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Ich kannte Jo Cox und will nicht, dass Hass und Angst ihr Vermächtnis verderben

"Nach dem Mord an der britischen Politikerin haben viele Menschen noch mehr Angst vor der Zukunft. Die Tragödie kann aber auch zu etwas Positivem führen—wenn wir jetzt alle zusammenstehen."

Blumen, die Trauernde für die Politikerin Jo Cox niedergelegt haben | Foto: imago | i Images

Ich lernte Jo Cox vor gut fünf Jahren auf ihrem Hausboot im Londoner Stadtteil Wapping kennen. Während sie mit der einen Hand ihr erstgeborenes Baby Cuillin fütterte, half sie mit ihrer anderen Hand bei der Organisation einer öffentlichen Veranstaltung der Gemeinde.

Mir fiel direkt auf, welche unglaubliche Wärme sie ausstrahlte. Sie war witzig, leidenschaftlich, fähig und direkt. Trotz ihrer kleinen Größe schien sie unaufhaltsam zu sein—einfach ein auf dem Boden gebliebenes Mädel aus dem Norden Englands mit viel Herz. Schon damals hatte sie mehrere Jahre ihres Lebens darauf verwendet, die Welt für die Leute besser zu machen, die es am schwersten getroffen hatte.

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Als frischgebackene Mutter feierte ich es schon als Erfolg, wenn ich meine Klamotten richtig rum angezogen hatte oder einen Satz sinnvoll zu Ende brachte. Bei Jo war es jedoch sofort offensichtlich, dass sie zu so viel mehr im Stande war. Ihre liebevolle und großzügige Art kam nämlich auch in der Öffentlichkeit zum Vorschein—und ebenso im Umgang mit Menschen anderer Meinungen, Hintergründe und Ethnien.

Viele von uns hatten früher mal jugendliche Hippie-Ideale, die wir dann unter dem Druck des Erwachsenenlebens und Elterndaseins jedoch ad acta legten und nun auf einem gemütlichen Sofa immer älter und dicker werden. Ich weiß noch, wie ich genau dieses gemütliche Sofa bei Jo nirgendwo finden konnte und wie mich dieser Umstand immens beeindruckte. Sie schien sich einen unkonventionellen und abenteuerlustigen, gleichzeitig aber auch bescheidenen und sparsamen Lebensstil angeeignet zu haben. Ich erinnere mich zudem noch daran, wie sie davon schwärmte, ihr Kind in einer Gemeinde großzuziehen, in der die Nachbarn einfach so Essensgeschenke vorbeibrachten. Ihrem Sohn gefiel es außerdem, wie ihn das "Kindermädchen" namens Themse in den Schlaf wiegte.

Eigentlich waren Jo und ich keine wirklich engen Freundinnen. Ich traf sie nur ab und an mal durch unsere gemeinsame Bekannte Gemma Mortensen, die zusammen mit Jos Ehemann Brendan Cox eine NGO gegründet hatte. Gemma und zwei von Jos Freunden haben jetzt auch mit Brendans Unterstützung den Jo Cox's Fund ins Leben gerufen. Als dieser Artikel entstand, haben die Leute dort schon über 925.000 Pfund gespendet, die jetzt den guten Zwecken zugutekommen, die Jo am meisten am Herzen lagen.

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Für viele von uns ist die Work-Life-Balance ein wahrlich schmaler Grat. Man will ja einem Beruf nachgehen, der zum einen genügend Geld abwirft, zum anderen aber auch nicht das eigene Leben und die zwischenmenschlichen Beziehungen komplett durcheinanderbringt. Jos Arbeit war dabei mehr eine Art Mission—und das sieht jeder, der sich in den vergangenen Tagen mit ihren vielen Errungenschaften auseinandergesetzt hat. Sie besaß die Glaubwürdigkeit, die wir uns von anderen Politikern oft wünschen. Dazu wohnte ihr noch eine Güte inne, die viele authentisch auftretende Politiker oftmals nicht haben. Authentizität bedeutet, sich nicht zu verstellen, und genau das war für Jo kein Problem.

Im Verlauf der letzten Woche haben so viele meiner Bekannten darüber geredet, wie traurig, furchteinflößend und verrückt die Welt ihrer Meinung nach geworden ist. Sie alle haben Angst vor der Zukunft und wissen nicht, was sie dagegen machen sollen. Wenn man die Welt tatsächlich nur nach den brutalen Hassverbrechen der letzten zehn Tage oder nach den feigen und mehr als boshaften Internet-Kommentaren beurteilen würde, dann wäre jedoch wohl jeder aufgrund seines Daseins als Mensch von Scham erfüllt.


VICE News hat sich mit Augenzeugen des Mordes an Jo Cox unterhalten:


Der brutale Mord an Jo hat nun eine Person ins Rampenlicht gerückt, die das genaue Gegenteil davon war. Die ganze Sache stellt jedoch leider auch alle Menschen in Frage, die Jo jemals inspiriert hat oder die weinen, weil man Jo nicht ersetzen kann. Natürlich ist es eine gute Sache, auf die Hilfe suchenden Menschen in Syrien aufmerksam zu machen oder etwas für sie zu spenden, aber wir müssen einfach mehr unternehmen. Meiner Meinung nach sind so viele von uns entweder depressiv oder verängstigt, weil es den Anschein hat, als ob eine immer größer werdende Welle des Hasses und der Angst auf uns zurollt. Die Tragödie um Jo könnte diese Welle nun umkehren.

Sie könnte uns dazu ermutigen, uns zusammenzutun und eine neue Art der Politik zu machen—nicht so engstirnig, streitlustig und parteiisch, sondern großzügiger. Mich hat die Tragödie dazu gebracht, zu reflektieren und mir folgende Frage zu stellen: Lebe ich mein Leben so, weil ich faul, egoistisch und ein Gewohnheitstier bin oder weil ich es wirklich so will und mag? Egal wie idealistisch das jetzt klingen mag, aber meines Erachtens nach sollten wir jetzt alle zusammenhalten und uns für die Liebe einsetzen. Und zwar nicht nur in den eigenen vier Wänden, sondern auf der ganzen Welt.

Am 22. Juni wäre Jo 42 Jahre alt geworden. Ihre Freunde und Kollegen organisieren nun Events, die an diesem Datum auf der ganzen Welt gleichzeitig stattfinden. So werden ihre Londoner Nachbarn zum Beispiel ein Boot voller Blumen und Gedenkschriften die Themse entlangsegeln. Und um 16:00 Uhr wird am Trafalgar Square dann ein großes Treffen abgehalten, um Jos Leben sowie die Liebe, die sie in sich trug, zu würdigen. Das alles findet unter dem Motto "More In Common" statt—ein Auszug aus ihrer ersten Rede vor dem britischen Parlament, in der sie auch darüber redete, dass die Dinge, die uns vereinen, größer seien als die Dinge, die uns trennen. Ich hoffe, dass der 22. Juni den Start von etwas markiert, das genauso außergewöhnlich wird, wie Jo Cox es war. Ich werde auf jeden Fall da sein.