Ich wollte bei einer Kunstausstellung über das Internet herausfinden, ob ich Internetkunst verstehe
Der Autor beim Versuch, seine Beziehung zur Technologie zu definieren | Foto: Jake Lewis

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Ich wollte bei einer Kunstausstellung über das Internet herausfinden, ob ich Internetkunst verstehe

„In nur wenigen Augenblicken bin ich von einem riesigen Hintern zu ‚Stirb langsam' gewechselt. Dieser Übergang ist mir eigentlich gar nicht unbekannt, aber normalerweise läuft es genau andersrum ab."

Wenn man die neue Ausstellung „Electronic Superhighway" in der Londoner Whitechapel Gallery betritt, wird man sofort mit einem riesigen, nackten Hintern konfrontiert. Die wenigen Gelegenheiten, bei denen ich schon über Kunstausstellungen berichten durfte, ließen in mir immer das Gefühl aufkommen, der größte Arsch im Raum zu sein, denn ich benutzte Worte wie „intertextuell" oder „Assemblage" und hoffte, dass sie im Zusammenhang mit meinen Gesten Sinn ergeben würden. Heute bin ich jedoch aufgrund der massiven Leinwand garantiert nicht der größte Arsch. Das beruhigt mich ungemein und ich bin bereit für die Kunst.

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Bei „Electronic Superhighway" dreht sich alles um das Internet und darum, wie Computer unsere Interaktion mit der Welt verändert haben. Mir wird erzählt, dass diese Technologie eigentlich dazu erschaffen wurde, um die Realität zu simulieren. Inzwischen verwenden wir sie jedoch dazu, um uns selbst zu beurteilen. Da ich das Internet bereits genutzt habe, als unsere Trommelfelle noch von den Pieptönen der 56k-Modems zerfetzt wurden, hielt ich es für eine gute Idee, mich auf dieses Wagnis einzulassen und herauszufinden, was genau an meiner lähmenden Selbstwahrnehmung Schuld hat.

Der Sinn des Hinterns wird mir nicht direkt klar, aber ich finde dennoch Gefallen an ihm. Auf jeder Backe ist eine SMS-Konversation zu sehen—womöglich will der Künstler damit ausdrücken, dass wir zwar alle nur Scheiße im Kopf haben, aber trotzdem irgendwann einen Weg finden werden, aus unserer Ritze zu kriechen und unsere bessere Hälfte kennenzulernen. Ergibt das Sinn? Wie dem auch sei, ich kann mir auf jeden Fall vorstellen, dass ein Großteil der Menschheit zu dem Kunstwerk irgendeine Verbindung aufbauen kann.

Die Ausstellung beinhaltet Arbeiten, die zwischen 1966 und 2016 erschaffen wurden. Besagte Arbeiten sind chronologisch rückwärts angeordnet und so können die Besucher von der Gegenwart in die Vergangenheit reisen. Das Ganze ist eine wirklich überwältigende Erfahrung—und genau darin liegt wohl auch der Sinn der Sache.

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Alle Fotos: Jake Lewis

Als Kurator von „Electronic Superhighway" fungiert der umgängliche und faszinierende Omar Kholeif. Als er gerade dabei ist, die Führung zu beginnen, fängt eines der Kunstwerke über ihm an zu reden. Die Leute lächeln—manche besitzen sogar die Kühnheit und kichern. Ich bewahre jedoch stoische Ruhe und schaue schnell auf meinem Handy nach, wie es bei den Australian Open steht. Ich bin eine lebendes Kunstwerk. Ich bin „Abgelenkter, junger Mann". Eigentlich bin ich gar nicht mehr so jung. Eigentlich bin ich einfach nur unhöflich. Eine Frau blickt mich finster an und ich flüstere ihr sanft ins Ohr, dass Federer gerade den dritten Satz gewonnen hat. Sie lächelt (vielleicht vor Angst) und ich befürchte, dass sie Djokovic-Fan ist. Mit ihrer gebräunten Haut, ihren grauen und streng geflochtenen Haaren sowie ihren von der Sonne zerstörten Lippen sieht sie so aus, als wäre sie schon ein- oder zweimal bei Wimbledon dabei gewesen. Vielleicht sogar auch schon mal bei den French Open. Wir müssen jedoch weitergehen und ich bin wieder allein. Ich checke meinen Twitter-Account. „Massive Attack" ist gerade ein Trending Topic. Ich frage mich kurz, ob wir in Gefahr sind.

Ich verbringe viel Zeit auf Twitter und schaue pro Stunde ungefähr 30 Mal nach, ob es etwas Neues gibt. Meistens lese ich jedoch nur meine eigenen Tweets, die ich dann auch direkt noch mal in die Feeds anderer Leute drücke, obwohl ich mir völlig im Klaren darüber bin, dass diese Leute meine Tweets bereits gelesen, verarbeitet und dann wieder vergessen haben. Das ist eine meiner komischeren Angewohnheiten. Ich hole etwas Altes wieder nach oben. Ich darf nicht ignoriert werden. Ich warte 30 Sekunden. Ich wurde ignoriert.

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Ich schiebe die Schuld an meiner Teilnahmslosigkeit jedoch niemandem anderes zu, denn ich habe das Gefühl, dass jeder insgeheim das Gleiche macht. Twitter ist ein Gesellschaftsexperiment in Spielform, bei dem wir alle nur dieser abstrakten Sache mit den „Zahlen" nachjagen. Diese Zahlen habe ich nie bekommen. Wenn ich ein mathematisches Objekt wäre, dann wohl die Null. Um die Gier der Internetbevölkerung zu befriedigen, tweete ich den banalsten und alltäglichsten Scheiß—in einem meiner Tweets von heute heißt es zum Beispiel einfach nur „Chelsea, Chelsea, Chelsea!".

Arbeiten von Amalia Ulman

Als ich von meinem Handy aufschaue, bemerke ich, wie Paris Hilton vor mir Ski fährt. Links von mir posiert Amalia Ulman für ein Instagram-Foto. Im angrenzenden Raum beginnt ein Mann damit, Karaoke zu singen. Ich lasse mich von seinen Worten berieseln. Sie stammen aus einem Roman von Charles Dickens, den jeder schon mal gelesen hat. Seine Stimme—sehr ernst und fast schon tot—erinnert mich an einen meiner ehemaligen Lehrer. Über mir bilden sieben mit Kabeln verbundene Überwachungskameras einen Kronleuchter. Irgendjemand macht davon ein Foto.

Ich denke darüber nach, mein Handy wieder aus der Hosentasche zu holen. Ich widerstehe diesem Drang jedoch und frage mich, ob ich es nicht lieber wegschmeißen, ein Technikfeind werden und eine Farm aufbauen sollte. Es wäre allerdings wohl ziemlich schwer, mich an diese neue Lebensweise zu gewöhnen. Ich weiß, was ihr jetzt sicherlich gerade denkt: Wie kann dieser junge Mann, der so charmant, aufmerksam und geschäftig daherkommt, nicht wissen, wie man eine erfolgreiche Ernte einfährt? Ich suche mithilfe meines Handys nach der Nutzpflanze, die sich in Großbritannien am leichtesten anbauen lässt. Radieschen. Ich mag Radieschen nicht wirklich und packe diese Idee deshalb in meinen „Letzter Ausweg"-Ordner—direkt neben Standup-Comedian und freiberuflicher Journalist.

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Wir werden ein Stockwerk höher gebracht. Vor mir befindet sich jetzt eine ganze Wand mit 52 Monitoren. Dieses Kunstwerk stammt von Nam June Paik und trägt den Namen „Good Morning, Mr. Orwell". 1984 hat Paik in einer Art anti-orwellschen Statement Live-Material von Künstlern aus der ganzen Welt mithilfe des Fernsehens an über 25 Millionen Menschen übertragen. Ich versuche mir vorzustellen, wie 25 Millionen Menschen das Gleiche machen und tue mir dabei ziemlich schwer. Kevin Hart hat 25 Millionen Follower. Kevin Hart ist ein Standup-Comedian. Ich frage mich, ob ich den falschen Karriereweg eingeschlagen habe.

Ich setze mich vor einen Fernseher, der einen in das ASCII-Format umgewandelten Film zeigt. Die grüne Schrift wandert auf dem Bildschirm hoch und runter. Ich glaube, dass es sich um Stirb langsam handelt, denn was sollte es denn auch sonst sein? Die 149 anderen Anwesenden drängen sich um mich. Ich habe sie die ganze Zeit kaum wahrgenommen. Wir sind quasi nahtlos vom einen zum anderen Ende der Ausstellung übergegangen. Ich sehe mir haufenweise Kunstwerke an und weiß gar nicht mal genau, was um mich herum geschieht. In nur wenigen Augenblicken bin ich von einem riesigen Hintern zu Stirb langsam gewechselt. Dieser Übergang ist mir eigentlich gar nicht unbekannt, aber normalerweise läuft es genau andersrum ab. Sie haben uns in lebende Browser verwandelt. Als ich über diese Schlussfolgerung nachdenke, wird mir klar, dass mit dem englischen Wort „Browser" auch eine Person gemeint sein kann, die sich Dinge anschaut. Ich entscheide mich dazu, die Ausstellung zu verlassen.

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Draußen ist es kalt und die Straßen sind voller Menschen. Vor Schreck gehe ich erstmal in ein Café. Ich öffne meinen Laptop und frage das Personal nach dem WLAN-Passwort. Es gibt jedoch kein WLAN. Ich denke kurz nach und gehen dann wieder in die Whitechapel Gallery. Mein Handy benachrichtigt mich darüber, dass Novak Djokovic Roger Federer in vier Sätzen besiegt hat. Ich halte Ausschau nach der Frau, mit der ich am Anfang geredet habe. Sie ist jedoch gerade mit einem Computer beschäftigt, der die Unmöglichkeit simuliert, sich gegenüber einer anderen Person komplett und hundertprozentig auszudrücken. Ich finde nicht den Mut, ihr das Ergebnis mitzuteilen.