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Ich habe den IS-Anführer mit einem Fluch belegen lassen und es hat fast funktioniert

Ich war bei Straßen-Zauberinnen in Hongkong und habe sie gebeten, Abu Bakr al-Baghdadi zu töten.

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Im hypermodernen Hongkong stößt man an jeder Ecke auf abergläubische Bräuche.

Jeden Morgen treffen sich vier alte Frauen im schicken Einkaufsviertel Causeway Bay unter einer Überführung, um ihre Schreine aufzubauen. Sie stellen Statuetten von den verschiedensten chinesischen Gottheiten auf und vermischen dabei fröhlich Buddhismus, Daoismus und örtliche Folklore. Man findet dort Guan Gong, einen sowohl von der Polizei als auch von den Triaden verehrten Volkshelden, Buddha, der die Grenzen zwischen Gott und Guru verschwimmen ließ, Guanyin, die Göttin des Mitgefühls, und den Affenkönig, der gleichzeitig Schelm, Schüler und Beschützer ist. Selbst nach der Abenddämmerung wird noch Weihrauch entzündet und die Frauen bieten jedem, der bei ihren Ständen Halt macht, übernatürlichen Schutz an. Gleichzeitig können sie aber auch Elend, Unglück und allgemein Unangenehmes über die Feinde ihrer Kunden hereinbrechen lassen.

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Im Kantonesischen wird dieses Ritual „Da Siu Yun“ genannt und bedeutet so viel wie „Bösewichte treffen“. Jede Frau hat ihre eigene Variante der Zeremonie, aber im Grunde werden dabei Papier-„Bösewichte“ mit Schuhen geschlagen, daoistische Sigillen und Papierzaubersprüche angezündet und ein oder zwei Zauberformeln gesungen, während sich der Geruch von Rauch in deiner Kleidung festsetzt. Eine der Frauen sagt dir sogar die Zukunft voraus, indem sie gefälschte antike Münzen wirft und in daoistischen Texten liest.

Zumindest eine der Straßenzauberinnen gibt zu, dass es reine Geldmache ist. Aber immerhin wird einem eine ordentliche Show geboten. Sie geben sich bei ihren Auftritten wirklich Mühe und die Touristen lieben es.

Die Frauen werden nicht von der Polizei vertrieben, weil sie schon seit Jahrzehnten dort arbeiten und man auch nicht wirklich genau sagen kann, wann ihre Vorgängerinnen mit dem Ganzen angefangen haben. Es ist einfach eine der Sachen, die schon lange vor unserer Zeit existierten, deshalb hat die Regierung von Hongkong die Tradition jetzt sogar zum „immateriellen Kulturerbe“ der Stadt erklärt.

„Da Siu Yun“ findet jetzt tatsächlich wieder viel Anklang—die Bürger verleihen so ihrem Unmut Ausdruck.

Die Bevölkerung ist seit Jahren unzufrieden mit den politischen Anführern. Steigende Grundstückspreise, die geplanten Pro-Peking-Bildungsreformen und eine wachsende Kluft zwischen Arm und Reich sind nur ein paar der Probleme, die die Bewohner Hongkongs verärgern. Aber nichts bringt sie mehr auf die Barrikaden, als ihre aktuelle Forderung nach einem freien und allgemeinen Wahlrecht.

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„Heutzutage kommt fast niemand mehr wegen einem persönlichen Anliegen“, sagte eine der alten Frauen. „Wenn sie sich anstellen, dann nur, um den Chefadministrator zu verfluchen.“ Der Chefadministrator ist das Oberhaupt der Regierung von Hongkong, quasi der Bürgermeister.

Und glaubt mir, sie stellen sich wirklich an. Einmal im Jahr—normalerweise an einem Tag im März, der laut dem chinesischen Mondkalender gut für solche Sachen geeignet ist—kann die Schlange schon mal mehrere Hundert Meter lang sein und die Wartezeit viele Stunden betragen. Wenn eine halbe Million Menschen auf die Straße gehen, um Peking an das Versprechen von freien Wahlen in Hongkong zu erinnern, bitten viele Leute auch übernatürliche Instanzen um Hilfe und fokussieren ihren Zorn auf die Oberhäupter der Stadt. Anders als im Rest von China wird einer Person in Hongkong mehr persönliche Freiheit eingeräumt. Während diese Art der Kritik an einem Politiker in China unschöne Folgen haben könnte, praktizieren die Bewohner von Hongkong Meinungsfreiheit, ohne mit ernsthaften Konsequenzen rechnen zu müssen—meistens zumindest.

„Wir haben den Chefadministrator jetzt schon tausende Male mit einem Fluch belegt, wahrscheinlich sogar schon öfter“, sagten die Zauberinnen. „Manchmal verlangen wir bei ihm mehr Geld, weil er eine ‚wichtige Person‘ ist und dadurch mehr Arbeit anfällt, aber die Leute wollen es immer noch machen. Jeder hasst ihn.“

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Dann erinnerten sie mich an ihre eigentliche Aufgabe und fragten: „Willst du nun jemanden verfluchen oder stellst du uns nur Fragen und machst Fotos?“

Ich bin ein umgänglicher Typ und lebe ein Leben, in dem nicht viel gestritten wird. Ich habe keine Feinde und bin im Allgemeinen mit dem Universum im Reinen, also versuchte ich, an den abscheulichsten und verhasstesten Menschen zu denken, der gerade die Nachrichten beherrscht. Mir fielen mehrere Kandidaten ein, aber eine Person stach hervor.

Ich ließ Abu Bakr al-Baghdadi mit einem Fluch belegen—Anführer der IS, Liebhaber von Schweizer Uhren und möglicherweise der böseste Mensch der Erde.

Die jüngste Zauberin stieß einen Zauberspruch aus und verfluchte damit seinen Kopf, sein Gesicht, seine Augen, seine Ohren, seinen Mund, seinen Bauch, seine Hände und seine Füße. Sie schlug ihn über 30 Mal mit ihrem Schuh und verbrannte ihn schließlich neben ihrem Schrein in einer Blechdose. Sie sagte, dass ihr noch nie jemand einen englischen Namen genannt hätte. Ich meinte zu ihr, dass das eigentlich ein arabischer Name sei, aber das war auch kein Problem. „Das ist doch nicht schlimm? Zauberei ist Zauberei“, antwortete sie mir. Im Bezug auf übernatürliche Kräfte räumte sie scheinbar jeder Person Chancengleichheit ein.

Anschließend musste ich 7 Dollar (5,50 Euro) bezahlen.

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, kam in den Nachrichten, dass al-Baghdadi bei einem Dronenangriff ums Leben gekommen sei. Ich konnte es kaum erwarten, der Zauberin von ihrer gottähnlichen Macht zu berichten. Bevor sich die Aufregung und die Euphorie überhaupt wieder legen konnten, stellte sich das Foto der Leiche allerdings als gefälscht heraus. Bei dem Angriff wurden zwar Mitglieder des Islamischen Staats getötet, aber nicht al-Baghdadi.

Der Fluch war also nicht wirksam—zumindest noch nicht. Aber was war mit den ganzen Flüchen, die Hongkongs hochrangigen Politikern jedes Jahr auferlegt werden? Das muss für sie doch ziemlich schlimm sein? „Natürlich nicht!“ Meine Zauberin lachte, als sie sich mit einem alten Ventilator abkühlte und in den Abgasen eines dröhnenden Doppeldecker-Busses lauwarmes Wasser aus einer alten Plastikflasche trank. „Wenn es für ihn aber nicht gut läuft, dann hat er es verdient.“

„Da Siu Yun“ ist keine aussterbende Tradition, aber es ist jetzt auch nicht gerade total beliebt. Jetzt gibt es sogar eine App, die den Zauberinnen Konkurrenz macht—nur auf die Weihrauchschwaden musst du verzichten. Neben den Touristen, die gelegentlich vorbeikommen, geht es nur an einem oder zwei Tagen im März richtig geschäftig zu. Warum also kommen die alten Frauen immer noch jeden Tag hierher?

„Wir werden das unser Leben lang machen, denn wir wissen, was zu tun ist“, sagte eine der Zauberinnen. „Selbst Li Ka-Shing, der reichste Mann Asiens, fragt bei seinen Geschäften einen Feng-Shui-Meister um Rat. Wir machen genau das Gleiche wie die berühmten Großmeister, bloß eben für jedermann.“ Dann lächelte sie.

„Welchen Terroristen sollen wir heute für dich ins Visier nehmen?“