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Eine Aussteigerin erzählt vom Aufwachsen bei den Zeugen Jehovas

"Ich war noch nie feiern. Ich hatte keinen Kontakt zu Männern, die nicht Zeugen Jehovas waren. Ich durfte nicht aufs Gymnasium."
Foto: Public Domain

Sekten und sektenähnliche Gruppen sind in unserer heutigen Gesellschaft allgegenwärtig. Da wären zum Beispiel Scientology oder die Kirschblütengemeinschaft. Niemand weiss genau, wie man in sowas hineinrutscht, so wie niemand weiss, wie man dort wieder rauskommt. Die wenigen Geschichten, die die Öffentlichkeit erreichen, sind sehr individuell geprägt, es gibt keinen klassischen Weg in die eine oder andere Richtung. Wir kennen viele Horrorgeschichten aus den Medien, in denen Aussteiger verfolgt, ja sogar umgebracht wurden. Aber stimmt das auch?

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Die Zeugen Jehovas sind eine im 19. Jahrhundert in Amerika gegründete Religionsform. In Österreich sind die Zeugen Jehovas seit 2009 als Religionsgemeinschaft anerkannt, in der Schweiz werden sie wegen ihrer psychisch manipulativen Praktiken etwa von der Sektenfachstelle Infosekta als „Gruppe mit ausgeprägter Sektenhaftigkeit" eingestuft.

Geleitet wird die Organisation von New York aus. Acht Mitglieder der sogenannten „Leitenden Körperschaft" stehen über den etwa 8 Millionen Anhänger weltweit—somit auch über den 19.000 Mitgliedern in der Schweiz. In den regionalen Zweigstellen geben die Zeugen Jehovas ihre Lehre—die sich konsequent an der Bibel orientiert—mittels Schriften und Gottesdiensten an die Mitglieder weiter. Der Wachtturm, den dir sehr nette Menschen mit einem sehr netten Grinsen an deiner Wohnungstüre andrehen wollen, ist eine dieser Schriften und Teil der ausgeprägten Missionstätigkeit der Zeugen Jehovas.

Mit Unterstützung von Infosekta, einer Schweizer Organisation, die Sektenaussteigern hilft, im normalen Leben wieder Fuss zu fassen, konnte ich mit der Aussteigerin P. Schläfli in Kontakt treten. Ich habe P. Schläfli, die lieber anonym bleiben möchte (obwohl ihr Ausstieg gute 20 Jahre her ist), zu Hause besucht und unter anderem erfahren, wieso sie die ersten 20 Jahre ihres Lebens am liebsten aus ihrem Gedächtnis löschen würde.

VICE: Wie kamst du zu den Zeugen Jehovas?
P. Schläfli: Bei einem ihrer Missionierungsmärsche haben die Zeugen Jehovas an unserer Tür geklingelt und ich habe aufgemacht. Damals war ich etwa vier Jahre alt. Zu dem Zeitpunkt war meine Mutter krank und mein Vater enttäuscht vom Leben. Sie waren sozusagen leere Gefässe, die diese Lehre sofort in sich aufgenommen haben. Innert neun Monaten liessen sie sich bekehren und neu taufen. Von da an waren wir voll dabei. Wir mussten allen Familienmitgliedern von unserer neuen Religion erzählen und verdeutlichen, dass Jehova nun an erster Stelle für uns steht.

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Die Leitende Körperschaft der Zeugen Jehovas. Bild von der Homepage der Zeugen Jehovas.

Inwiefern hat sich dein Leben verändert?
Nun, als Zeugin Jehovas hat man zum Beispiel keinen Geburtstag mehr. Man feiert auch nicht Weihnachten oder Ostern. Allgemein sind jegliche Feste wie Fasnacht oder der Umzug der Räbeliechtli tabu. Das waren Feste der Heiden.

Wieso das?
Der Hauptgrund für diese Verbote ist der Weltuntergang, Harmagedon wie sie ihn nennen. Denn wir leben in der Endzeit und nur diejenigen, die die Gesetze der Zeugen Jehovas einhalten, werden gerettet. Ich durfte nicht einmal meinen eigenen Geburtstagskuchen im Kindergarten essen. Stattdessen musste ich fünf Stunden pro Woche die Schriften des Jehovas studieren. Noch dazu mussten wir drei Mal die Woche schön angezogen an eine Versammlung gehen. Und natürlich mussten wir unseren Beitrag an der Anwerbung leisten und mindestens zehn Stunden im Monat missionieren.

Feiert man dann überhaupt etwas?
Ja, zum einen den Hochzeitstag, weil man sich ja nicht scheiden lassen darf. Und zum anderen den Tod Jesus, berechnet nach dem jüdischen Kalender. An diesem Tag gibt es ein Gedächtnis-Mahl, das ist immer ein riesiges Ding. Da dürfen nur diejenigen mitfeiern, die denken, dass sie in den Himmel kommen. Denn der Glaube besagt, dass der Himmel nur Platz für 144.000 Menschen hat.

Foto: Steelman | Wikimedia | CC BY 2.0

Wie hast du das Leben bei den Zeugen Jehovas während deiner Pubertät wahrgenommen?
Da ich nicht fanatisch war, hatte ich schulisch nie Probleme damit, Zeugin Jehovas zu sein. Ich hatte Freundinnen und wurde akzeptiert. Eines Tages meldeten sich aber meine Eltern freiwillig, in eine neue Gemeinde umzuziehen, um dort als „Mission" eine neue Versammlung zu gründen. Ende der sechsten Klasse sagten sie Bescheid, dass wir umziehen werden. So aus meinem Umfeld herausgerissen zu werden war für mich eine Katastrophe. Nach dem Umzug bekam ich starke Depressionen. Ich habe nicht mehr geredet, meine Noten wurden schlechter und ich bekam meine Periode nicht mehr. Ich litt unter Schock.

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Wie hast du den Schock überwinden können?
Die Kinder in meiner neuen Klasse haben sich grosse Mühe gegeben, mich aufzunehmen und langsam taute ich wieder auf. Zu Anfang gefiel meiner Mutter noch, dass ich wieder Freunde gefunden hatte aber nach und nach missfiel es ihr, dass meine Freunde nicht Zeugen Jehovas waren.

Hast du während deiner Pubertät Dinge getan, die gegen deine ehemalige Religion verstossen haben?
Ja, ich hatte zum Beispiel gelbe Fingernägel und hörte Bon Jovi. Und ich habe masturbiert. Aber das eigentliche Problem war, dass meine Mutter die Pubertät nicht als normale Entwicklung ansah, sondern meine Widerspenstigkeit als Gefahr, ich könnte den Glauben verlieren.

Wurdest du für deine Vergehen bestraft?
Bei Verstössen wurde ich meistens mit Verachtung bestraft. Bei schlimmeren Vergehen wie zum Beispiel Sex vor der Ehe musste man sich vor dem Gericht der Ältesten verantworten. Wer aufrichtig bereute, durfte bleiben. Wer keine Reue zeigte, wurde ausgeschlossen. Exkommuniziert sozusagen. Natürlich waren auch Schläge ein beliebtes Mittel, uns die „richtigen" Verhaltensweisen näherzubringen.

Schläfli hat sämtliche Fotos, die mit den Zeugen Jehovas zu tun haben aus ihrem Fotoalbum rausgerissen. Bild von der Autorin.

Fühltest du dich anders als deine Mitschüler?
Ich merkte insofern einen Unterschied, da ich keine Selbstbestimmung über mein Leben hatte. Ich war noch nie feiern. Ich hatte keinen Kontakt zu Männern, die nicht Zeugen Jehovas waren. Ich konnte in meiner Freizeit keinem Verein beitreten, weil der Umgang möglicherweise unmoralisch wäre. Ich durfte nicht aufs Gymnasium. Das waren falsche Prioritäten, welche nicht im Einklang mit Harmagedon standen.
Bildung ist bei den Zeugen Jehovas nicht so wichtig. Wichtiger ist das Studium der Schriften und die Vorbereitung auf den Weltuntergang. Ich durfte auch nicht entscheiden, welchen Beruf ich später ausüben wollte. Lehrerin durfte ich wegen den Feiertagen nicht werden, Krankenschwester war auch verboten wegen der Bluttransfusionen. Also wurde ich gezwungen das KV zu machen.

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Wann hast du gemerkt, dass das nicht das Richtige für dich ist und du aussteigen möchtest?
Dass das nicht das Richtige für mich ist, wusste ich bereits in der ersten Klasse. Ich habe gemerkt, dass ich nicht die gleichen Ansichten habe. Ich glaube zwar an die Bibel, aber ich glaube nicht an Harmagedon.

Wann bist du schlussendlich ausgestiegen?
Das erste Mal versuchte ich, mit 17 Jahren auszusteigen. Damals habe ich aber wieder einen Rückzieher gemacht, weil ich Angst hatte, ganz alleine dazustehen. Ich war noch viel zu fest von meiner Familie abhängig. Effektiv ausgetreten bin ich schliesslich mit 22 Jahren. Ich habe mir gesagt, entweder bringe ich mich jetzt um, oder ich riskiere es und steige endlich aus.

Wollten dich die Zeugen Jehovas vom Aussteigen abbringen?
Jeder, der aussteigen möchte, muss sich zuerst vor dem Ältestenrat rechtfertigen. Da ich das aber schon damals mit 17 getan habe, habe ich dieses Mal nur einen Brief geschrieben und ausdrücklich erwähnt, dass ich keinen Besuch bekommen möchte. Es hatten ohnehin schon alle die Hoffnung aufgegeben, mich noch bekehren zu können.

Hast du noch Kontakt zu früheren Bekannten der Zeugen Jehovas?
Nein. Alle Zeugen Jehovas, egal wie gut wir früher befreundet waren, müssen die Strassenseite wechseln, wenn sie mich sehen. Meine Familie beachtet mich noch, weil ich ihnen nicht egal bin. Trotzdem ist unser Verhältnis heute immer noch schwierig. Sie bezeichnen mich heute als das Messer in ihrem Herzen.

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Titelbild: Public Domain CC0 1.0