auch die erzählerischen Möglichkeiten extrem weiterentwickelt haben. Dadurch ist die Industrie nicht nur zugänglicher, sondern auch erwachsener geworden. Man muss sich nicht mehr zwischen Rette-die-hilflose-Frau und Street Fighter entscheiden. Das Spiel als solches hat eine Tiefe des Storytellings erreicht, die in vielen Fällen weit über die Möglichkeiten eines 0815-Films hinausgeht. Und nicht wir Gamer sollten uns dafür schämen oder gar rechtfertigen, dass wir in unserer Freizeit gerne mal auf Drachen reiten, Mordfälle lösen oder in der Zombieapokalypse traumatische Dinge durchleben. Schämen sollten sich die Menschen, die zu zynisch, zu oberflächlich, zu gelangweilt von allem, was sie nicht verstehen wollen, sind, um sich mit der am schnellsten wachsenden Sparte der Unterhaltungsindustrie auseinanderzusetzen.

Eigentlich sollten sie uns Leid tun.

Sollte Lisa wegen dieser einen verdammten GTA-Mission einen Wutanfall kriegen, könnt ihr es auf Twitter nachlesen.

Header-Foto: Tiago Augusto | Flickr | CC BY 2.0