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Reisen

Ich bin in einen Hurrikan gesegelt und dabei fast gestorben

Der Ozean bäumt sich zu einer Steilwand auf. Noch nie habe ich Angst vor dem Tod gehabt. Aber jetzt sehe ich ihn vor mir. Er ist kalt und nass.
Alle Fotos: Nick Martin

Mein Herz schlägt so schnell, dass meine Brust gleich explodiert. Das Adrenalin pumpt durch meine Adern. Ich bin gefangen auf einem Katamaran, mitten im Pazifik, und um mich herum tobt ein Sturm, der das Meer auftürmt und Wellen gegen das Boot schmeißt. Nach und nach verschwinden alle Sorgen, die ich jemals hatte. Keine Ahnung, ob ich das hier überleben werde.

Eine Woche zuvor in Mexiko: Ich war ein paar Tage lang ohne Zwischenstopp unterwegs, nun bin ich endlich angekommen in Mazatlan im Westen des Landes. Es ist sechs Uhr morgens, der Ort schläft noch—außer den Fischern, die ihre Ausrüstung für den Tag vorbereiten. Die aufgehende Sonne wärmt mein Gesicht und Möwen kreisen in der Luft, als ich über den Holzsteg laufe. Jetzt muss ich nur noch einen wildfremden Amerikaner namens Gary finden, mit dem ich über Couchsurfing Kontakt hatte.

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Ich werde immer nervöser, laufe ziellos umher und frage die Fischer. Dann taucht am Horizont ein Boot neben grauen Steilklippen auf, von dem mir ein großer, schlanker Mann zuwinkt. Es ist Gary auf seiner Crystal Blue Persuasion, einem 20 Meter langen Katamaran. Drei Tage werde ich darauf mitsegeln, entlang der mexikanischen Küste. Das jedenfalls war der Plan.

Zusammen mit unserem schwedischen Mitreisenden Emil gehen Gary und ich einkaufen. Hühnchen wird es geben, Kartoffeln, Guacamole, Chips und Cookies. Den meisten Platz im Kühlschrank brauchen wir allerdings für Bier. So müsse das sein, meint Gary, denn Bierdosen würden den Kühlschrank gut ausfüllen und dieser müsse auf jeden Fall immer so voll wie möglich sein—nur dann kühle er richtig.

Am nächsten Tag geht es los. Die Möwen folgen uns, weil Gary Thunfische fängt, um frisches Sushi zu machen. Auch Delfine und Buckelwale schwimmen mit dem Boot. Ich liege in einem Netz am Bug des Katamarans, schließe die Augen und lausche Wind und Wellen. Das sanfte Schaukeln wiegt mich in den Schlaf.

Gary präsentiert seinen Fang

Bevor wir auf dem Boot waren, plante ich, jeden Tag auf Deck zu sitzen und mich zu sonnen. Aber Gary sieht das anders. Nachdem wir etwas weiter nördlich den Kalifornier Daniel aufgenommen haben, ein weiteres Crewmitglied, komme ich kaum noch zur Ruhe. Ich muss putzen, kochen und das Schiff steuern. Meine Segelschicht ist besonders hart. Nachts von zwei bis sechs Uhr bin ich an der Reihe. Die anderen schlafen dann. Ich bin allein mit dem unendlichen Wasser des Pazifischen Ozeans.

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Nach drei Tagen erreichen wir den Hafen von Cabo San Lucas. Dort will ich eigentlich den Katamaran verlassen und weiter durch Mexiko reisen. Doch das Meer hat mich in seinen Bann gezogen und ich beschließe, an Bord zu bleiben. Eine verhängnisvolle Entscheidung.

Kräftiger Wind kommt auf. Er zieht aus dem kalten Alaska herab und macht aus der entspannten Segeltour eine Achterbahnfahrt. Ich friere und trage jeden Tag mehr Kleidungsschichten. Als sich der Wind dreht, müssen wir im Zickzack segeln, um weiter nach Norden zu kommen. Eines Morgens stellen wir fest, dass ich uns während meiner Nachtschicht 80 Seemeilen vom Kurs abgebracht habe.

Wir sind irgendwo mitten auf dem Ozean und der Wind bläst immer härter. Umkehren und zurücksegeln könnten wir vergessen, mein Kapitän Gary. Eigentlich ist er immer entspannt und erzählt Witze. Aber dann kommt er auf einmal mit besorgtem Gesicht aus seiner Kajüte. "Jungs, ich glaube, es wird noch schlimmer. Ein Hurrikan kommt auf uns zu."

Emil, Daniel und ich werden unruhig. Wir haben schließlich alle überhaupt keine Erfahrung mit so etwas. Und Gary macht auch keine Witze mehr. In der Nacht wird Daniel seekrank. Aber wir können ihm nicht helfen, es gibt ja keine Möglichkeit, die Bewegung zu stoppen. Wir anderen können wenigstens essen, doch jedes Mal, wenn Daniel versucht, etwas zu sich zu nehmen, müssen wir das Boot putzen. Als ob der Seegang nicht schon ausreichen würde, spielt ihm auch der Wind übel mit, als er sich über die Reling lehnt, um zu brechen. Der arme Daniel—aber das Schlimmste kommt auf uns alle erst noch zu.

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Tag acht. Die Essensvorräte sind geschrumpft, der Wind weht noch stärker und die Temperatur liegt nur knapp über null Grad. Ich will schlafen, aber kriege kein Auge zu. Einmal übergibt sich Daniel so stark und so laut, als wäre ein schreiender Seelöwe auf dem Schiff.

Mein Bett ist in der Nähe des Bugs und ich spüre, wie mächtig das Wasser mit jeder Welle gegen den Katamaran peitscht. Ich kann nicht schlafen, weil meine Organe einen Breakdance hinlegen. Also liege ich in meinem Schlafsack und denke darüber nach, wo ich wohl wäre, wenn ich mich vor ein paar Tagen entschlossen hätte, das Boot zu verlassen. Ich denke an meine Familie, meine Freunde und meine bisherige Reise.

Plötzlich schreit Gary. Wenige Momente später schüttelt mich Emil und brüllt: "Nick, wir brauchen dich! Schnell! Der Hurrikan! Wir kentern gleich!"

Ich springe aus dem Bett und in meine Schuhe. Unterwegs zum Deck schlingere ich und knalle gegen die Wand. Auf dem Oberdeck sehe ich Gary, der sich ans Steuerrad klammert. Emil hat auch Daniel geweckt und wir alle stehen in der schwarzen Nacht. Wir schauen zu Gary. Zwar kann ich meine eigenen Hände kaum erkennen, doch der Mond erhellt Garys Gesicht, und in seinen Augen sehe ich blanke Furcht.

Er ruft uns zu: "Wir müssen das Segel einholen. Der Wind ist zu stark. Es wird reißen!" Dann packt er uns alle und schreit uns direkt ins Gesicht: "Egal was passiert, ihr Jungs haltet euch IMMER irgendwo fest. Ihr nehmt nie die Hände vom Boot! Wenn ihr ins Wasser fallt, gibt es kein zurück! Verstanden?" Daniel, Emil und ich sind starr vor Angst und gucken einander mit großen Augen an, bis Gary uns durchschüttelt. "Habt ihr verstanden?" Wir nicken.

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Daniel soll den Katamaran in den Wind steuern, damit sich das riesige weiße Hauptsegel lockert. Emil und ich stehen daneben und warten darauf, dass es anfängt zu flattern. Gary brüllt und flucht, während er hektisch durch die Gegend rennt. Er weiß als einziger von uns: Der Hauptmast bricht gleich aus seiner Halterung.

Er lehnt seinen Körper in den Wind, stellt sich auf den Mast und umklammert ihn, damit der Katamaran nicht in Stücke gerissen wird. Eine Riesenwelle nach der anderen kracht gegen uns. Das Geräusch der Wassermassen ist grauenhaft; ein Donnern wie eine Explosion. Jedes Mal, wenn der Katamaran den Kamm einer Welle erreicht, dauert die Fahrt ins Tal etwa drei Sekunden. Wir können uns kaum noch festhalten—und wir wissen nicht, wie lange unser Boot der Gewalt standhalten wird.

Daniel schafft es, in die Richtung zu segeln, die Gary ihm gezeigt hat, und endlich lockert sich das Segel ein wenig. Emil und ich hängen unser ganzes Gewicht daran, werden von Seite zu Seite geschleudert, bis wir es endlich runterziehen können. Doch Daniel kann den Kurs nicht halten, das Segel fängt wieder Wind. Und ich bin genau auf der Seite, die sich nun ausdehnt. Wie eine Faust schlägt mir das Segel ins Gesicht. Ich falle bewusstlos zu Boden.

Dann spüre ich einen festen Griff an meinem Arm. Es ist Emil, er hält mich fest. Daniel ruft: "Jungs, haltet euch fest! Da kommt eine große!"

Gary ringt noch immer mit dem Wind um den Hauptmast. Ich schaue wie gelähmt zum Horizont, beziehungsweise dorthin, wo er sein müsste. Denn es gibt keinen Horizont mehr, nur noch Wasser. Ich hebe meinen Blick immer weiter und sehe, wie sich der Ozean zu einer Steilwand aufbäumt. Die Welle schimmert im Mondlicht, sie hört nicht auf zu wachsen. Gary schreit etwas, aber wir hören ihn nicht mehr.

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Der Mond hängt wie ein Gespenst über dem Wasser

Dann bricht eine zwölf Meter hohe Welle über uns. Ich spüre Emils Hand nicht mehr.

Da ist nichts. Gar nichts—außer Wasser. Noch nie zuvor habe ich wirklich Angst vor dem Tod gehabt. Aber jetzt sehe ich ihn vor mir. Er ist kalt und nass. Geld ist mir egal, meine Familie ist mir egal, auch meine Freunde. Ich denke nicht an meine Reisen oder die Leute, die ich kennengelernt habe. Ich denke nur an eins: die Fahrt zu überleben.

Mein Herz hämmert wie wahnsinnig. Das Adrenalin dämpft den Höllenlärm, das ganze Geknalle und Geknarze wird immer leiser. Ich fühle mich so winzig und so verloren hier draußen. Wie ein Eiswürfel rutsche ich auf dem Katamaran umher.

Die Wucht des Riesenwelle hat uns zu Boden geschleudert. Alle schreien. Einer von zwei Motoren ist ausgefallen. Er raucht und stinkt und wir haben Angst, dass er uns um die Ohren fliegt. Im zweiten Motor hat sich ein Tau verfangen, das Hauptsegel ist gerissen und unserem Rettungsboot fehlt ein Paddel. Das vordere Segel hat seine Befestigung verloren und steht auch kurz davor zu reißen. Der Aufprall hat meine Haut an Füßen, Becken, Ellenbogen und Schultern abgeschürft, das Salzwasser brennt sich in die Wunden.

Wir müssen das Tau aus dem Motor bekommen. Gary greift sich ein Messer, bindet ein Seil um seine Hüfte und setzt eine Taucherbrille auf. Er springt ins Wasser und versucht, das Tau zu durchtrennen. Immer wieder hebt sich das Boot in den Wellen und ich verliere Gary aus den Augen.

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"Wann hört dieser Albtraum auf?", denke ich, während ich gegen die Reling gedrückt werde. Alle sind erschöpft und völlig verängstigt—und die Nacht scheint einfach nicht enden zu wollen. Schließlich schafft es Gary, den Propeller zu befreien. Wir lassen den Motor an und probieren, dem Hurrikan zu entkommen.

Es ist kaum noch Benzin im Tank, als die Sonne endlich aufgeht. Aber der Wind lässt nach. Daniel, Emil, Gary und ich haben in den vergangenen Stunden kaum miteinander geredet.

Daniel (hinten), Emil, Gary und Autor Nick auf dem Katamaran

Hinter einer kleinen Insel wollen wir ankern und Schutz vor dem Wind suchen. Dann können wir planen, wie es weitergeht. Doch als Gary den Anker fallen lässt, verliert er den Stopper für die Kette, sodass die gesamten 50 Meter in den Ozean rasseln. Die müssen wir nun mit eigener Kraft wieder aus dem Wasser ziehen. Wir versuchen es, Emil rutscht aus, die Kette entgleitet mir und versinkt wieder in der See. Unsere Nerven liegen blank, niemand hat noch Geduld. Wir schreien einander an. Vier Stunden später erst liegt das Boot vor Anker.

Nachdem wir den Großteil des Tages geschlafen haben, wollen alle endlich zum Festland zurück, doch wir wissen noch nicht einmal, wo genau wir sind. Gary und ich reparieren das Segel, während Emil unsere Koordinaten bestimmt. Niemand kann sich vorstellen weiterzusegeln. Wir haben Angst, aber uns bleibt keine Wahl.

Und so machen wir uns am nächsten Morgen auf den Weg. Wir haben kaum noch etwas zu essen. Tagelang fangen wir keinen einzigen Fisch und am Ende gibt es nur noch Cracker und Oliven. Die Anspannung ist spürbar, doch wir sind auch einfach froh, überlebt zu haben.

Nach 15 Tagen legen wir schließlich in Ensenada in der Nähe von Tijuana an. Es ist mein Geburtstag und ich schenke mir selbst eine Nacht im Hotel. Ich bin in Sicherheit. Ich feiere mit Snickers und Chips im Doppelbett.

Während ich das hier geschrieben habe, musste ich viel lächeln. Nicht, weil ich es genossen hätte, meine Reise fast nicht überlebt zu haben. Sondern, weil mich diese Erfahrung verändert hat. Mein Leben ist wertvoller geworden, meine Probleme unbedeutender. Ich achte mehr auf meine Umgebung. Ich sehe, dass die meisten Leute durch die Welt gehen und rein gar nichts davon zu schätzen wissen.

Eigentlich ist jetzt alles besser als vor dem Segeltrip. Ich habe begriffen, wie kurz das Leben sein kann und wie wichtig es ist, jeden Moment auszukosten. Ich habe gelernt, meine Träume nicht nur zu träumen—sondern zu leben. Deswegen bin ich froh, dass ich fast gestorben bin.

Mehr von Nick Martin und seinen Reisen gibt es auf seiner Homepage und auf Facebook.