Afghanistans „Platz des Friedens“ liegt in Trümmern

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Der Krieg in Afghanistan

Afghanistans „Platz des Friedens“ liegt in Trümmern

Ein Spaziergang durch die Ruinen des ausgebombten Königspalasts in Kabul ist wie fast alles in Afghanistan lebensgefährlich, fahrlässig, ein wenig morbide und eine verdammt traurige Angelegenheit.

„Es tut mir sehr, sehr leid“, sagte mein Übersetzer und schüttelte langsam den Kopf. „Aber wenn du kein Muslim bist, wirst du für immer in der Hölle schmoren. Ich muss nachts oft weinen, wenn ich daran denke.“ Während ich Mobin zuhörte, zog Kabul an meinem Fenster vorbei. Burkas, Turbane, Minarette, aufgehängtes Fleisch, in Käfigen gefangene Vögel, arbeitende Schmiede. Nur durch beharrliches Drängeln konnte sich unser Taxi einen Weg durch das Chaos bahnen. Wir waren auf dem Weg zum Darul-Aman-Palast. Das neoklassische Gebäude flimmerte wie eine Fata Morgana über einem Berg am Stadtrand von Kabul. Der Palast, dessen Name „Platz des Friedens“ bedeutet, ist im Laufe der letzten 30 Kriegsjahre nahezu vollständig zerbombt worden.   „Studiere den Koran, mein Bruder“, bat mich Mobin. „Dann werde ich dich durch das Paradies führen.“ „Wie ist es im Paradies?“, fragte ich. „Im Paradies gibt es Früchte, sie sind so wie die Früchte auf der Erde, nur dass sie noch besser schmecken. Gott schenkt dir schöne Frauen, die nie mit dir streiten. Außerdem bekommt jeder ein Gebäude aus wertvollen Dingen wie Diamanten, Smaragden und Lapis.“

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Mobin hätte ebenso gut den in seiner einstigen Blütezeit so edlen Darul-Aman-Palast beschreiben können—er war ein irdischer Versuch, die himmlische Perfektion nachzuahmen. Der Palast, der in den 1920er Jahren von König Amanullah Khan gebaut worden war, sollte ein Symbol der afghanischen Modernisierung sein. Dieser Vorsatz war jedoch nicht lange von Bestand. Am Ende des Jahrzehnts wurde der König von religiösen Fanatikern entmachtet, all seine liberalen Reformen wurden verworfen. In den folgenden Jahren diente der Darul-Aman-Palast als Ärzteschule, Rosinenlager und Flüchtlingscamp. Bis zum afghanischen Bürgerkrieg war er für verschiedene Regierungsministerien zu einer wichtigen strategischen Position geworden. Als behelfsmäßige Festung wurde er von oppositionellen Streitkräften immer wieder erobert und zurückerobert. Jetzt wird der Palast von einer kleinen Einheit der Afghanischen Nationalarmee besetzt. Wir hielten am Stacheldrahtzaun, der den Palast umgibt, stiegen aus und schlossen leise die Türen. Die Soldaten lungerten in einem Säulengang herum und tranken Tee. Ihre Sturmgewehre hatten sie an die Säulen gelehnt. Wir lächelten und winkten ihnen locker zu. Sie winkten zurück. Auf Mobins Vorschlag hin hatte ich ein Geschenk mitgebracht. Die Männer brauchten angeblich einen Volleyball, den ich ihnen mit einer Hand auf der Brust übergab. Abdil, der Kommandant der Einheit, lächelte breit hinter seiner Fliegerbrille hervor, auf der ein Ray-Ban-Sticker prangte. „Sehr gut“, sagte er und winkte uns weiter.

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Wir betraten das Gebäude durch einen Granattrichter und warteten, bis sich unsere Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Zwischen den Trümmern lagen Blindgänger verstreut—einer der Gründe, warum die Garden der Nationalarmee in separaten Baracken lebten. Die Wände waren mit Graffiti bedeckt. Verse aus dem Koran, Namen gefallener Kameraden, ein Zigarette rauchender Affe. In dem ovalen Zimmer, das einst für das afghanische Parlament  gedacht war, hatte jemand ein Bild mit einem Panzer gesprayt, aus dem ein Arm zum Hi-5 einlädt. In einem anderen Raum hatte jemand geschrieben: „So lange gekämpft wird, werden wir standhaft sein.“ Ein zweiter Schreiber hatte gekontert: „Ihr werdet so lange kämpfen, wie ihr bezahlt werdet.“ Als wir eine Wendeltreppe hinaufstiegen, fuhr Mobin mit seinen Bekehrungsversuchen fort. „Mein Bruder“, bat er, „im Koran steht, dass die Sonne eines Tages sterben wird. Im Internet habe ich gelesen, dass das wahr ist. Eines Tages wird die Sonne ihre Energie aufgebraucht haben. Wie konnte Mohammed das wissen? Das kann nur Gott wissen.“ Seine Worte hallten durch die Korridore. Im Flur sahen wir dunkle Figuren: einen jungen Mann mit einem Koffer, einen alten bärtigen Mann, der einen Jungen an der Hand hielt, und schließlich den gedrungenen Abdil und seinen schlaksigen Untergebenen Abdul, die gekommen waren, um uns herumzuführen. Nachdem wir für Fotos posiert hatten, bedeuteten uns die zwei Soldaten, ihnen zu folgen. Wir gingen zu einer zweistöckigen Leiter, die bis aufs Dach führte. Die Leiter war verbogen, infolge einer Explosion fehlte eines der Beine. Ohne sich etwas daraus zu machen, fingen Abdil und Abdul an, dort hochzuklettern. Ich tat es ihnen gleich. Mobin schüttelte den Kopf und blieb unten.

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„Das ist gefährlich“, warnte er mich. „Inschallah“, antwortete ich mit der Redewendung, die er so oft benutzte. Auf dem Dach lag uns ganz Kabul zu Füßen. Wir standen unter einem Wellblech, das so oft von Granatsplittern getroffen worden war, dass es wie ein sternenübersäter Himmel aussah. Als wir an den Rand eines klaffendes Loches traten, blickten wir durch alle drei Stockwerke des Palastes hinab auf einen großen Krater, den ein amerikanischer Sprengkopf zu Anfang des Krieges beim Kampf gegen die Taliban in die Erde gerissen hatte. Die Soldaten, die an eine afghanische Version von Dick und Doof erinnerten, waren ausgelassen. Unter rauem Gelächter taten sie, als ob sie vom Dach springen, sich gegenseitig herunterschubsen oder (mit flatternden Armen) wegfliegen würden. Abdil holte sein Kufiya raus und wickelte es Abdul um den Kopf. „Mein Liebling!“, rief er in stolzem Englisch, während er seinen Arm um den Mann legte und eine imaginäre Brust betätschelte. Die beiden Männer kletterten sogar noch höher. Durch ein Fenster kamen sie auf das Eisenskelett dessen, was einmal die Glaskuppel gewesen war, von der mittlerweile keine einzige Scherbe mehr übrig ist. Als sie den Gipfel erreicht hatten, breitete Abdul triumphierend seine afghanische Flagge aus. Wir sahen, wie sie sich im Wind aufbauschte. Dann stiegen wir langsam wieder herunter zu Mobin, der geduldig gewartet hatte.

Als die Sonne anfing unterzugehen, äußerte mein Übersetzer vage Warnungen vor Entführern. Als wir auf dem Weg zum Auto die Stufen hinuntergingen, kamen uns ein junger Mann und eine Frau entgegen. Die Beiden starrten sichtlich verlegen auf ihre Füße. „Wer hat sie hier reingelassen?“, fragte Abdul seinen Vorgesetzten. Abdil spitzte seine Lippen und gab ein lautes Schmatzgeräusch von sich. „Lass sie doch ihren Spaß haben“, gluckste er. Daraufhin nahm mich Mobin, der dies ebenfalls gehört hatte, zur Seite. „Hör zu, mein Bruder“, flüsterte er mir ins Ohr. „Allah sagt, diese Welt ist wie zwei spielende Kinder. Es ist ein Spiel. Bitte glaube mir, was ich sage. Das Jenseits ist kein Spiel.“

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Fotos von Roc Morin

Vor Kurzem wurde Rocs neues Buch And veröffentlicht. Mehr Informationen dazu findest du auf seiner Website