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Ich saß sechs Monate im berüchtigtsten Knast des Libanon

Bis zu 5.500 Gefangene leben normalerweise im Roumieh-Gefängnis. Im Grunde wird es von sehr mächtigen Insassen geleitet, die für Ordnung sorgen, „Immobilien“ verwalten und den Drogenhandel kontrollieren.

„Khodr“, ein syrischer Aktivist, der sechs Monate im Roumieh-Gefängnis im Libanon war

Roumieh, das berüchtigtste Gefängnis des Libanon, ist bestimmt kein Ort, an dem du dich gerne aufhalten würdest. Bis zu 5.500 Gefangene leben normalerweise in dieser Einrichtung, darunter einige der bekanntesten Kriminellen des Landes, wie zum Beispiel ehemalige israelische Agenten und Salafisten, die mit Aufständen gegen den libanesischen Staat in Verbindung stehen sollen. Bislang hat das Gefängnis die Mindeststandards der Vereinten Nationen nicht umgesetzt. Stattdessen wird den Leitern des Gefängnisses Korruption vorgeworfen. Hochsicherheitsgefangene sollen geflohen sein, ohne dass die Aufseher etwas davon mitbekommen haben, und Gefängniswächtern und Ärzten wird nachgesagt, mit Drogen zu handeln.

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„Khodr“* ist ein syrischer Aktivist, der 2011 in den Libanon geflüchtet ist, um dem Wehrdienst in Syrien zu entgehen. Nachdem er syrische Grenzbeamte mit 2.000 Syrischen Lira bestochen hatte, setzte er seine Tätigkeit in Beirut fort und vernetzte sich mit Mitgliedern der Freien Syrischen Armee, um ausländischen Journalisten, die aus Syrien berichten wollten, bei der Einreise zu helfen.

Im März 2013 wurde er vom Geheimdienst des libanesischen Innenministeriums abgeholt, von dem er schon länger beobachtet worden war. Er wurde mit einer Kapuze über dem Kopf in einen Geländewagen gezwungen, drei Tage lang verhört und schließlich vor einem Militärgericht angeklagt, mit der syrischen Opposition zusammengearbeitet und dadurch die Sicherheit des libanesischen Staates bedroht zu haben. Zur Strafe wurde er nach Roumieh geschickt, wo ein angelikanischer Priester nach sechs Monaten seine Entlassung bewirken konnte.

Da er aus dem Libanon abgeschoben werden soll, sein Pass aber noch von den Behörden beschlagnahmt wird, hält Khodr sich nun illegal in dem Land auf, das er nicht verlassen kann. Ich habe mich mit ihm getroffen, um mit ihm über seine Erfahrungen im Gefängnis zu sprechen.

Ein Kurzfilm, der die Bedingungen in Roumieh zeigt

VICE: Hallo Khodr. Was waren die Gründe für deine Festnahme?
Khodr: Es hatte mit meinen Aktivitäten und den Verbindungen zu Mitgliedern der Freien Syrischen Armee zu tun, besonders aus al-Zabadani [eine Stadt im Südwesten Syriens, in der Nähe der libanesischen Grenze], die wahrscheinlich überwacht wurden. Sie haben Waffen von palästinensischen Milizen in Ain el-Hilweh [das palästinensische Flüchtlingslager in der südlichen Stadt Saida] und anderen gekauft, darunter waren auch Schiiten, die Assad unterstützen, aber an Geld kommen wollten.

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Und der Geheimdienst dachte, dass du etwas damit zu tun hast?
Sie haben mich verdächtigt, der Freien Syrischen Armee anzugehören. Ich habe alle Verbindungen zu Leuten, die in meiner Befragung genannt wurden, geleugnet, aber sie haben ihre Nummern und Namen in meinem Handy und auf Facebook und Skype gefunden. Vor dem Militärgericht wurde ich angeklagt, ein gefälschtes Visum zu besitzen, und durch meine Aktivitäten die Sicherheit des libanesischen Staates zu bedrohen. In dem Moment habe ich die Ernsthaftigkeit der Situation begriffen.

Wie waren die ersten Wochen in Roumieh?
Es war wirklich schwer, sich daran zu gewöhnen. Plötzlich war ich an diesem unglaublich dubiosen Ort und von abgebrühten Kriminellen und von Drogenmissbrauch umgeben. Ich war noch nie zuvor an so einem Ort. Ich war deprimiert und hatte Angst.

Wie stark war der Drogenmissbrauch verbreitet? 
Ich würde sagen, dass mindestens 90 Prozent der Häftlinge Drogen nahmen. Es ging von verschreibungspflichtigen Medikamenten wie Benzocain und Tramadol über Haschisch und Kokain bis hin zu Heroin. Du kannst dir alles besorgen: Benzocain ist am billigsten, Heroin und Kokain sind am teuersten. Für Resozialisierungen besteht keine Chance. Ich erinnere mich, wie ein Häftling zu mir sagte: „Das einzige, was sie hier gefangen halten, ist mein Schwanz.“

Ein paar Leute hatten [homosexuelle] Beziehungen, aber sie zeigten es nicht. Spätnachts oder frühmorgens, wenn die meisten Leute entweder schliefen oder high waren, gingen sie ins Badezimmer. Zwei Typen gaben dem Pförtner ein paar Gramm Haschisch, damit er zehn oder fünfzehn Minuten lang niemanden reinließ. Sie wären nicht misshandelt oder geächtet worden, aber wenn der Sharwishe es herausgefunden hätte, wären sie zusammengeschlagen worden. Von Vergewaltigungen habe ich nichts mitbekommen.

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Was ist ein „Sharwishe“?
In jeder Halle des Gefängnisses gibt es einen Sharwishe. Er ist ein Gefangener, aber gleichzeitig eine Art Mafiaboss und ein starker Mann. Der Sharwishe in meiner Halle war ein ehemaliger Polizeibeamter, der ins Gefängnis kam, weil er eine bewaffnete Gruppe gegründet und seine Position für Drogenhandel ausgenutzt hatte. Der Sharwishe kontrolliert den Verkauf von allem Möglichen: von Essen und Getränken, Reinigungsmitteln und Drogen. Er—nicht die Gefängniswächter—war dafür verantwortlich, für Ordnung zu sorgen. Die Gefängnisaufseher waren über den Sharwishe ebenfalls in den Drogenhandel verwickelt. Immer wenn Drogen ins Gefängnis gebracht wurden, haben sie den Gefangenen befohlen, in ihren Hallen zu bleiben.

Die Gewinne, die der Sharwishe aus dem Verkauf zog, wurden zwischen ihm, den Sharwishes aus den anderen Hallen und dem Gefängnisdirektor aufgeteilt. Wenn zum Beispiel Drogen im Wert von 1.000 Dollar verkauft wurden, dann bekam der Gefängnisdirektor einen Anteil von 300 Dollar. Der Gefängniswächter besuchte die Sharwishes oft in ihren Räumen, wo sie vor unseren Augen Kaffee tranken und sich unterhielten. Das gesamte System ist zutiefst korrupt. Es liegt im Interesse der Gefängniswächter, dass es Drogen im Gefängnis gibt, da die Häftlinge dadurch träge und faul sind. Auf Drogen werden sie sich nicht auflehnen und für ihre Rechte kämpfen oder sich über Missstände beschweren.

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Wie funktioniert der Handel im Gefängnis? Wie haben die Leute zum Beispiel Drogen gekauft?
Im Gefängnis ist materielles Geld verboten. Man überweist Telefonguthaben auf den Account des Verkäufers, der für den Sharwishe arbeitet. Die Leute bitten Freunde und Verwandte, ihnen Guthaben zu kaufen, das dann innerhalb des Gefängnisses benutzt werden kann. Zwei Pillen Benzocain kosten zum Beispiel 10 Dollar, eine Coca-Cola 3 Dollar und zwei kleine „Kapseln“ Haschisch 10 Dollar. Wer genug Geld hat, kann sich auch ein Handy besorgen. Ein einfaches Nokia-Handy kostet mit Simcard um die 120 Dollar. Nach einem Monat im Gefängnis bat ich meinen Cousin, diesen Betrag an einen Verkäufer zu überweisen, damit ich ein Handy und eine Simcard bekomme. Im Mahkumeen-Trakt des Gefängnisses, wo Mitglieder von Fatah al-Islam und anderen islamistischen Gruppen sitzen, gibt es sogar Computer. Nicht irgendwelche Computer, sondern Macs. Diese Leute haben einflussreiche Hintermänner außerhalb des Gefängnisses, und die Regierung fürchtet sich vor Racheakten, wenn ihre Forderungen nicht erfüllt werden.

Außerdem gab es eine Art Immobiliensystem, das ähnlich funktionierte. In meiner Halle lebten zwischen 80 und 90 Häftlingen. Diejenigen, die Geld hatten, kauften „Grundstücke“ an den Ecken der Halle, weil es dort sauberer war und es mehr Privatsphäre gab. Sie haben sich Trennwände aus Pappe gebaut, um ihre eigenen kleinen Räume zu haben. Fünf Leute zahlten zusammen zwischen 300 und 400 Dollar, und außerdem bezahlten sie andere Häftlinge dafür, dass sie ihnen die Zimmer putzten. Diejenigen ohne Geld, vor allem Syrer und Palästinenser, schliefen mitten im Raum. Dort war es sehr eng.

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Wo hat der Sharwishe gelebt?
Der Sharwishe hatte einen eigenen Raum mit einem Fernseher, einem Kühlschrank, einem richtigen Bett mit Matratze und sauberen Laken. Sein Raum war hervorragend. Er hatte mindestens fünf Leibwächter, die immer bei ihm waren oder vor seinem Raum standen und dafür sorgten, dass alles unter Kontrolle blieb.

Wie bist du im Gefängnis zurechtgekommen?
Das Gesetz in der Gefängnishalle erforderte, dem Sharwishe jede Woche eine Steuer von einer Packung Zigaretten zu geben, um nicht für ihn arbeiten zu müssen, zum Beispiel als Reinigungskraft. Die Zigaretten wurden unter den Sharwishes, den Hauptpförtnern, dem Türsteher und dem Typen, der sich um das Essen kümmerte, verteilt. Manchmal wurden Syrer und Palästinenser zum Arbeiten gezwungen, obwohl sie eine Packung Zigaretten abgegeben hatten. Das ist mir am Anfang so gegangen.

Nach einer Weile fing ich an, im Gefängnis mit einem Wohltätigkeitsverein zusammenzuarbeiten. Ich gab Computerkurse, unterrichtete Englisch und [Lesen und Schreiben auf] Arabisch und arbeitete in der Bücherei. Ich sprach mit dem Leiter des Vereins und wir verabredeten, dass ich bei der Verwaltung einiger Programme helfe und dafür Shampoo, Reinigungsprodukte, Kaffee und Zigaretten bekomme, sowohl für mich selbst als auch für den Verkauf. Bei der Arbeit mit dem Verein habe ich Kontakte zu einflussreichen Häftlingen sowie zu dem Priester aufgebaut, der mir dabei geholfen hat, aus dem Gefängnis zu kommen.

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Mit was für Leuten hast du dich angefreundet?
Beziehungen im Gefängnis gründen sich meistens auf gleichen Interessen, zum Beispiel zwischen Leuten, die Drogen nehmen, und denen, die sie verkaufen. Wenn es schiefgeht, kann daraus leicht Gewalt entstehen. Aus allen möglichen Gegenständen wurden Messer hergestellt, von Holzstücken bis hin zu Türgriffen, die dann an der Wand geschärft und in Stichwaffen verwandelt wurden. Oft kam es zu kleinen Gefechten; größere Kämpfe zwischen rivalisierenden Gruppen waren seltener. Für die Wiederherstellung der Ordnung war der Sharwishe verantwortlich, die Aufseher haben sich nicht eingemischt.

Ich habe mich mit ein paar Leuten angefreundet, die ich durch meine Arbeit im Verein kennengelernt habe. Darunter waren Leute, die für Israel spioniert hatten. Sie waren gebildet, intelligent und außerdem ziemlich einflussreich. Am Anfang habe ich keine Drogen genommen, aber nach drei Monaten war ich ziemlich deprimiert und verzweifelt. Ich fing an, ab und zu mit den israelischen Agenten Haschisch zu rauchen und nahm manchmal Benzedrine oder Tramadol.

Gab es Situationen, in denen du dich besonders bedroht gefühlt hast?
Ich war in einem Trakt mit Schiiten und maronitische Christen. Fast alle der schiitischen Häftlinge haben die Hisbollah und die Amal-Bewegung unterstützt. Als die Hisbollah im Sommer anfing, sich in Syrien, vor allem beim Kampf um Kasseir, militärisch stark einzumischen, haben sie die syrischen Häftlinge bedroht und verhöhnt. Ich habe nur gesagt: „Bashar al-Assad ist unser Präsident. Wir unterstützen ihn.“ Ich konnte nicht sagen, dass ich für die Revolution war, sonst hätte es Ärger gegeben.

Wie hast du dich gefühlt, als du entlassen wurdest?
Bei meinem Verhör wurde mir das Gefühl vermittelt, dass ich ein Krimineller sei. Ich dachte, ich würde für Jahre ins Gefängnis kommen. Ich hatte über die Hisbollah, andere Parteien und Politiker im Libanon und einflussreiche Aktivisten so viele verschiedene Arten der wasta [arabisch für „Verbindungen“] ausprobiert, doch nichts hatte gewirkt. Der angelikanische Priester hat es irgendwie geschafft, durch die Zahlung von einer Million Libanesischer Lira meine Entlassung voranzutreiben. Als ich freigelassen wurde, konnte ich es erst gar nicht glauben. Ich sagte mir, wenn ich durch dieses letzte Tor gegangen bin, glaube ich es. Ich fühlte mich, als ob ich Flügel hätte und fliegen könnte.

Aber jetzt kann ich überhaupt nichts machen. Ich soll abgeschoben werden, aber alle meine Dokumente—insbesondere mein Pass—sind beschlagnahmt worden. Ich habe Angst, dass ich wieder ins Gefängnis gesteckt werde, wenn ich an einem Checkpoint angehalten werde, weil ich illegal im Land bin. Ich versuche, nicht durch die Gegend zu laufen und fahre immer Taxi. Ich stecke im wahrsten Sinne des Wortes fest.